# taz.de -- Deutsche Sektensiedlung in Chile: Letzte Chance zur Aufklärung | |
> Das frühere Mitglied der Colonia Dignidad, Willi Malessa, ist in Chile | |
> verhaftet worden. Der Grund: Beihilfe zum Verschwindenlassen von | |
> Gefangenen. | |
Bild: Mitglieder der linken Organisation Mapu waren von Dina-Agenten in Santiag… | |
BERLIN taz | Es ist eine der letzten Möglichkeiten, noch zur Aufklärung | |
[1][des Schicksals der in der Colonia Dignidad verschwundenen politischen | |
Gefangenen] beizutragen. Am 5. Mai ist Willi Malessa, ein früherer Bewohner | |
der deutschen Sektensiedlung, in Chile verhaftet worden. Seitdem sitzt der | |
73-Jährige in der südchilenischen Kleinstadt Mulchén in Untersuchungshaft. | |
In der 1961 in Chile gegründeten „Kolonie der Würde“ gehörten sexualisie… | |
Gewalt, Prügel und Zwangsarbeit jahrzehntelang zum Alltag vieler | |
Bewohner:innen. Während der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte | |
die Sektenführung um Paul Schäfer eng mit dem chilenischen Geheimdienst | |
Dina, der ein Gefangenenlager auf dem streng abgeriegelten Gelände | |
errichtete. Hunderte Oppositionelle wurden in der deutschen Siedlung | |
gefoltert, Dutzende ermordet. | |
Seit 2005 ermittelt Chiles Justiz wegen dieser Menschenrechtsverletzungen. | |
Seit 2021 hat die Untersuchungsrichterin Paola Plaza dazu viele | |
Zeug:innen vernommen. | |
Malessa ist wegen mutmaßlicher Beteiligung an der Entführung und dem | |
Verschwindenlassen von Juan Maino, Elizabeth Rekas und Antonio Elizondo | |
angeklagt. Die drei Mitglieder der linken Organisation Mapu waren am 26. | |
Mai 1976 von Dina-Agenten in der Hauptstadt Santiago verschleppt worden. | |
Bis heute fehlt von ihnen jede Spur. | |
## Angehörige hoffen auf Aufklärung | |
„Es ist schwer zu akzeptieren, dass wir nicht wissen, wo und wie sie | |
ermordet wurden“, erklärt Mariana Maino, die Schwester von Juan Maino. | |
„Seit fast 47 Jahren suchen wir meinen Bruder. Unsere Mutter war | |
unermüdlich, doch vor neun Jahren ist sie gestorben, ohne Wahrheit und | |
Gerechtigkeit zu erhalten“. | |
Gegenüber Ermittlungsbehörden und in TV-Dokumentationen hatte Malessa | |
mehrfach eingestanden, dass er als Baggerfahrer 1978 Leichen aus | |
Massengräbern in der Colonia Dignidad ausgegraben hatte. Diese seien danach | |
verbrannt und ihre Asche in den nahegelegenen Fluss Perquilauquén geworfen | |
worden. | |
Trotz forensischen Grabungsarbeiten und Bodenanalysen konnte bis heute | |
keine der auf dem Gelände ermordeten oder verschwundenen Personen | |
identifiziert werden. | |
„Wir hoffen, dass die Colonos [Bewohner:innen der Siedlung] jetzt | |
Informationen über den Verbleib der Verschwundenen offenlegen, die sie seit | |
Jahren zurückhalten“, sagt Mariana Maino. | |
## Kritik an deutscher Justiz | |
„Die Untersuchungsrichterin wird Malessa in den kommenden Tagen vernehmen“, | |
erklärt die Anwältin Mariela Santana, die Mariana Maino vertritt. „Falls | |
Malessa aus der Untersuchungshaft entlassen wird, muss ein Ausreiseverbot | |
verhängt werden, damit er sich nicht nach Deutschland absetzen kann“, | |
fordert Santana. Denn als deutscher Staatsangehöriger würde er nicht nach | |
Chile ausgeliefert. | |
Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf begrüßt die | |
Aufklärungsbemühungen der chilenischen Justiz, die es „im Gegensatz zu den | |
deutschen Ermittlungsbehörden auch nach langer Zeit nicht aufgibt, die | |
Verbrechen in der Colonia Dignidad zu verfolgen“. | |
Schlagenhauf hatte Angehörige der 1976 verschleppten Elizabeth Rekas und | |
weitere Opfer der Colonia Dignidad bei Ermittlungen der deutschen Justiz | |
gegen Hartmut Hopp vertreten. Der frühere Leiter des Krankenhauses der | |
Siedlung ist in Chile rechtskräftig verurteilt wegen Beihilfe zur | |
Vergewaltigung, lebt aber unbehelligt in Krefeld. | |
## Deutschland als sicherer Hafen für mutmaßliche Täter | |
Die Ermittlungen der deutschen Justiz gegen ihn und auch gegen Reinhard | |
Döring wegen der Beteiligung am Verschwindenlassen von Gefangenen wurden | |
allesamt eingestellt. Die Anwältin kritisiert, [2][in Deutschland herrsche | |
faktische Straflosigkeit], denn die deutsche Justiz habe nie mit der | |
nötigen Tiefe und Energie ermittelt. | |
„Deutschland ist zu einem sicheren Hafen für mutmaßliche Täter geworden“, | |
kritisiert auch Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum | |
Chile-Lateinamerika. In demselben Verfahren wie Malessa seien auch der | |
frühere Sektenarzt Hopp und Döring von der chilenischen Justiz angeklagt | |
worden. „Obwohl gegen beide ein internationaler Haftbefehl vorliegt, leben | |
sie straffrei und unbehelligt in Deutschland“. | |
Malessa war 1961 als Elfjähriger aus Deutschland in die Colonia Dignidad | |
gekommen. Er genoss gewisse Privilegien, so durfte er im Unterschied zu den | |
meisten Bewohner:innen heiraten. Bereits 1998 verließ er die Siedlung, | |
die inzwischen Villa Baviera heißt und zu einem touristischen Ausflugsziel | |
im bayerischen Stil geworden ist und wo es [3][bis heute keine | |
Gedenkstätte] gibt. | |
8 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Verschwundene-der-Colonia-Dignidad/!5879633 | |
[2] /Gedenkstaette-Colonia-Dignidad/!5909211 | |
[3] /Colonia-Dignidad-in-Chile/!5926437 | |
## AUTOREN | |
Ute Löhning | |
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