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# taz.de -- Debatte Volksbühne: Zurück zum Dialog!
> Theater ist eine leidenschaftliche Angelegenheit, aber die
> Auseinandersetzung über die Berliner Volksbühne ist ohne Maß. Mehr
> Sachlichkeit tut not.
Bild: Was ist die wahre Kunst? Die Deutungsschlacht am Rosa-Luxemburg-Platz ist…
Eines haben Frank Castorf und Chris Dercon gemeinsam: Laibach. Im Oktober
1993, ein Jahr nach dem Beginn von Castorfs Intendanz, gaben sie in der
Volksbühne zwei Konzerte und manifestierten mit den anderen Zweigen des
Provokationskollektivs Neue Slowenische Kunst den NSK-Staat Berlin. Viele
der Besucher konnten ein erstes Mal einen Auftritt Slavoj Žižeks erleben.
Im April 2012, ein Jahr nach dem Amtsantritt Dercons als Direktor der
Londoner Tate Modern, traten Laibach bei ihm unter dem Motto „Monumental
Retro-Avant-Garde“ auf. Der Mitschnitt ist ein Sammlerstück. Wer der NSK
das Haus öffnet, weiß, dass er damit das Gegenteil unverbindlicher
Abendbespaßung zulässt.
Die Inbeschlagnahme der Volksbühne durch die Neue Slowenische Kunst
erfolgte zu einer Zeit, da sich Berlin (der Regierungsumzug von Bonn in die
Bundeshauptstadt sollte erst 1999 stattfinden) anschickte, zu einer
Partymetropole zu werden. Anders, als man das heute wahrnimmt, aber da fing
es an. Sich in jenen Tagen ein Künstlerkollektiv wie NSK aus dem ehemaligen
Jugoslawien einzuladen, das dessen blutigen Zerfall antizipiert hatte,
lässt sich im Nachhinein als Geste wider die damalige, von Ecstasy und
Schnaps nur mühsam übertünchte Geschichts- und Ratlosigkeit sehen.
Das gehört zum Verdienst der Castorf’schen Volksbühne genauso wie die
„Clockwork Orange“-Inszenierung vom Februar 1993 mit der Musik von Steve
Binetti. Oder aber die Inszenierung Andreas Kriegenburgs von Lew Lunz’
„Stadt der Gerechtigkeit“ auf Bert Neumanns Bühne, ein Revolutionsstück a…
dem russischen Oktober, gespielt im Herbst 1992, als viele damit erst mal
nicht mehr behelligt werden wollten.
Bereits in den Neunzigern wurde die Volksbühne zu mehr als „nur“ einem
Theater. Mit Bands wie Stereolab und The Fall fanden Konzerte
experimenteller Pop- und nietzscheanischer Rockmusik statt, im Herbst 2006
gehörte das ganze Haus dem Tape-Underground der DDR. Im Roten Salon lasen
Autoren wie der dunkle, schreibende Arbeiter Wolfgang Hilbig oder, gerade
noch 2015, der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher aus den
Gespenstern seines Lebens.
Die Trauer um die „alte“ Volksbühne ist berechtigt, sie ehrt die
Trauernden. Und steht man dieser Tage vor dem nicht bespielten Haus an der
Treppe, auf der man vor, zwischen und nach den Abenden diskutierte oder
einfach beieinander war, befällt einen schon ein wehes Gefühl. Das muss
sich schnellstens ändern. Ob da die zwischenzeitliche, [1][kurze Besetzung
der Volksbühne] hilfreich war, sei dahingestellt. Genauso kann sie in dem
Übernahmedrama der Volksbühne – ein solches ist es mittlerweile – als
retardierendes Moment wirken.
## Die letzte Schlacht der DDR?
Wenn im November die Dercon’sche Spielzeit im Haupthaus am
Rosa-Luxemburg-Platz beginnt, liegen hinter Castorfs Nachfolger zwei Jahre,
in denen er so ziemlich alles war: Katalysator der Gentrifizierung, U-Boot
des Neoliberalismus, Eventmanager, Galerienbetreiber, Museumsvorsteher und
Schalträger. Dercon wie Castorf wurden zur Projektionsfläche, man konnte
den Eindruck gewinnen, an der Volksbühne werde die letzte Schlacht der DDR
geschlagen.
Zur Erinnerung: Castorf war 25 Jahre im Amt, Erich Honecker nur 18. Die
Diskussion über Dercon ließ einen als Linken an der Linken zweifeln, wenn
nicht verzweifeln. Sie wurde und wird in einer Weise geführt, bei der sich
die Frage aufdrängte, ob der Mann nicht auch noch für den Klimawandel und
den Ukrainekrieg verantwortlich zeichnet. Im Ernst: Dercons Signale seit
seiner Designierung waren nicht alle glücklich. Dass es in Berlin mehr als
zwei gute Künstler gibt, weiß er selbst. Den Rosa-Luxemburg-Platz aus dem
Namen der Volksbühne zu wischen, sich jetzt aber ein „Trotz
alledem!“-Transparent über das Haus zu hängen, hat einen Beigeschmack.
Dennoch bleibt der Vorwurf des Neoliberalismus Dercon gegenüber absurd. Aus
seiner Zeit am Münchner Haus der Kunst stammt ein Spiegel-Interview, in dem
er zu Protokoll gab: „Wir versuchen keine mittelmäßigen Mischformen,
sondern immer die besten, widerständigsten, radikalsten Repräsentanten der
Gattungen ins Haus zu holen. Es war mir wichtig, nicht Teil dieser
unglaublich enthusiastischen Bewegung der Jetzt-Generation zu sein, die zu
allem ja sagt, wenn es bildende Kunst ist und viel Geld kostet. Man muss
nicht im Zentrum des Geschehens suchen, man sollte in den hintersten Winkel
des Gartens gehen und entdecken, was man noch nicht kennt.“ Mit Verlaub,
die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft redet anders.
In die Zeit Dercons an der Tate Modern fallen eine umfangreiche
Gerhard-Richter-Retrospektive und die erste große Werkschau des
spanisch-katalanischen Malers Joan Miró in London seit fünfzig Jahren. Von
April bis November 2013 lief eine Ausstellung der libanesischen abstrakten
Malerin und Bildhauerin Saloua Raouda Choucair, bis April 2014 dann eine
der zeitgenössischen Serben Tina Gverović und Siniša Ilić. Im Frühjahr und
Sommer 2014 zeigte die Tate Modern „A Chronicle of Interventions“, eine
Geschichte westlicher Eingriffe in Mittelamerika. Postmoderne Beliebigkeit
und Ignoranz gegenüber Geografie und Geschichte sehen auch anders aus.
Ob das Chris Dercon, der übrigens unter anderem Theaterwissenschaftler ist,
zum Volksbühnenintendanten prädestiniert, darf selbstverständlich gefragt
werden. Zu seinen ersten Signalen gehört allerdings auch, dass die
Musikreihe mit Christian Morin als Schirmherr ebenso weitergehen wird wie
die Literatur im Roten Salon unter der Leitung von Sabine Zielke. Bleibt
die Frage nach Dercons Eigenproduktionen, die nach dem Sprechtheater und
dem Ensemble. „Wir wollen es wieder aufbauen“, meinte Dercon in einem
Deutschlandfunk-Interview vom Mai dieses Jahres. Keiner wird daran
gehindert, den neuen Intendanten bei Bedarf daran zu erinnern. Theater ist
eine dialogische Angelegenheit. Man sollte Chris Dercon mit den an ihn
gestellten Erwartungen nicht alleine und ihn jetzt seine Arbeit machen
lassen.
6 Oct 2017
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## AUTOREN
Robert Mießner
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Klaus Lederer
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