| # taz.de -- Das Wetter und wir: Vom Ende der Unbeschwertheit | |
| > Um diese Jahreszeit ist ein Sturm nichts Besonderes. Aber die Art, wie | |
| > wir das Wetter verfolgen, zeigt: Es wächst eine apokalyptische Angst in | |
| > uns. | |
| Bild: Kindheit heute: Der Weststrand von Norderney am Montag | |
| Als ich ein Kind war, hat das Wetter mich kaum interessiert. Es war | |
| übermächtig, wie die Eltern, wie die Lehrer, wie die ganzen Umstände, in | |
| die man hineingepflanzt war. Über das Übermächtige denkt man als Kind nicht | |
| nach. Es wird nicht auf eine Waagschale geworfen, es wird nicht dagegen | |
| sich aufgelehnt, es wird ertragen und hingenommen. Das ist die kindliche | |
| Umgehensweise mit dem Wetter. Und eine andere machte ja auch keinen Sinn. | |
| Denn das Wetter ist unbeeinflussbar, es fällt dem Kind nicht ein, viele | |
| seiner Gedanken daran zu verschwenden, es sei denn, das Wetter hielte ein | |
| unverhofftes Vergnügen bereit, den ersten Schnee, die erste sommerliche | |
| Wärme. | |
| Das sind die einzigen meteorologischen Ereignisse meiner Kindheit, an die | |
| ich eine Erinnerung habe, denn sie hängen eng mit diesen Vergnügen | |
| zusammen. Schlitten fahren, das erste Mal Kniestrümpfe anziehen. Dennoch | |
| war das Wetter von einer großartigen Präsenz, die unser Leben draußen auf | |
| dem Lande prägte. Da wir überall zu Fuß hingehen mussten, lebten wir in | |
| dieser frühlingshaften Luft, in den Regengüssen, der frostigen Kälte, in | |
| der Dunkelheit des frühen Winterabends oder in der glühenden Hitze der | |
| Sommernachmittage. Wir waren all dem sehr ausgesetzt, denn niemand fuhr uns | |
| irgendwo hin oder holte uns wo ab. | |
| Jetzt lebe ich schon sehr lange in der Stadt, und das Wetter hatte lange | |
| für mich kaum noch eine Bedeutung. Überall sind Räume, in die man flüchten | |
| kann, sich unterstellen, sich wärmen, Schatten, in dem man sich abkühlen | |
| kann. Das Leben spielt sich mehr in geschützten Bereichen ab, in einer Art | |
| künstlicher, klimatisierter, gemäßigter Zone. | |
| So ist es lange Zeit für mich gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, in den | |
| letzten 30 Jahren einmal vom Regen durchnässt worden zu sein, dass mir die | |
| Füße und Hände kalt und fühllos von der Kälte waren. Ich lebe nun im | |
| Komfort. Das Wetter konnte mir lange nichts anhaben. So geht es den meisten | |
| Leuten, zumindest in der Stadt, aber jetzt hat sich diese | |
| Uninteressiertheit am Wetter bei vielen in eine zunehmend ängstlich | |
| interessierte Aufmerksamkeit gewandelt. | |
| Ein Sturm fegte von Sonntag zu Montag über das Land und wütete besonders | |
| stark bei uns, im Norden. Das war ein Thema. Das hat jeden interessiert. Um | |
| diese Jahreszeit ist ein Sturm nichts Besonderes. Und es ist auch nichts | |
| Besonderes passiert. Aber dennoch ist etwas anders als früher. Die Art, wie | |
| damit umgegangen wird. Die Art, wie wir über diesen Sturm denken. Es ist | |
| nicht mehr nur ein Wetterereignis, es ist jedes Wettereignis jetzt Teil | |
| unserer insgeheimen Beobachtung. Ist das, was jetzt passiert, bereits Teil | |
| einer großen, uns alle betreffenden Veränderung? | |
| Wie viele dieser Stürme wird es in Zukunft geben? Werden sie stärker | |
| werden, viel stärker? Die Hitze wird uns Angst machen. Wird es heißer | |
| werden, viel heißer? Werden wir genug zu Essen haben, wenn die Felder | |
| vertrocknen? Wird dieser Regen irgendwann unsere Flüsse überschwemmen und | |
| unsere Häuser wegreißen? Wird Hagel uns unvermutet treffen, unsere Ernten | |
| vernichten, Menschen erschlagen? | |
| Das ist die apokalyptische Angst, das wächst in uns, wenn wir das Wetter | |
| misstrauisch verfolgen. Wir können nicht mehr unbeschwert in seiner | |
| überwältigenden Natürlichkeit schwelgen, können uns nicht mehr vom Wind auf | |
| den Feldern euphorisieren lassen, nicht mehr unbeschwert die trägen, heißen | |
| Sommertage genießen. Wir ahnen in allem eine Entwicklung. | |
| Es gibt ein neues Wort, das heißt: Klimadepression. Es betrifft vor allem | |
| Menschen, die sich um ein rücksichtsvolles Verhalten mühen, die sich | |
| überhaupt mühen, richtig zu leben, verantwortungsvoll, und die Ohnmacht | |
| spüren, gegenüber diesen Veränderungen in unserer Welt, denn was bewirkt | |
| das, was sie tun, angesichts der Rücksichtslosigkeit der Starken dieser | |
| Welt, der Wirtschaft, der Politik? | |
| Darauf weiß ich, für mich, keine Antwort, keinen Ausweg, als – leben. Was | |
| ist den Menschen je anderes übrig geblieben, als – trotzdem – zu leben? | |
| 12 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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