# taz.de -- Coronahilfen für Selbständige: Steinschleuder ohne Stein | |
> Die Coronahilfen für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige sind eine | |
> Mogelpackung. Viele müssen Gelder zurückzahlen. | |
Bild: Der Restart lässt auf sich warten | |
Die Lufthansa erhielt 5,8 Milliarden, der Reisekonzern TUI 1,2 Milliarden. | |
Daimler schüttete mitten in der Pandemie 1,4 Milliarden Euro Dividende aus, | |
zugleich sparte der Autobauer 700 Millionen durch Kurzarbeitergeld. | |
Großkonzerne profitierten von der [1][„Bazooka“,] einer Panzerabwehrwaffe, | |
die SPD-Finanzminister Olaf Scholz martialisch zu Beginn der Coronakrise | |
versprach. Die Unterstützung für Gastwirte, Musikerinnen oder freie | |
Grafiker ist im Vergleich eine Steinschleuder – ohne Stein. | |
Beispiel Nordrhein-Westfalen: Das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium hat | |
im Juni alle Empfänger:innen der „NRW-Soforthilfe“ angeschrieben. Rund | |
370.000 Kleinstbetriebe mit maximal fünf Beschäftigten sollten bis Oktober | |
ihren „tatsächlichen Liquiditätsengpass ermitteln“. | |
Hinter der bürokratischen Formel verbirgt sich sozialer Sprengstoff: Weil | |
sie kaum „Fixkosten“ haben und diese ihren Umsatz nicht überschreiten, | |
müssen viele Miniunternehmen die im letzten Jahr erhaltenen 9.000 Euro | |
zurückzahlen. Wohlwollend betrachtet handelt es sich um einen kostenfreien | |
Kredit für zwei Jahre: ein schwacher Trost nach langem Berufsverbot für | |
Künstler und andere Mitarbeiterinnen der Veranstaltungsbranche. | |
Großspurige Ankündigungen begleiteten die Lockdowns. Man entschädige | |
„unbürokratisch“, so Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Doch nur ein | |
Drittel der im laufenden Etat eingeplanten Gelder kam an. Von 65 Milliarden | |
wurden lediglich 23 Milliarden Euro an die Länder transferiert oder direkt | |
an die Antragsteller ausgezahlt. Für das Vorjahr fällt die Bilanz noch | |
peinlicher aus: Knapp 25 Milliarden waren veranschlagt, genutzt wurden | |
davon ganze 3,7 Milliarden Euro. | |
## Viele Solo-Selbständige verzichteten auf Antrag | |
Die Differenz erklärt sich teils, weil die Programmierung der | |
Antragssoftware lange dauerte und das Geld erst im Folgejahr überwiesen | |
wurde. Wirkung zeigten aber auch die Erfahrungen der Betroffenen mit der | |
„Soforthilfe“: Die Behörden drohten, man werde genau prüfen, um möglichem | |
Subventionsbetrug auf die Schliche zu kommen. Es gab vereinzelte „schwarze | |
Schafe“, sie fielen aber quantitativ kaum ins Gewicht. Das Aufbauschen | |
krimineller Praktiken schreckte tatsächlich Bedürftige ab: [2][Viele der | |
bundesweit 2,2 Millionen Soloselbstständigen] verzichteten auf weitere | |
Anträge. | |
In der „Interessengemeinschaft NRW-Soforthilfe“ haben sich 7.000 Betroffene | |
zwecks einer Klage gegen die Rückzahlung zusammengetan – und eine auf | |
Verwaltungsrecht spezialisierte Düsseldorfer Kanzlei eingeschaltet. Bei den | |
Mails an die Empfänger:innen habe man „zuvor nicht geltende Änderungen | |
an den Bewilligungsbescheiden“ vorgenommen, argumentiert die Gruppe. Als | |
Beleg für Ungereimtheiten dient auch eine Pressemitteilung: „Wir geben | |
einen Zuschuss, es geht nicht um einen Kredit. Es muss also nichts | |
zurückgezahlt werden“, schrieb Olaf Scholz am 23. März 2020. | |
## Unübersichtlich und kompliziert | |
„Die Bedingungen waren unklar und unpräzise, sie wurden uminterpretiert“, | |
kritisiert Verdi. Die Gewerkschaft unterhält ein Service-Referat für | |
Freiberufler, in Newslettern wird kompetent und umfangreich über die | |
Coronahilfen informiert. „Es rächt sich, dass in der Vergangenheit versäumt | |
wurde, sozialstaatliche Regeln zu etablieren, die die Lebens- und | |
Erwerbslagen der Soloselbstständigen berücksichtigen“, heißt es auf der | |
Webseite der Gewerkschaft. Referatsleiterin Veronika Mirschel setzt auf den | |
jedem Mitglied zugesagten Rechtsschutz, doch erst nach den | |
Zahlungsbescheiden könne man klagen. | |
Die Coronaprogramme sind ein föderaler Flickenteppich. Auch Hamburg, | |
Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz haben Prüfungen eingeleitet und | |
fordern Geld zurück. Der in NRW zuständige Minister Andreas Pinkwart lobt | |
wie seine FDP-Parteifreunde gern das freie Unternehmertum. | |
Seine Presseleute bejubeln das „größte Hilfsprogramm in der Geschichte des | |
Landes“, faktisch werden Existenzen ruiniert. Möglich ist nicht einmal ein | |
vorläufiges Herausrechnen der Hilfen bei den Finanzämtern, solange die | |
tatsächlich gezahlte Fördersumme nicht endgültig feststeht. Die | |
Empfänger/innen zahlen für 2020 Steuern auf Gelder, die ihnen der Staat | |
danach wieder wegnimmt. | |
## Versagen bei den Soloselbstständigen | |
Kein Wunder, dass der Mut zur „Ich-AG“ schwindet. Das Deutsche Institut für | |
Wirtschaftsforschung warnt, die Pandemie zwinge immer mehr Selbstständige | |
zur Aufgabe. Ein Viertel sei bereits ausgestiegen, 11 Prozent suchten eine | |
Stelle, 15 Prozent seien „inaktiv“, vor allem Frauen. Mindestens 130.000 | |
Betroffene meldeten sich beim Jobcenter, beziehen also jetzt Hartz IV. | |
Der Umgang mit Kleinstunternehmen in der Coronakrise belegt ein politisches | |
Versagen. SPD-Minister Hubertus Heil ist stolz auf das Kurzarbeitergeld, | |
sogar die Sozialabgaben der Bezieher:innen übernimmt der Staat. | |
Festangestellte werden gut versorgt, Freiberufler:innen mit Brosamen | |
abgespeist. | |
Wirksam sind die Zuschüsse nur dort, wo Betroffene hohe Mieten für Läden | |
und Büros zahlen oder Leasingverträge bedienen mussten. Im Gegensatz zu | |
Künstlerinnen oder anderen Heimarbeitern konnten sie diese Kosten anrechnen | |
lassen. Eigentümer und kreditgebende Banken erhielten zuverlässig ihr Geld. | |
## Nutznießer: Konzerne und Banken | |
So entpuppt sich die angebliche Unterstützung von Minibetrieben als | |
Subvention ganz anderer Art: Nutznießer sind Immobilienfirmen und | |
Versicherungskonzerne, denen die teuren Objekte gehören. Deren Profite | |
wurden gesichert – Selbstständige hingegen mit gebrochenen Versprechen im | |
Regen stehen gelassen. | |
Die Aussichten bleiben düster: In der Veranstaltungswirtschaft mit ihren | |
langen Planungsvorläufen ist völlig unklar, was künftig stattfinden darf. | |
„Im Herbst und Winter nur digital“, bekommen Musikerinnen oder Messebauer | |
derzeit zu hören. Selbst Termine in 2022 stehen unter Vorbehalt, frühestens | |
2023 könnte analoge „Normalität“ einkehren. | |
13 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/ein-jahr-wumms-konjunkturpr… | |
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/selbststaendige-corona-hilfen-101.html | |
## AUTOREN | |
Thomas Gesterkamp | |
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