# taz.de -- Demonstrationen in der Türkei: Erdoğan soll gehen | |
> Die Preise explodieren, die Löhne stagnieren: Die wirtschaftliche Lage in | |
> der Türkei ist desolat. Die Menschen nehmen das nicht länger hin. | |
Bild: DemonstratInnen in Instanbul, 24. November 2021 | |
ISTANBUL taz | Nachdem die [1][türkische Lira] am Dienstag innerhalb von | |
nur 24 Stunden noch einmal auf einen Schlag um rund 10 Prozent an Wert | |
verlor, gab es abends die ersten Demonstrationen, auf denen der Rücktritt | |
der Regierung gefordert wurde. Am Mittwoch weiteten sich die Proteste auf | |
zehn weitere Städte quer über das ganze Land aus, von der Ägäisküste im | |
Westen bis nach Diyarbakir im Südosten und ans Schwarze Meer. Zentrum der | |
Demonstrationen war aber Istanbul, wo die Polizei hart reagierte und | |
insgesamt 50 Personen vorübergehend festnahm. | |
Aufgerufen zu den Protesten hatte der linke Gewerkschaftsdachverband DISK | |
und mehrere kleinere linke Parteien. Die großen Oppositionsparteien, die | |
kemalistisch-sozialdemokratische CHP und die rechte İyi-Parti (Gute Partei) | |
zögern noch mit Straßenprotesten und erneuerten stattdessen ihre Forderung | |
nach vorgezogenen Neuwahlen. | |
Ausgelöst worden war der historische Kurssturz durch eine Rede von | |
Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Darin bezeichnete er den Absturz der Lira | |
als ein Komplott destruktiver Kräfte von Innen und Außen. „Wir sehen sehr | |
gut das Spiel einiger mit dem Wechselkurs, den Devisen, den Zinsen und den | |
Preiserhöhungen“, sagte Erdoğan. Doch das werde die Türkei auf ihrem Weg zu | |
Macht und Wohlstand nicht aufhalten: „Wir werden dem Druck widerstehen und | |
unsere erfolgreiche Politik nicht ändern.“ | |
Der Erfolg dieser Politik lässt sich derzeit an jeder Tankstelle und in | |
jedem Supermarktregal besichtigen. [2][Die Preise steigen im Tagestakt.] | |
Supermärkte weigern sich bereits, größere Mengen an Grundnahrungsmitteln | |
auf einmal zu verkaufen, denn sie wissen, dass Öl, Zucker, Reis und Nudeln | |
am nächsten Tag wieder teurer sein werden. Auch die Preise für Mehl steigen | |
täglich, weshalb Bäckereien bereits klagen, sie könnten nichts mehr auf | |
Vorrat kaufen. Kaum anders verhält es sich mit Benzin und Diesel, die jeden | |
zweiten Tag teurer werden. Während das offizielle statistische Amt der | |
Türkei von einer jährlichen Inflation von 20 Prozent spricht, sagen | |
unabhängige Experten, dass beispielsweise Lebensmittel seit Beginn des | |
Jahres bereits 50 Prozent teurer geworden sind. | |
## Gap zwischen steigenden Preisen und Löhnen | |
Was nicht steigt, sind die Löhne, die ja für einen längeren Zeitraum | |
festgelegt sind. Auch über eine Erhöhung des Mindestlohns, will die | |
Regierung erst in den kommenden Wochen mit Gewerkschaften und | |
Arbeitgeberverbänden sprechen. Für alle abhängig Beschäftigten ist das eine | |
Katastrophe, weil ihre Gehälter seit Anfang des Jahres durch die steigende | |
Inflation 40 Prozent an Wert verloren haben. | |
Viele Menschen sind angesichts dieser Situation schier verzweifelt. Ärmere | |
Familien können neben den lebensnotwendigen Einkäufen kaum noch ihre | |
Stromrechnungen bezahlen, andere tauschen hektisch ihre Lira-Ersparnisse in | |
US-Dollar oder versuchen, Sachwerte wie beispielsweise Autos zu kaufen. Aus | |
demselben Grund war der Ansturm auf iPhones so groß, dass Apple in der | |
Türkei alle Verkäufe stoppte. | |
[3][In dieser Situation verschärft die Opposition den Druck auf Erdoğan, | |
vorgezogene Neuwahlen anzusetzen]. Das lehnt dieser jedoch kategorisch ab. | |
Da Erdoğan gemeinsam mit der rechtsradikalen MHP eine Mehrheit im Parlament | |
hat, kann die Opposition allein dort keine Neuwahlen durchsetzen. Sie geht | |
aber davon aus, dass der Präsident dem Druck aus der Bevölkerung nicht noch | |
eineinhalb Jahre – bis Juni 2023, wenn reguläre Neuwahlen anstehen – | |
standhalten kann. | |
Da Erdoğan wiederholt erklärt hat, er setzte auf Wirtschaftswachstum und | |
dafür bräuchte es billige Kredite, wird der Währungsverfall in der Türkei | |
wohl erst einmal weitergehen. Am Donnerstagmorgen konnten die | |
regierungsnahen Medien einen ersten Erfolg vermelden. Die Arabischen | |
Emirate, deren starker Mann Mohammed bin Zayed am Mittwoch zu Besuch bei | |
Erdoğan war, wollen 10 Milliarden US-Dollar für Investitionen | |
bereitstellen. | |
25 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Inflation-in-der-Tuerkei/!5812632 | |
[2] /Dramatischer-Kursverlust-der-Lira/!5806094 | |
[3] /Neues-Oppositionsbuendnis-in-Tuerkei/!5807878 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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