# taz.de -- Buch „Verzeichnis einiger Verluste“: Spaziergänge in der Wunde… | |
> In ihrem Prosaband erschafft Judith Schalansky ein literarisches Haus mit | |
> vielen unterschiedlichen Zimmern – aus Verlorenem. | |
Bild: Mit ihrem Buch strebt sie die poetologische Summe ihres bisherigen Werkes… | |
Als Armand Schulthess’ Erben 1973 den größten Teil seiner | |
Hinterlassenschaften im Valle Onsernone in den Müll entsorgten, ahnten sie | |
vermutlich nicht, dass sie damit ein Gesamtkunstwerk vernichteten. Haus und | |
Garten des ehemaligen Bundesverwaltungsangestellten platzten vor Schriften, | |
Karten und Collagen aus allen Nähten, im Garten gruppierten sich | |
verdrahtete Blechplaketten zu Wissensfeldern von der Atomphysik bis zur | |
Schwangerschaftsverhütung. Was man leicht für den Unrat eines sammelwütigen | |
Messies halten konnte, war ein Lebensprojekt; die „Bibliothek des Wissens“, | |
nichts weniger als der Versuch, alle verfügbaren Informationen der Zeit in | |
eine individuelle Ordnung zu bringen. | |
Schulthess, der vom Schweizer Kurator und Art-Brut-Kenner Harald Szeemann | |
entdeckt, unter der Überschrift „Individuelle Mythologien“ ausgestellt und | |
seither von immer neuen Künstlergenerationen wiederentdeckt wurde, taucht | |
auch in Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ auf. Unter der | |
Kapitelüberschrift „Enzyklopädie im Walde“ lässt Schalansky ihn eine Art | |
Brief und Gebrauchsanweisung für Mann und Kunstwerk an eine noch zu | |
findende junge Frau schreiben, mit der er künftig gemeinsam leben möchte: | |
ein kleines Zimmer im vollgestopften Haus – „Bücher, musst du wissen, sind | |
ein hervorragendes Dämmmaterial“ – hat er schon freigeräumt. | |
In die dichte Beschreibung des Anwesens mischen sich philosophische | |
Weisheiten, umfangreiches Fachwissen, biografische Schnipsel und spleenige | |
Meinungen. Der Brief schließt mit der bangen Frage, ob die Empfängerin ihn | |
überhaupt lesen werde: „Da ist es besser, ihn zu behalten. Alles zu | |
behalten. Man braucht ja nichts.“ | |
## Das Buch als künstlerisches Objekt | |
Eine lose Seelenverwandtschaft verbindet [1][Judith Schalanskys] viertes | |
Prosawerk mit Schulthess’ auf seinem Grundstück wuchernder Enzyklopädie. | |
Ausgerechnet mit den „Verlusten“, für die sie mit dem hochdotierten | |
Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet wurde, strebt die 1980 geborene | |
Greifswalderin so etwas wie die poetologische Summe ihres bisherigen Werkes | |
an – aber auch, und hier wird es größer, als der schmale, anthrazitfarbene | |
Band zunächst ahnen lässt, ihrer individuellen Mythologie als les- und | |
beschreibbarem Gegenstand. | |
Dazu bedient sich die studierte Buchgestalterin nicht nur der Literatur. | |
Sie begreift das Buch selbst als künstlerisches Objekt, dessen Architektur | |
bedeutsam ist: Angefangen von den scheinbar unscheinbaren Ein- und | |
Ausgangsbereichen mit Inhaltsverzeichnis, Vorbemerkung und Vorwort bis hin | |
zum Ausgang mit Sach- und Personenregister sowie Bild- und Quellennachweis. | |
Dazwischen erstrecken sich zwölf sechzehn Seiten starke Räume, einer für | |
jeden Verlust, voneinander getrennt durch je eine schwarze Vorschlagseite, | |
deren Rückseite schattenhaft den jeweils verlorenen Gegenstand zeigt. | |
Was aber ist ein Verlust – und für wen? Die Auswahl, die Judith Schalansky | |
für ihren Band getroffen hat, wirkt einerseits hochgradig willkürlich, auf | |
den ersten Blick sogar kunstbeflissen, ja bildungsstolz. Beim genaueren | |
Hinlesen jedoch ist es komplizierter. In manchen Erzählungen taucht ein | |
Autorinnen-Ich auf, in anderen schmiegt sie sich ganz an historische | |
Figuren an, den Briefschreiber Schulthess etwa oder die Schauspielerin | |
Greta Garbo auf ihren Wanderungen durch Manhattan. | |
## Stationen aus ihrem Leben | |
Etliche Orte und Gegenstände beziehen sich auf Stationen in Schalanskys | |
Biografie, so etwa die erste Erzählung, benannt nach der bei einem Seebeben | |
versunkenen Insel Tuanaki, die ein Nebenprodukt ihrer Recherchen zu ihrem | |
„Atlas der verlorenen Inseln“ (2009) scheint, das fast ein wenig | |
prätentiöse nature writing – Schalansky verantwortet seit einigen Jahren | |
die „Naturkunden“-Reihe bei Matthes & Seitz – anlässlich mehrerer | |
Wanderungen am einstigen „Hafen von Greifswald“ (das gleichnamige Gemälde | |
von Caspar David Friedrich fiel einem Brand zum Opfer), oder das Stück | |
„Palast der Republik“, hinter dessen präzisen Schilderungen des DDR-Alltags | |
die zerbrechende Beziehung eines Paares umso schmerzlicher hervortritt. | |
Fast nie trifft die Leserin auf die von Abbildung und Kapitelüberschrift | |
angekündigten Verluste. Zwar werden sie kurz kursiv eingeführt mit | |
Geburtssternchen und Todeskreuz. Doch dann schweift die Erzählung in ganz | |
andere Räume und Zeiten, wird der scheinbar starre Grundriss der | |
Bucharchitektur nonchalant unterlaufen und überschritten, bis zu den alles | |
zu feinem Staub zermahlenden Seen des Mondes. Guerickes Einhorn, sonst im | |
Magdeburger Museum beheimatet, begegnet Schalansky bei Mystikrecherchen in | |
den Walliser Alpen höchst beiläufig wieder – als Tattoo auf dem Arm einer | |
Kassiererin. Der innere Monolog der Garbo entwickelt sich angestoßen vom | |
„Knaben in Blau“, einem Gemälde, das in Friedrich Murnaus verschollenem | |
Filmerstling „Der Todessmaragd“ auftaucht. Und das bei Kriegsende zerstörte | |
„Schloss der von Behr“ entzündet die am weitesten zurückreichenden | |
Kindheitserinnerungen, die Schalansky überhaupt hat. | |
Für jede Geschichte findet Schalansky einen eigenen Ton. Jedes Zimmer, | |
könnte man sagen, ist in einem anderen Stil eingerichtet: mal | |
historisierend, bildungsprunkend, mit ornamentaler Grammatik, dann wieder | |
spartanisch, sachlich, schlicht. Es ist kein Gebäude aus einem Guss, durch | |
das Judith Schalansky uns führt, doch hinter jeder Tür dieser | |
faszinierenden Villa öffnet sich eine neue Wunderkammer, in der Tiger | |
kämpfen und Teenager Religionsschriften in der Wüste finden. | |
Auch ein Boudoir für die sinnliche Liebe hat darin Platz: Anhand von | |
Sapphos nur in Bruchstücken überlieferter Liebeslyrik entwickelt die | |
Baumeisterin ein poetisches Traktat über das Fragment, „das unendliche | |
Versprechen der Romantik, das noch immer wirkmächtige Ideal der Moderne“, | |
philosophiert über den Reiz von Leerstellen und Weißräumen und verknüpft | |
ihn so raffiniert wie kühn mit der von der antiken Dichterin besungenen | |
Liebe zu Frauen, indem sie die Buchstaben wie einen Körper zu erkunden und | |
lesen anhebt. | |
3 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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