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# taz.de -- Inflation in der Türkei: Der Vater des teuren Gemüses
> Präsident Erdoğan verliert mehr und mehr an Zustimmung. Doch sogar die
> Opposition setzt sich dafür ein, dass es auf den Straßen ruhig bleibt.
Bild: Werden immer teurer: Tomaten auf einem Markt in Istanbul am 4. Januar
Die İstiklâl Caddesi, die Hauptflaniermeile im Zentrum der Stadt, ist in
diesen Tagen erstaunlich voll. Selbst an einem normalen Wochentag in der
ersten Januarwoche schieben sich die Massen durch die Istanbuler
Einkaufsstraße, just so, als stünden die Neujahrseinkäufe erst noch bevor.
Von einer Wirtschaftskrise ist hier nichts zu sehen.
Erst ein genauerer Blick lässt Zweifel an der Prosperität aufkommen. Fast
alle Läden werben mit großen Preisnachlässen. Vor allem aber das Publikum
macht stutzig. Die Leute reden Persisch, Arabisch, Russisch, auch andere
slawische Sprachen sind vertreten. Was fehlt, ist das normale türkische
Publikum. Sicher laufen auch TürkInnen über die İstiklâl, doch in den Läden
dominieren die Schnäppchenjäger aus dem Ausland. Noch nie war es für
TouristInnen so billig, sich in der Türkei mit Textilien, auch
Markenklamotten, mit Haushaltsgeräten oder teuren Lebensmitteln
einzudecken, wie derzeit. Selbst wer nicht Dollar oder Euro, sondern Rubel
oder bulgarische Lew in der Tasche hat, kann derzeit zu einem Bruchteil
dessen, was er zu Hause dafür bezahlen müsste, in der Türkei einkaufen.
Viele TürkInnen sehen das mit Verbitterung, weil für sie derzeit an
Shopping nicht zu denken ist. Stattdessen stehen sie auf den Wochenmärkten
und drehen jede Lira um, damit wenigstens die notwendigsten Lebensmittel
beschafft werden können. Eine von ihnen ist Ayse P. Die 54-Jährige gehört
zu dem Teil der Bevölkerung, den die [1][galoppierende Inflation] am
härtesten trifft, weil er auch schon vor der Krise in prekären
Verhältnissen gelebt hat.
Ayse P. arbeitet als Putzfrau, natürlich wie fast alle in diesem Sektor
ohne Festanstellung, Vertrag und Sozialversicherung. Sie ist darauf
angewiesen, dass die Familien, bei denen sie putzt, von sich aus den Lohn
um einen Inflationsausgleich erhöhen. „Ich habe noch Glück“, sagt sie,
„meine Familien haben zum Jahreswechsel den Lohn erhöht.“ Dennoch, „es i…
enorm schwierig, über die Runden zu kommen“.
Das Statistikamt der Türkei hat zwar gerade erst zugegeben, dass die
Inflation im Jahresdurchschnitt 2021 36 Prozent betragen habe und nicht nur
20 Prozent, wie es lange behauptet hatte. Doch viele Experten gehen davon
aus, dass die Teuerungsrate allein bei Lebensmitteln rund 100 Prozent
beträgt. Ayse P. ist sich da sicher. „Die Preise für Brot, Eier, Milch und
Tomaten haben sich verdoppelt“, sagt sie, auch andere Lebensmittel würden
fast täglich teurer. Gleichzeitig sind die Steuern auf alkoholische
Getränke drastisch erhöht worden. Für eine Dose Bier, die bislang einen
Euro kostete, muss man jetzt 1,50 Euro zahlen, das Nationalgetränk Rakı
ist kaum noch erschwinglich.
## „Die Familie rückt zusammen“
Dabei hat Ayse P. Glück im Unglück. Sie und ihre Familie brauchen keine
Miete zu zahlen. Sie wohnt mit einem kranken Mann, zwei erwachsenen Söhnen
und den Schwiegertöchtern zusammen in einem Häuschen in einem Vorort weit
draußen auf der asiatischen Seite Istanbuls. Das Haus ist ein früheres
gecekondu, also ein illegal „über Nacht“ errichtetes Gebäude, das
mittlerweile legalisiert worden ist. Auch Ayse P.s Söhne tragen durch
Gelegenheitsjobs zum Familieneinkommen bei, einer von ihnen hat sogar von
der kürzlich verkündeten Erhöhung des Mindestlohnes um 50 Prozent
profitiert. „Aber“, sagt sie, „bevor der Präsident gibt, hat er bereits
genommen.“ Die Strom- und Gaspreise wurden verdoppelt, selbst die giftige
Braunkohle, mit der die Familie heizt, ist deutlich teurer geworden. „Die
Familie rückt zusammen, anders geht es nicht“, sagt sie.
Das trifft nicht nur auf die Armen in der Türkei zu, auch der Mittelstand
rückt nach zwei Jahren sich ständig verschärfender Wirtschaftskrise wieder
enger zusammen. Erwachsene Kinder bleiben im Elternhaus oder kommen wieder
zurück, weil sie ihre Miete nicht mehr aufbringen können. Selbst
AkademikerInnen können von ihrem Lohn kaum noch leben. Rund 5.000 Lira, ein
Drittel mehr als der Mindestlohn, gelten als normales Gehalt für
Uni-AbsolventInnen in den ersten Jahren ihres Berufslebens. Das sind
derzeit rund 350 Euro. Auch erfahrene KrankenhausärztInnen verdienen oft
nicht mehr als 10.000 Lira, macht derzeit 700 Euro.
Die meisten gut ausgebildeten jungen Erwachsenen wollen das Land deshalb am
liebsten verlassen, um im Ausland Geld zu verdienen. „Hier haben wir keine
Perspektive mehr“, sagte jedeR zweite Uni-AbsolventIn in diversen Umfragen.
Wer nicht wegkommt, flüchtet sich in Kryptowährungen und hofft, damit ein
paar schnelle Dollar verdienen zu können.
## Schwindendes Vertrauen in die Politik Erdoğans
Verantwortlich gemacht für die Misere wird zunehmend Präsident Recep Tayyip
Erdoğan persönlich. Der eigene Wohlstandsverlust im Vergleich zum Luxus,
den Erdoğan und seine Umgebung zelebrieren, macht viele wütend. Dazu kommen
immer wieder Gerüchte über [2][ausufernde Korruption in den Führungszirkeln
des Landes], die selbst hartgesottene Zyniker sprachlos macht. Hieß es
früher bei Korruptionsgeschichten immer: „Ja, die nehmen, aber unter
Erdoğan bekommen wir wenigstens auch etwas ab“, ist das Vertrauen, selbst
am Reichtum des Landes partizipieren zu können, mittlerweile völlig
verschwunden. Dazu trägt auch die unverständliche Wirtschaftspolitik des
Präsidenten bei, der durch die von ihm erzwungenen niedrigen Zinsen der
Zentralbank den Verfall der Lira immer weiter vorantreibt und die Inflation
dabei weltweit zur vierthöchsten gemacht hat.
Erdoğans Behauptung, er bekämpfe mit seiner Zinspolitik die Abhängigkeit
des Landes von ausländischen Investoren, überzeugt nur noch wenige
TürkInnen. Die meisten glauben, dass der Wertverlust der Lira das Ergebnis
der Selbstbereicherung und der Ausplünderung des Landes durch die
herrschende Klasse der regierenden Partei und eine Handvoll Unternehmen
ist, die sich im Umkreis des Präsidenten befinden.
Entsprechend verliert Präsident Erdoğan an Zustimmung. Das Umfrageinstitut
Metropol ermittelte erst vor wenigen Tagen, wer bei Präsidentschaftswahlen
aktuell vorne läge. Die nächsten finden im Juni 2023 statt. Erdoğan liegt
derzeit nur noch an vierter Stelle. Vor ihm rangieren die beiden populären
Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş,
und die Oppositionspolitikerin Meral Akşener.
## Forderung nach Vorziehen der Wahlen
Recep Tayyip Erdoğan hat versucht, aus der Not eine Tugend zu machen, und
verkündet, die Türkei werde zukünftig mehr auf Exporte setzen, die ja durch
eine schwache Lira unterstützt würden. Außerdem will er die Produktion im
eigenen Land durch billige Kredite wieder ankurbeln.
Vor knapp zwei Wochen hat die Regierung zudem in einer länger vorbereiteten
Aktion über Nacht noch einmal für fast 20 Milliarden Dollar aus
undurchsichtigen Quellen Lira eingekauft, um den Kurs der heimischen
Währung zu stabilisieren. Intern soll der neue türkische Finanzminister
Nureddin Nebati gesagt haben, das sei „unser letzter Schuss“. Für weitere
Maßnahmen sei kein Geld mehr da.
Tatsächlich gewann die Lira dadurch kurzfristig fast wieder 40 Prozent
ihres Wertes gegenüber dem Dollar zurück, doch zwei Wochen später ist die
Wirkung schon wieder verpufft.
Angesichts der Situation fordert die Opposition immer lauter, die für den
Sommer 2023 turnusgemäß anstehenden Wahlen vorzuziehen, „damit das Land
nicht bis dahin völlig zerstört wird“, wie [3][Oppositionsführer Kemal
Kılıçdaroğlu] betont. Explizit fordert er die Leute auf, nicht auf die
Straße zu gehen, weil das genau das wäre, was Erdoğan sich wünsche. Bilder
von Straßenkämpfen würden die Reihen hinter dem Präsidenten wieder
schließen. „Wir werden an der Urne gewinnen“, beschwört Kılıçdaroğlu …
frustrierten Landsleute, „und zwar schon bald.“
7 Jan 2022
## LINKS
[1] /Inflation-in-der-Tuerkei/!5818079
[2] /Korruption-in-der-Tuerkei/!5763098
[3] /Neues-Oppositionsbuendnis-in-Tuerkei/!5807878
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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