# taz.de -- Corona-Hotspot Neukölln: „Die Party ist vorbei“ | |
> Sperrstunde und noch strengere Kontaktbeschränkungen für Privatfeiern | |
> sind beschlossen. Ein Interview mit Falko Liecke, Gesundheitsstadtrat von | |
> Neukölln. | |
Bild: Bier gibt's ab 10. Oktober 2020 nur noch bis 23 Uhr … | |
taz: Herr Liecke, Neukölln liegt in Sachen Fallzahlen deutlich vor den | |
anderen Bezirken. Können Sie das erklären? | |
Falko Liecke: Jein. Es gibt ein paar Ansätze: Zum einen gab es seit Mitte | |
September sieben große Hochzeiten. Da sind wir immer noch dabei, die | |
Fallermittlung und die Nachverfolgung in den Griff zu bekommen. Wir haben | |
aber auch einen Rückstau in der Bearbeitung, der dann zu so einem Anstieg | |
wie von Montag auf Dienstag führen kann. | |
Wie entsteht dieser Rückstau? | |
Die Infektionsketten sind extrem kompliziert. Da müssen wir erst einmal | |
rausbekommen, wo ein Fall herkommt, wer alles Kontakt hatte. Das ist schon | |
schwierig genug, weil die Besucher dieser Feiern zum Teil nicht gerade die | |
Auskunftsfreudigsten sind, um es mal nett zu formulieren. Auch die | |
Veranstalter kommen zum Teil ihren Aufzeichnungspflichten nicht nach. Und | |
bei der Nachverfolgung sind dann nach einer einzelnen Feier gleich mal acht | |
Schulen und zwei Kitas betroffen. Da müssen wir dann großflächig in | |
Quarantäne schicken. | |
Solche großen Feiern sind ja bereits seit dem 3. Oktober nicht mehr | |
erlaubt. | |
Das ist auch in Ordnung so. Aber das ist auch nicht der einzige Grund für | |
die vielen Fälle. Es gibt Fälle in Sportvereinen, auf Arbeitsstellen, von | |
Privatfeierlichkeiten und immer wieder aus der Kneipenszene. | |
Aber diese Partys, das gab es doch alles im Sommer auch. Sind das jetzt | |
Reiserückkehrer, die Infektionen verbreiten? | |
Das kann gut sein. Das hing ja letztlich vom Reiseweg ab, ob jemand | |
nachverfolgbar war. Wenn Sie mit dem Auto aus einem Risikogebiet | |
zurückgekommen sind, hatten Sie zwar die Verpflichtung, sich selber zu | |
melden. Aber das konnte doch niemand kontrollieren. Da sind uns sicher | |
viele durch die Lappen gegangen. Das heißt, das aktuelle | |
Infektionsgeschehen könnte noch Nachwehen sein. Und jetzt kurz vor den | |
Herbstferien stehen wir wieder vor dem gleichen Problem. | |
Jetzt hat der Senat eine Sperrstunde und noch strengere | |
Kontaktbeschränkungen für Privatfeiern beschlossen. Reicht das? | |
Der wichtigste Strang sind Kontrollen, Kontrollen, Kontrollen. Ich weiß, | |
dass die Polizei derzeit extrem belastet ist und auf Schwerpunkte fährt. Da | |
muss sie unterstützt und verstärkt werden. Entweder aus der Bundespolizei | |
oder vom Zoll oder, was ich mir auch vorstellen könnte: Dass wir uns von | |
anderen Bundesländern, die gerade nicht so betroffen sind, Kräfte | |
ausborgen, um gerade an den Wochenenden an den Hotspots massive Kontrollen | |
zu machen. Das muss sichtbar sein, das muss spürbar sein. Zur Not muss man | |
den Laden auch mal 14 Tage zumachen. Das hat dann eine Wirkung. | |
Also den Wirt bestrafen? | |
Wobei ich die Schuld da nicht komplett auf dem Wirt abladen will. Die sind | |
gebeutelt genug, ich weiß das. Es sind eben häufig auch die Gäste, denen | |
alles scheißegal ist. Gerade die brauchen die Ansage: Die Party, wie Ihr | |
sie hier veranstaltet, ist vorbei, das geht jetzt gerade nicht. | |
In manchen Regionen Deutschlands gilt Ihr Bezirk neben anderen nun als | |
Risikogebiet mit entsprechenden Reisebeschränkungen. | |
Das ist doch grober Unfug. So etwas funktioniert in einer Großstadt | |
überhaupt nicht. Es funktioniert schon nicht in Neukölln. Da ist die Lage | |
in Britz und Rudow eine ganz andere als in Nordneukölln. Ich glaube nicht, | |
dass solche Bewertungen wirksame Maßnahmen sind. | |
Sie haben eingangs von einem Rückstau in der Fallbearbeitung und der | |
Nachverfolgung gesprochen. | |
Unsere Corona-Warn-Ampel steht tatsächlich schon auf Schwarz, das kommt | |
nach Rot. Das liegt daran, dass wir bei uns im Bezirk nicht nur die | |
Fallzahlen betrachten, sondern auch die Bearbeitung der Fälle. Wenn wir in | |
einer Woche mehr als 50 Fälle pro 100.000 Einwohner und einen | |
Bearbeitungsrückstand von 4 oder mehr Fällen über 2 Tage haben, dann | |
springt die Ampel auf Schwarz. | |
Wie wollen Sie das verbessern? | |
Wir entwickeln gerade mit Blick auf Schulen pauschalere Pläne, wie wir bei | |
einem positiven Fall möglichst schnell die Kontaktpersonen aus dem | |
Geschehen bekommen, um die Weiterverbreitung zu verhindern. Der zweite | |
Punkt ist natürlich die Aufstockung des Personals. Wir sind ja, glaube ich, | |
der einzige Bezirk mit 27 Bundeswehrsoldaten … | |
Weil das andere Bezirke grundsätzlich ablehnen. | |
Die bekommen da einen Würgereiz, ich weiß. Aber ich finde das gut, die | |
helfen uns zum Beispiel bei der Quarantäne-Hotline. Wir werden darüber | |
hinaus 26 zusätzliche befristete Stellen schaffen in der | |
Kontaktnachverfolgung, Verwaltung und mit zwei Ärzten. Auch zwei Kollegen | |
vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen dürfen wir vorerst behalten. Wir | |
haben außerdem fast 50 Kollegen aus anderen Verwaltungsbereichen | |
akquiriert, die uns bis März unterstützen. Jetzt werden langsam die | |
Arbeitsplätze knapp. Da suchen wir derzeit mit Hochdruck nach Räumen. | |
Wie ist Ihr Blick in die Zukunft? | |
Zukunft heißt erst einmal November, Dezember, die kalte Jahreszeit. Wir | |
versuchen wieder vor die Lage zu kommen, statt hinterherzuhecheln. Das | |
kostet unheimlich viel Kraft von allen Beteiligten. Meine Aufgabe ist es, | |
die Rahmenbedingungen so günstig wie möglich zu gestalten für die, die die | |
eigentliche Arbeit machen müssen. Unser oberstes Ziel ist es, da sind wir | |
uns, glaube ich, alle in Berlin einig, einen weiteren Lockdown zu | |
verhindern. Da müssen wir im Zweifel auch so drastische Maßnahmen wie die | |
Einschränkung der Versammlungsfreiheit wieder ins Auge fassen. | |
Ausgerechnet die Versammlungsfreiheit? Die Beschränkung stand schon zu | |
Beginn der Pandemie hart in der Kritik. | |
Das bindet aber unheimlich viel Kräfte, die wir für die Durchführung der | |
Kontrollen brauchen. Wir haben jetzt höhere Zahlen als zu Anfang der | |
Pandemie und wir gehen nicht so konsequent damit um. So schwer das fällt, | |
Lebensbereiche wieder hart einzuschränken, aber ich möchte nicht die | |
Schulen und Kitas schließen. Nicht in Berlin, wo Homeschooling eh nicht | |
funktioniert. | |
Wie weit ist Ihre derzeitige Arbeit von dem entfernt, was man sonst so als | |
Bezirkspolitiker macht? | |
Also ums mal drastisch zu sagen: Das, was vor Corona war, war | |
Kindergeburtstag. Ich bin jetzt seit 11 Jahren dabei, der dienstälteste | |
Stadtrat in Neukölln. Aber so eine Situation in der Dauer mit der | |
Belastung, das habe ich nicht mal ansatzweise erlebt. Was mich dabei | |
wirklich bedrückt, ist die Tatsache, dass die Strukturen, die wir hier über | |
viele Jahren aufgebaut haben – Prävention, Ersthausbesuch aller | |
Neugeborenen, Begrüßungsstrategie für Familien – außer dem Kinderschutz | |
liegt das alles brach. Das System hat im Moment echt Schlagseite, weil wir | |
im Kern nur mit der Pandemie beschäftigt sind. Das ist das eigentliche | |
Drama. | |
7 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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