# taz.de -- Debatte über Einwanderung: Nicht nur sagen, wie es nicht geht | |
> In der Migrationsdebatte wird die verfehlte Bildungs-, Arbeits- und | |
> Wohnpolitik den Geflüchteten angelastet. Es geht um Projektionen statt | |
> Probleme. | |
Bild: Kinderfahrräder im Ankunftszentrum für Geflüchtete aus der Ukraine im … | |
Die neueste Lieferung kommt von CDU-Chef Friedrich Merz. Viele Kinder, „die | |
die deutsche Sprache nicht beherrschen“, überfordern „aktuell unser | |
Bildungssystem“. Übervolle Klassen gingen dann „zulasten aller Kinder“, | |
sagte Merz in einem [1][Interview mit der Stuttgarter Zeitung]. Zuvor hatte | |
sein Vize Carsten Linnemann ebenfalls einen härteren Kurs in der | |
Flüchtlingspolitik angemahnt: „Wir sind überfordert. Junge Menschen gehen | |
nicht mehr zur Schule, weil die Lehrer fehlen. Wir brauchen 350.000 | |
Kitaplätze. 800.000 Wohnungen fehlen.“ | |
Jetzt sind die Flüchtlinge also an allem schuld, am Lehrer:innenmangel, | |
am Erzieher:innenmangel, an fehlenden Wohnungen. Dabei sind die Probleme | |
der Infrastruktur vor allem auf den demographischen Rückgang der hiesigen | |
Erwerbsbevölkerung, eine verfehlte Wohnungsbaupolitik und | |
Immobilienspekulation, die Urbanisierung und andere Gründe zurückzuführen. | |
Wenn in manchen Projektionen die Geflüchteten jetzt zu Sündenböcken werden, | |
ist höchste Aufmerksamkeit angesagt. | |
Wir erleben zurzeit eine Verschiebung des Diskurses, ein Re-Framing, eine | |
Umdeutung, die sich auch in der Ampel-Regierung beobachten lässt. Die | |
Bundesregierung steht durch das Schüren der Anti-Flüchtlingshysterie durch | |
die Union unter Druck und will vor allem Handlungsfähigkeit demonstrieren, | |
wie man am neuen [2][Gesetz zur Verschärfung von Abschiebungen] sieht. | |
Laut Gesetzentwurf geht die Regierung davon aus, dass die Anzahl der | |
Abschiebungen durch die Maßnahmen im Gesetz pro Jahr um rund 600 Personen | |
steigen wird. Dafür kommt ein Gesetz, dass Grundrechte massiv beschneidet | |
und den Behörden unter anderem gestattet, schon vor der ersten Anhörung die | |
Handys von Asylbewerber.innen auszulesen. Ein Armutszeugnis. | |
## Nicht hilfreich | |
Nächste Woche soll eine Ergänzung dieses Gesetzes beschlossen werden. Diese | |
Regelung soll die Arbeitsaufnahme für Geflüchtete erleichtern. Das ist gut. | |
Aber die Differenzierungen, die dabei vorgenommen werden, sind nicht | |
hilfreich. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sagte, wer von den | |
Geflüchteten „nicht arbeiten möchte und keinen anderen Schutzgrund hat“, | |
der müsse „zurückgeführt“ werden können. Das Problem der Geflüchteten … | |
aber nicht die Arbeitsunwilligkeit, sondern es ist schwer, eine Arbeit zu | |
finden, die man mit der Schulbildung, den beruflichen Kenntnissen aus dem | |
Herkunftsland und fehlenden Deutschkenntnissen machen kann. Im ersten Jahr | |
des Aufenthalts in Deutschland haben daher nur 7 Prozent der Geflüchteten | |
eine Arbeit. Nach sechs Jahren üben [3][dann mehr als] die Hälfte einen Job | |
aus. | |
Habeck differenziert zwischen Asylbewerber:innen, die einen | |
Fluchtgrund haben, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Eine | |
solche Differenzierung ist populär, kann aber nicht alle aktuellen Fragen | |
beantworten. Sowohl die eine Million Ukrainer:innen als auch die | |
Menschen aus Syrien und Afghanistan, die derzeit den größten Anteil der | |
Asylbewerber:innen ausmachen, verfügen über akzeptierte Fluchtgründe. | |
Die eigentliche Frage also lautet: Was tun wir, wenn mehrheitlich | |
Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten, aus Diktaturen kommen, die | |
einen akzeptierten Fluchtgrund haben und durch die sich die Gemeinden | |
überfordert fühlen, die nicht noch ein Containerdorf aufstellen und noch | |
mehr Geflüchtete irgendwie in Schulen und Kitas unterbringen wollen? | |
Es geht nicht darum, ob die Mehrheit der Ankommenden einen hier | |
akzeptierten Fluchtgrund hat oder nicht. Die Frage vielmehr ist: Wie viel | |
sind wir bereit zu teilen? Wer in den Spiegel guckt, sieht | |
Hilfsbereitschaft und deren Grenzen. 2015 war die Solidarität mit | |
Geflüchteten aus Syrien groß, 2022 die Hilfsbereitschaft gegenüber | |
Ukrainer:innen auch, jetzt ist die Stimmung mancherorts am Kippen. Das | |
Asylrecht ist nicht nur eine Frage einer allgemein gültigen Moral, sondern | |
auch der Teilungsbereitschaft und der konkreten Zahlen, leider. | |
## Hysterie mildern | |
Am besten wäre es, die aktuelle Hysterie in der Flüchtlingsfrage würde von | |
alleine verschwinden. Etwa dann, wenn die Zahl der neu ankommenden | |
Geflüchteten in der nächsten Zeit niedrig bleibt, die Ukrainer:innen | |
besser integriert werden und man sich ansonsten anderen sozialen Fragen | |
zuwendet wie dem Arbeitskräftemangel zum Beispiel. Die Hysterie dürfte aber | |
auch gemildert werden, wenn man pragmatisch über Möglichkeiten der | |
Begrenzung redet und deren Nebenwirkungen benennt. | |
Man könnte [4][die Liste der sicheren Herkunftsländer] erweitern und deren | |
Bürger:innen im Gegenzug die Einreise bei einer Arbeitsaufnahme | |
erleichtern, ohne Anspruch auf Sozialleistungen. So ähnlich hat man es ab | |
2016 mit den Westbalkanstaaten gemacht. | |
Eine weitere Möglichkeit liegt im Vorschlag der EU-Kommission, | |
Asylverfahren von Bewerber:innen aus Ländern mit niedriger Schutzquote | |
auszulagern an die EU-Grenzen, um die hiesigen Kommunen zu entlasten. Der | |
Preis dafür wären allerdings Lager mit Gestrandeten, falls sich überhaupt | |
Länder finden, die an den Außengrenzen solche Zentren einrichten. | |
Man könnte auch nicht anerkannten Geflüchteten, die nur über eine Duldung | |
verfügen, die Sozialleistungen versagen, wie es in vielen EU-Ländern der | |
Fall ist, ihnen aber eine Arbeitserlaubnis gewähren. Als Nebenwirkungen | |
sähe man viel Verelendung und mehr ausländische Obdachlose auf den Straßen. | |
Weitere Vorschläge sind also willkommen. Nur: Sagen, wie es nicht geht, das | |
gilt nicht. Und heldenhaft wird es auch nicht. | |
27 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.cdu-chef-will-weniger-zuwanderung… | |
[2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/rueckfuehrungs… | |
[3] https://doku.iab.de/kurzber/2023/kb2023-13.pdf | |
[4] /Verhandlungen-ueber-Migrationsabkommen/!5961212 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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