| # taz.de -- Buch über mexikanische Kartelle: Blutige Zustände | |
| > Timo Dorsch beschreibt, wie sich die mexikanischen Kartelle im | |
| > Bundesstaat Michoacán inszenieren. Mit der Theorie hapert es ein wenig. | |
| Bild: In Mexiko gehören Anblicke wie diese durchsiebte Hausfassade in El Aguaj… | |
| Sechs der zehn weltweit gefährlichsten Städte liegen in Mexiko. Eine von | |
| ihnen befindet sich im [1][Bundesstaat Michoacán]. In dieser Region | |
| liefern sich derzeit Kriminelle zweier Kartelle blutige Kämpfe um die | |
| Vorherrschaft. Der Gouverneur schaut zu, die Bundesregierung schickt | |
| Truppen, um die Lage zu beruhigen. | |
| Allerdings ist ihr Erfolg begrenzt: Videos in sozialen Medien zeigen, wie | |
| gepanzerte Fahrzeuge der Armee und der Nationalgarde Anfang April | |
| fluchtartig die Kleinstadt Aguililla verlassen, Mitglieder des | |
| Jalisco-Kartells greifen Soldaten mit sprengstoffbeladenen Drohnen an. Wer | |
| in der Gemeinde wen unterstützt, lässt sich nur schwer beantworten. | |
| Zweifellos hat [2][Autor Timo Dorsch] mit Michoacán den richtigen | |
| Bundesstaat ins Visier genommen, um für sein Buch „Nekropolitik. | |
| Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko“ die | |
| komplizierten Gewaltstrukturen im Land zu beschreiben. | |
| Zwar herrschen in einigen Regionen ähnliche Verhältnisse, aber hier treffen | |
| viele Faktoren aufeinander, durch die die Lage besonders eskaliert: Mehrere | |
| große Mafiaorganisationen, eine traditionell korrupte politische Klasse, | |
| starke ökonomische Interessen auf lokaler bis internationaler Ebene und | |
| nicht zuletzt [3][viele Bürgerinnen und Bürger, die sich bewaffnen], um | |
| diesem Wahnsinn nicht hilflos ausgeliefert zu sein. | |
| ## Kartelle als selbsternannte Beschützer der Einheimischen | |
| Zu Recht schreibt der Autor, dass es Recherchen vor Ort bedürfe, „um die | |
| Verhältnisse zu begreifen, denen so viele Menschen unterworfen sind“. Denn | |
| auch wenn die groben Linien ähnlich erscheinen, rühren Gewaltausbrüche oft | |
| aus einer Mischung aktueller wirtschaftlicher Interessen und langjährig in | |
| die Gesellschaft eingeschriebener Machtstrukturen. | |
| Dorsch trifft in Michoacán einen Avocado-Produzenten, der ihm berichtet, | |
| wie eine kriminelle Organisation zunehmend die Kontrolle des Geschäfts | |
| übernahm und eine Firma abgefackelt wurde, weil sie kein Schutzgeld zahlte. | |
| Er erklärt, wie sich die „Familia Michoacana“ als Beschützer der | |
| Einheimischen gegen die Eindringlinge der konkurrierenden „Zetas“ | |
| inszeniert. Und wie die „Tempelritter“, eine Abspaltung der „Familie“, | |
| durch exzessive Gewalt die Bevölkerung dazu brachten, die korrupte Partei | |
| PRI zu wählen, um dann nach den Wahlen von den PRI-Bürgermeistern eine | |
| Quote des öffentlichen Haushalts einzufordern. | |
| Detailliert beschreibt der Autor, wie Kartelle internationale Unternehmen | |
| erpressen, den Bergbau kontrollieren und über den Pazifikhafen Lázaro | |
| Cárdenas Eisenerz nach China verschicken. Nicht selten mit tätiger | |
| Unterstützung des Militärs oder hochrangiger Politiker. Solche Partner | |
| halfen auch dabei, dass die Region dank der über den Hafen aus China | |
| angelieferten Zutaten in den 2000ern zur weltweit größten Amphetaminküche | |
| wurde. | |
| ## Auch Gouverneure kooperieren mit den Kartellen | |
| Aber nicht nur Politikerinnen und Politiker, unter ihnen auch Gouverneure, | |
| kooperieren mit den Kartellen. Auch führende Mitglieder sogenannter | |
| Selbstverteidigungsgruppen arbeiten mit der Mafia zusammen, obwohl die | |
| Gruppen entstanden sind, um die Gewalt abzuwehren. Das ist nicht | |
| verwunderlich: Wer seine Gemeinde in einer Gesellschaft verteidigen will, | |
| in der legale und illegale Ökonomien eng verwoben sind und | |
| Rechtsstaatlichkeit ein Fremdwort ist, muss angesichts des | |
| Kräfteverhältnisses mit diesen Strukturen leben. | |
| Wer ein Dorf schützen will, das vom Schlafmohnanbau für die Opiumproduktion | |
| lebt, kommt nicht darum herum, mit der Mafia zu dealen. Immer wieder haben | |
| in Mexiko selbstorganisierte bewaffnete Gruppen, die sich erfolgreich gegen | |
| ein Kartell wehrten, im Auftrag eines anderen agiert. „In Kontexten der | |
| Hybris“, wie Dorsch das komplexe Geflecht nennt, „sind die Linien zwischen | |
| Gut und Böse verschwommen“. | |
| Wie der Titel des Buchs nahelegt, fasst der Autor diese Zustände unter dem | |
| von dem postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe geprägten Begriff | |
| „Nekropolitik“ zusammen. Er macht in Mexiko neue Techniken und Mechanismen | |
| der Herrschaftsausübung aus, „die im 21. Jahrhundert verstärkt den Körper | |
| als Territorium des Krieges begreifen“. | |
| Das Geflecht aus staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, die entgrenzte | |
| Gewalt, die fehlende Rechtsstaatlichkeit, diese „Hybris“, sei Ausdruck der | |
| Nekropolitik, die, Mbembe zitierend, „die gegenwärtige Form der | |
| Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ sei. | |
| ## Ausnahmezustand seit Beginn des 21. Jahrhunderts | |
| Das straffreie Töten, das Recht des Stärkeren „auf der Suche nach der | |
| bestmöglichen kapitalistischen Akkumulation“ oder die Gewaltanwendung zur | |
| Markierung territorialer Machtansprüche – für den Autor charakterisieren | |
| diese Umstände, dass in Mexiko seit Beginn des 21. Jahrhunderts ein | |
| Ausnahmezustand herrsche. Dieser Ausprägung des globalen Neoliberalismus, | |
| so Dorsch, „konnte endlich ein Name und eine Erklärung gegeben werden“: | |
| Nekropolitik. | |
| Sicher lassen sich einige Phänomene unter Mbembes Blickwinkel der | |
| Souveränität über das Leben oder das Sterben betrachten. Und ja, Kartelle | |
| setzen tote, entstellte Körper – dem Vorgehen des „Islamischen Staates“ | |
| ähnlich – brutal öffentlich in Szene, um ihre Macht zu symbolisieren und | |
| Territorien abzustecken. Warum sie deshalb, wie der Autor schreibt, zur | |
| Ware, zur „Quelle der Kapitalakkumulation“ werden sollen, ist jedoch schwer | |
| nachzuvollziehen. | |
| Vor allem aber stellt sich die Frage, ob Mexiko tatsächlich im 21. | |
| Jahrhundert eine so grundlegend neue Epoche erlebt und ob eine Untersuchung | |
| unter der Vorgabe „Nekropolitik“ genügend neue analytische Erkenntnisse | |
| liefert, um eine solche Zeitenwende zu bestätigen. | |
| Weder die Gewalt an sich noch das Verschwimmen der Grenzen zwischen legaler | |
| und illegaler Ökonomie und korrupten Politikern sind historisch neue | |
| Phänomene. Räume des Ausnahme- und des Normalzustands, die parallel | |
| existieren und sich gegenseitig bedingen, ziehen sich durch die gesamte | |
| neue Geschichte Mexikos. Der Autor beschreibt selbst ausführlich die | |
| Entwicklung der PRI, die nach der Revolution über 70 Jahre lang das Land | |
| regierte. Kriminelle, Gewerkschaften, Unternehmer, Militärs und Regierung | |
| zogen an einem Strang, ganz oben stand die Partei. | |
| ## Tief in die Gesellschaft eingeschriebene Korruption | |
| Wer sich diesem Konglomerat widersetzte, wie etwa radikale Linke in den | |
| 1970er Jahren, wurde verfolgt und ermordet. Wie auch indigene Gemeinden | |
| befanden sie sich im rechtlosen Ausnahmezustand. Mit der wirtschaftlichen | |
| Liberalisierung, die in den 1980er Jahren ihren Anfang nahm, entstand in | |
| der legalen und illegalen Wirtschaft jene Konkurrenz, die zusammen mit der | |
| tief in die Gesellschaft eingeschriebenen Korruption den Hintergrund für | |
| die heutigen blutigen Zustände bildet. | |
| Es gelte auch zu fragen, welche positive Funktionalität die Gewalt in | |
| Hinblick auf soziale Kontrolle und Reproduktion von Herrschaft ausübe, | |
| schreibt der Autor. Er beruft sich dabei auf den mexikanischen | |
| postkolonialen Theoretiker Mario Rufer. Ob diese neoliberale Dynamik | |
| tatsächlich Verhältnisse geschaffen hat, die der Kapitalakkumulation | |
| dienlich sind, ist zweifelhaft. Sicher, für die korrupte politische Klasse, | |
| einige Firmen und Kartelle mag das zutreffen. | |
| Für Konzerne, die Jeans produzieren, Tomaten anbauen oder Volkswagen | |
| herstellen, ist die „Hybridisierung staatlich-krimineller Strukturen“ | |
| jedoch ein Hindernis. Sie wollen weder Schutzgeld zahlen noch ständig | |
| einkalkulieren, dass ihre Ware auf dem Weg zum nächsten Hafen gestohlen | |
| wird. Auch für den Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen Mexikos, | |
| werden die brutalen Verhältnisse zum Hemmschuh, wenn das Morden an die | |
| Strände vordringt. | |
| Ob die mexikanische Wirklichkeit eine dauerhaft funktionierende Symbiose | |
| zwischen einem modernen kapitalistischen Produktionszentrum und den „Räumen | |
| des Ausnahmezustands“ darstellt, ist nicht ausgemacht. Ebenso wenig, ob die | |
| gewalttätigen Verhältnisse, wie Mbembe schreibt, „die letzte Ausprägung der | |
| Souveränität“ zum Ausdruck bringen. Dorschs Buch ist aber auf jeden Fall | |
| eine lesenswerte Grundlage, um diese Fragen zu diskutieren. | |
| 26 May 2021 | |
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| Wolf-Dieter Vogel | |
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