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# taz.de -- Inflation in der Türkei: Kohle, teure Tomaten und Kaufneid
> Die Nachbarn unseres Autors holen ihre Tochter in die Türkei zurück und
> shoppende Bulgaren sorgen für Ärger. Der Inflation gerät außer Kontrolle.
Bild: Qualmende Schornsteine in Istanbul
Istanbul taz | Am Mittwochmorgen wurde ich vom jaulenden Geräusch einer
Motorsäge geweckt. Ein Blick aus dem Fenster brachte Aufklärung. Unser
Nachbar war dabei, eine Ladung Holz zu zerkleinern. Auf Zuruf klärte er
mich auf. Er habe einen Holzofen gekauft. Nicht aus romantischen Gründen,
sondern weil ihm das Gas für die Heizung zu teuer geworden sei.
Wie fast überall in Istanbul haben die Nachbarn in unserer Straße alle eine
Gasheizung, was vor Jahren entscheidend dazu beitrug, dass die Luft in der
Stadt besser wurde. Doch jetzt qualmen wieder verdächtig viele
Schornsteine, und wem selbst Holz zu teuer ist, der verbrennt die besonders
qualmende und stinkende Braunkohle.
Der Abschied von der Gasheizung ist ein Indiz, wie sehr die rasante
Teuerung, die die Türkei derzeit heimsucht, das Leben der Menschen
bestimmt. Kaum wird noch über etwas anderes geredet als über die täglich
steigenden Preise.
Im Supermarkt beschwerte sich eine Kundin lautstark über die Tomatenpreise.
Statt 12 Lira wie noch vor ein paar Tagen soll sie jetzt schon 20 Lira
zahlen. Das seien aber auch ganz besonders gute Tomaten, versuchte der
Verkäufer sie vergeblich zu beruhigen. [1][Der Wertverlust der türkischen
Lira ist völlig außer Kontrolle geraten.]
Die Tochter anderer Nachbarn studiert in Italien. Die Eltern schicken ihr
monatlich Geld, doch seit die Lira im Verhältnis zum Euro fast täglich an
Wert verliert, wird es immer schwieriger, den Unterhalt zu bezahlen. „Sie
wird bald zurückkommen müssen“, sagt der Vater völlig zerknirscht, „wir
können das nicht mehr aufbringen“.
Richtig erbost sind die Leute über die Nachrichten von der
türkisch-bulgarischen Grenze. Angesichts des dramatischen Zusammenbruchs
der Lira ist es für arme Bulgaren jetzt enorm günstig, mit ihren wenigen
Euros in der Türkei einzukaufen.
Reisebusse fluten seit Tagen die große Grenzstadt Edirne, wo die Bulgaren
alles kaufen, was sie bekommen können; die Hotels sollen bis weit nach
Neujahr ausgebucht sein – ausgerechnet die Bulgaren, auf die viele Türken
herunterschauen und deren türkische Minderheit sich sonst immer
hilfesuchend ans Mutterland gewandt hatte. In sozialen Medien ist die
Empörung groß. Es ist, als würden in Berlin die Polen das KaDeWe
leerkaufen, während sich die Berliner eine Shoppingtour in das Kaufhaus
nicht mehr leisten könnten.
## Notstand als Testballon
Glücklich ist, wer seine Ersparnisse rechtzeitig in US-Dollar getauscht
hat. Sein Vermögen wächst. Über 70 Prozent aller Guthaben auf den Banken
sind mittlerweile in Devisen, berichteten türkische Medien kürzlich.
Umso größer war die Aufregung, als İzzet Özgenç, ein Wirtschaftsprofessor
aus dem „Reformteam“ von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Anfang der Woche
einen „ökonomischen Notstand“, also einen staatlich erklärten
Ausnahmezustand, ins Gespräch brachte, der der Regierung weitreichende
Vollmachten gegenüber der Opposition und, so wurde spekuliert, womöglich
auch einen Zugriff auf private Devisenkonten der Bürger ermöglichen würde.
„Bei denen ist ja alles möglich“, empörte sich ein türkischer Kollege.
Schreiben könnte er das nicht, denn dann stünde bald die Polizei vor der
Tür, um ihn wegen Verbreitung von Nachrichten zur Panikmache zu verhaften.
Öffentliche Debatten über die wirtschaftliche Misere sind schon ohne
Ausnahmezustand schwierig. Am Dienstag wurden drei junge Leute
festgenommen, die für ihren Youtube-Kanal Leute auf der Straße zur
wirtschaftlichen Situation befragen wollten.
Nach drei Tagen Aufregung über die „Idee“ mit dem „ökonomischen Notstan…
erklärte jetzt der stellvertretende AKP-Vorsitzende Numan Kurtulmuş, das
sei alles Quatsch, die Regierung denke gar nicht daran, einen Notstand zu
verhängen. Mit der Ökonomie sei alles in Ordnung, es gebe nur „kleinere
temporäre“ Probleme, die bald wieder behoben sein würden.
Özgençs Vorstoß sei ein Testballon, kommentierte die Oppositionszeitung
Sözcü. Wie reagieren die Leute? Die Bevölkerung werde vorbereitet, dass
etwas Außergewöhnliches passiere. Wie zur Bestätigung senkte die
Zentralbank auf Anweisung Erdoğans den Leitzins am Donnerstagnachmittag
erneut von 15 auf 14 Prozent. Der Währungsverfall geht weiter.
18 Dec 2021
## LINKS
[1] /Demonstrationen-in-der-Tuerkei/!5818936
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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