# taz.de -- Carolin Emckes Corona-„Journal“: Wie geht es uns, Frau Emcke? | |
> Wie sinnlich kann eine Video-Lesung zu den psychischen Folgen der | |
> Pandemie sein? Carolin Emcke macht es mit ihrem Corona-Tagebuch vor. | |
Bild: Die Autorin Carolin Emcke, 2019 | |
Carolin Emcke ist nicht angereist. Sie sitzt an einem Tisch in Berlin und | |
trinkt Tee. An diesem Abend, als die Inzidenzrate in München erneut über | |
100 liegt und eine nächtliche Ausgangssperre schon beschlossene Sache ist, | |
wollen die Veranstalter des Abends mit Frau Emcke, das Literaturhaus und | |
die Kammerspiele, kein falsches Zeichen setzen. Was sich für | |
Livestream-Zuschauer intim anfühlt, bedauert die Protagonistin. | |
Drei Passagen liest sie aus ihrem „Journal“ (S. Fischer Verlag) vor. Am 23. | |
März 2020 – einen Tag nach Beschluss der ersten Kontaktbeschränkungen – | |
begann die Friedenspreis-Trägerin ihr Coronatagebuch. Theaterdramaturg | |
Martin Valdés-Stauber fragt die Autorin: Welche Bilder werden ihr von der | |
Zeit der Pandemie im Kopf bleiben? Keine persönlichen, antwortet sie, eher | |
medial vermittelte. Etwa der Papst als „fast einsame Figur“ auf dem | |
Petersplatz. | |
Oder Erfahrungen, „für die es kaum eine Sprache“ gebe, aus Altersheimen, | |
von Krankheit und Tod: „Ich empfinde dieses Vakuum als Dissonanz“, sagt | |
Emcke. „Wir sprechen die ganze Zeit übers Sterben, registrieren | |
Todeszahlen, [1][und es gibt trotzdem ausgesprochen wenig künstlerische | |
Annäherung] an die Erfahrung von Menschen, die jemanden verlieren und nicht | |
hinkönnen.“ | |
Sie berichtet über Beerdigungen im Bekanntenkreis, spricht vom | |
„Improvisieren der Gesten der Trauer“. Tradierte Rituale, „von denen man | |
sich sonst beschützt fühlt“, sind verboten. Sie müssen spontan ersetzt | |
werden durch Handlungsformen, die Menschen in schweren Momenten neu und | |
fremd sind. | |
## Umgang mit Ängsten | |
Carolin Emcke spricht auch über den Umgang mit Ängsten – der Furcht vor | |
Ruin, Tod oder Schuld, andere anzustecken. Gerade für Kinder könne die | |
Sorge, dass „man gefährlich ist für andere“, eine prägende Erfahrung sei… | |
„Ich bin nicht sicher, wie schnell sich das wieder abbauen lässt.“ | |
Ältere fürchten den Verlust von unwiederbringlichen Erfahrungen, Lebenszeit | |
sei schließlich „ein knappes Gut“. Emcke will eine solche Angst nicht per | |
se entwerten und kritisiert die Politik: „Es braucht eine politische Form | |
der Ansprache der Affekte, etwa der Angst vor Verlusten.“ | |
Sie analysiert auch, wie die „globale Katastrophe“ zuerst als gemeinsames | |
Problem erlebt worden sei. Später sei im Vergleich mit anderen Staaten so | |
auch die Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung ausgedrückt worden. Der | |
Neid, dass in Israel „besser geimpft“ würde, sei Ausdruck der | |
„narzisstischen Kränkung“ Europas. | |
Carolin Emcke trägt an diesem Abend einen schwarzen Blazer und einen | |
breiten Silberring am kleinen Finger. Das Licht ist gedämpft, rechts steht | |
eine Teeflasche mit Stahlverschluss und Wärmeüberzug. Zunächst habe man | |
gerade in der Bundesrepublik noch gedacht, privilegiert durch die Pandemie | |
zu kommen. Einerseits. Andererseits habe es auf internationaler Ebene | |
europäische Solidaritätsgesten wie eine „gemeinsame Verschuldung“ gegeben, | |
[2][als „herzzerreißende Bilder“ aus Spanien] gekommen sind, sagt Emcke | |
ernst. | |
2 Apr 2021 | |
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[1] /Ein-Jahr-Corona-in-Berlin/!5749399 | |
[2] /Spaniens-Gesellschaft-in-der-Coronakrise/!5675239 | |
## AUTOREN | |
Johanna Schmeller | |
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