| # taz.de -- „Die Töchter“ von Lucy Fricke: Der große deutsche Spottroman | |
| > Mit ihrem vierten Buch, dem Bestseller „Töchter“, hat Lucy Fricke ein | |
| > Gesamtwerk geschaffen, das jetzt zu einem fulminanten Abschluss gekommen | |
| > ist. | |
| Bild: Der Roman „Die Töchter“ voll ist von religiösen Metaphern und Motiv… | |
| Was für eine Geschichte, getrieben von Todessehnsucht und unbändigem | |
| Überlebenswillen: Zwei Frauen und ein alter Mann machen sich auf den Weg in | |
| die Schweiz. Der alte Mann ist der Vater von einer der beiden, er will | |
| sterben, selbstbestimmt sterben. Doch kurz vor dem Ziel verkündet der Alte, | |
| dass er weiterwill, nach Italien, an den Lago Maggiore, zu seiner ersten | |
| Liebe, um sich von ihr bis zum Tode pflegen zu lassen. | |
| Die Geschichte von Lucy Frickes neuem Roman, „Töchter“, nimmt an einem | |
| toten Punkt Fahrt auf, und zwar in einer irren Geschwindigkeit. Mit einem | |
| Mal tun sich Verwerfungen auf, die weit in die Geschichte der | |
| Protagonistinnen zurückreichen, schmerzhafte Erinnerungen und Erfahrungen | |
| berühren und neue Wunden aufreißen, damit sich die alten endlich schließen, | |
| und das ist charakteristisch für ihre Schreibweise: Immer wenn man denkt, | |
| es geht nicht mehr, geht es da erst richtig los und meist direkt in die | |
| Hölle hinein, in die Kindheitshölle, in die Gegenwartshölle und zurück. | |
| „Töchter“ ist Lucy Frickes erster Bestseller, er schaffte es auf Platz 13 | |
| der Spiegel-Bestsellerliste, aber sie ist in Kulturkreisen keine | |
| Unbekannte: Jahrelang arbeitete sie als Continuity beim Film, | |
| verantwortlich dafür, dass die Anschlüsse von Einstellung zu Einstellung | |
| stimmen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und organisiert seit | |
| 2010 das Literatur- und Musikfestival Ham-Lit in Hamburg. | |
| Ihr Debütroman, „Durst ist schlimmer als Heimweh“, 2007 erschienen, erzäh… | |
| die Geschichte eines jungen Mädchens, das von den Eltern missbraucht wird, | |
| sich in Alkohol und Affären flüchtet. Drei Jahre später veröffentlichte sie | |
| den Roman „Ich habe Freunde mitgebracht“, in dem sie episodisch vier | |
| Freunde porträtiert, zwei Männer, zwei Frauen, allesamt Künstlerexistenzen, | |
| scheiternde Existenzen: ein Schauspieler, ein Comiczeichner, eine | |
| Radiomoderatorin und eine, die beim Film als Continuity arbeitet. | |
| ## Zugrunde gehen an der Hoffnung | |
| Alle gehen an ihren Hoffnungen auf Erfolg, Liebe, Glück zugrunde, an den | |
| hohen Erwartungen an sich und andere, und erkennen viel zu spät, dass sie | |
| das, was sie suchen, untereinander längst gefunden haben: in Form von | |
| Zugehörigkeit, Vertrauen und Verständnis, in der allgemeinen Akzeptanz der | |
| Fehler, Schwächen, Schrullen. | |
| Ihr dritter Roman, „Takeshis Haut“ aus dem Jahr 2014, spielt in Berlin, | |
| Osaka und Kyoto, in Deutschland und Japan und ist die einzige | |
| deutschsprachige literarische Bearbeitung des Reaktorunfalls von Fukushima, | |
| eine sanfte, poetische Apokalypse. | |
| Mit dem vierten Buch ist jetzt ein Gesamtwerk entstanden, nicht nur | |
| aufgrund der reinen Quantität oder weil sie Figuren und Motive wieder | |
| aufnimmt, weiterspinnt, variiert, sondern weil sich Tendenzen abzeichnen, | |
| weil eine Ästhetik sichtbar wird, eine Sprachmelodie, ein | |
| Lucy-Fricke-Sound, der sich in ebenso lakonischen wie boshaften Sätzen | |
| ausdrückt: „Ich glaube, ich verliere die Bewusstlosigkeit.“ – „Es gab … | |
| einer Krise absolut nichts Besseres, als Freunde zu besuchen, denen es | |
| richtig mies ging.“ – „Die Möglichkeit eines neuen Lebens beginnt im Bett | |
| eines anderen.“ – „Man hört in einem Alter mit Drogen auf, wenn man sie … | |
| Nötigsten braucht.“ | |
| ## Leichter, wütender, kaputter | |
| Es wirkt, als handele es sich nicht um vier einzelne Romane, sondern um | |
| einen einzigen, dessen Veröffentlichung sich nur über einen langen Zeitraum | |
| und in vier Bänden vollzogen hat, eine Art aktuelle und vor allem weibliche | |
| Version von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, sprachlich einfacher, | |
| nicht ganz so komplex. Leichter, wütender, kaputter. | |
| Kein Gesellschaftspanorama, sondern eine Introspektion, eine Erforschung | |
| der eigenen Biografie mit allen Brüchen und Abgründen, mit all der Trauer | |
| und Tristesse, aber auch mit der Lust, dem Hohn und der Komik, die ein | |
| vierzigjähriges Großstadtleben so mit sich bringt. | |
| Dieses segmentierte Epos ist ein großer deutscher Spottroman, Spott über | |
| die Gesellschaft, die Familie, die Freunde, sich selbst. Der Spott ist | |
| nämlich nie gemein, nie hämisch, sondern stets mitfühlend, eine Art | |
| solidarischer Spott. Und es lohnt sich, alle ihre Romane jetzt noch einmal | |
| zu lesen. | |
| Judith Sita, die Protagonistin, aus „Durst ist schlimmer als Heimweh“, | |
| wächst in schwierigen Verhältnissen auf: Die schlechten Ersatzväter | |
| vergewaltigen Judith und halten ihr ein Messer an die Kehle, bis sie „Ich | |
| liebe dich“ sagt. Die Besseren zeigen ihr die Sterne, bevor sie in einen | |
| Zug steigen und für immer aus ihrem Leben verschwinden. „Das hatte ihre | |
| Mutter erzählt, er ist verreist, hatte sie gesagt, und seitdem war | |
| Verreisen Judiths großer Traum gewesen.“ | |
| ## Die Vergangenheit vergessen | |
| Aber sie verlässt Hamburg nicht, stattdessen streunt sie durch die Gegend, | |
| übernachtet in Parks, in Kneipen, auf der Straße. Wann immer sie kann, | |
| raucht und trinkt sie so viel wie möglich, um zur Ruhe zu kommen, um die | |
| Vergangenheit zu vergessen, aber wie viel sie auch raucht und trinkt, jeder | |
| Tag birgt neue vergessenswerte Erlebnisse. | |
| Die WG, in der sie schließlich landet, bietet Stabilität, und Bernd, ihr | |
| Betreuer, ist eine Vaterfigur, der sich tatsächlich um ihr Wohlergehen | |
| sorgt und ihr eine Ahnung von Freiheit vermittelt. Aber einer der Männer, | |
| der ihr Vater gewesen ist, stellt ihr nach, und sie sucht ihn auf, um sich | |
| an ihm zu rächen. Doch als sie ihn sieht, erkennt sie, dass das Leben ihn | |
| bereits gerichtet hat: „Der Schatten seines Oberkörpers war ein zitternder | |
| Strich, ihm fehlten die Konturen seiner Muskeln und Adern, die Stärke, die | |
| immer präsente Gewalt …“ | |
| Lucy Fricke schildert diese brutale Coming-of-Age-Geschichte als Akt der | |
| Selbstentfremdung und Selbstbehauptung, als eine Zerstörung und trotzige | |
| Wiederherstellung des Ichs. | |
| In ihrem zweiten Roman, „Ich habe Freunde mitgebracht“, ist Betty eine Art | |
| 35-jährige Wiedergängerin von Judith, die sich mit Affären, Zigaretten und | |
| Alkohol am Leben hält, bis sie erst ihre Matratze zerschneidet und dann am | |
| Filmset mit dem Drehbuch um sich schlägt. Martha, ihre beste Freundin, | |
| steht ihr, was den Hang zur Selbstzerstörung angeht, in nichts nach, möchte | |
| aber nichts sehnlicher, als endlich Mutter werden. | |
| ## „Flucht ist immer eine Option“ | |
| Als sie eine Fehlgeburt erleidet, ist auch sie am Nullpunkt angekommen, und | |
| den immer wiederkehrende Satz: „Ich muss hier mal raus“, setzen beide | |
| endlich in die Tat um: Mit dem Auto und zwei Freunden fahren sie aus Berlin | |
| raus, nach Norden, ans Meer, doch auch dort finden sie keine Ruhe, sondern | |
| rufen ein neues Motto aus: „Flucht ist immer eine Option.“ | |
| Wie eine Flucht wirkt Fridas Flug nach Japan in „Takeshis Haut“. Frida ist | |
| Geräuschemacherin beim Film und könnte dem Kosmos von „Ich habe Freunde | |
| mitgebracht“ entsprungen sein, weist aber auch Übereinstimmungen mit Judith | |
| aus „Durst ist schlimmer als Heimweh“ auf, wenn sie von ihrem Stiefvater | |
| erzählt, vom Messer an ihrem Hals und von ihrer Liebeslüge, um sich | |
| freizukaufen. | |
| In ihrer Beziehung zu einem Barkeeper hält sie es nicht mehr aus, auch sie | |
| hat das Gefühl, mal rauskommen zu müssen. Und als ihr ein Regisseur den | |
| Auftrag erteilt, in Kyoto Töne für seinen tonlosen Film einzuholen, nimmt | |
| sie das Angebot gerne an. „Die Ferne würde ihr guttun.“ In Japan lernt sie | |
| Takeshi und dessen Vater kennen, der immer wieder beteuert, dass „hier | |
| alles sicher“ sei, wie ein Mantra, doch dann hört sie Störgeräusche, | |
| Vorboten eines Bebens, einer Verwerfung, die bald das ganze Land | |
| erschüttern wird. | |
| Die Vorboten weisen an anderer Stelle aber, wenn man „Töchter“ kennt, schon | |
| über den Text hinaus, etwa als Takeshis Vater eine Reise zu seiner ersten | |
| Liebe unternimmt oder Frida die Wunden auf Takashis Haut liest wie | |
| Erzählungen. Denn Betty aus „Ich habe Freunde mitgebracht“ klagt in | |
| „Töchter“ über tätowierte Typen, dass sie einem lang und breit die eigen… | |
| Unterarme erklären, „seine gesammelte Vergangenheit“, und sehnt sich nach | |
| den Kurzgeschichten der Narbenmänner zurück. | |
| „Töchter“ ist die direkte Fortsetzung von „Ich habe Freunde mitgebracht�… | |
| Am Ende von Frickes zweitem Romans steigen die vier Freunde in einen alten | |
| Bus und streben mit Martha am Steuer und überhöhter Geschwindigkeit einer | |
| ungewissen Zukunft entgegen. Wohin sie auch wollen, sie kommen nicht an. | |
| Jedenfalls nicht unversehrt. Etwas Schreckliches muss passiert sein. | |
| ## Ein lädiertes Leben | |
| Das macht der vierte Roman von Anfang an deutlich. Das Personal ist das | |
| gleiche, aber nahezu halbiert, der Fokus verschoben. Betty spricht hier aus | |
| sich selbst heraus, zum ersten Mal wählt Lucy Fricke die Perspektive der | |
| ersten Person. Und das Ich, das hier spricht, ist zwar ein vom Leben | |
| lädiertes, aber dennoch erhabenes, über den Dingen stehendes. | |
| Jetzt geht es nicht mehr nur um Freunde und Karrieren, sondern vor allem um | |
| die Eltern, um die Abrechnung mit ihnen, um die Klärung letzter Fragen, um | |
| Einkehr und inneren Frieden. Martha und Betty, inzwischen um die vierzig | |
| und mitten in der Midlife-Crisis – die eine hat eine Schreibhemmung, die | |
| andere eine Fahr- und Gebärhemmung –, stützen sich auf dem Weg in den Süden | |
| gegenseitig mit trockenem Humor, flotten Sprüchen, Schultern, Umarmungen, | |
| Zigaretten und Alkohol. | |
| Flucht ist keine Option mehr, sondern allein die Wahrheit. Ein für alle Mal | |
| mit den Lügen und Geheimnissen aufräumen, Klarheit schaffen, Schuld | |
| abladen, das ist das Ziel. Die Reise in die Schweiz und dann weiter nach | |
| Italien und Griechenland kommt einem Exorzismus gleich, und es ist kein | |
| Wunder, dass dieser Roman voll ist von religiösen Metaphern und Motiven: | |
| angefangen beim Besuch im Pantheon in Rom, der Gedächtnisstätte antiker | |
| Götter, über unsterbliche und wieder auferstandene Väter, bis hin zu dem | |
| Wunsch nach Erlösung durch Austreibung der Geister, nach Verzeihung der | |
| Sünden. | |
| Martha und Betty sind negative Heilige. Ihre Irrfahrt ist eine Pilgerreise, | |
| aber nicht, um zu sich selbst zu finden, sondern um sich endlich von der | |
| eigenen Geschichte zu befreien. Ein Dokument der Selbstermächtigung. Eine | |
| Tetralogie der Gewalt, des Scheiterns, der Hoffnung, der Freiheit. | |
| 10 Mar 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Brandt | |
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