# taz.de -- Besuch im Berliner Szeneladen M99: Revolutionsbedarf im Exil | |
> Seit Juni hat M99-Betreiber Hans-Georg Lindenau seinen legendären Laden | |
> für Revolutionsbedarf in der Falckensteinstraße. Was hat sich verändert? | |
Bild: „Zwei Pfeffersprays, die für 5 Euro“: HG Lindenau in seinem neuen La… | |
Wer das erste Mal in Berlin ist und an der Kreuzberger Manteuffelstraße 99 | |
vorbeizieht, kann nicht ahnen, dass bis Mai 2017 dort ein legendärer | |
linksalternativer Szeneladen seine Räumlichkeiten hatte. Länger als 30 | |
Jahre betrieb Hans-Georg Lindenau (HG genannt) in diesem jetzt frisch | |
renovierten Lokal seinen „M99 – Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf�… | |
Mit speziellen Klamotten und Sturmmasken, Aufklebern und Aufnähern, linker | |
Literatur oder Pfefferspray versorgte der 58-Jährige mit seinem | |
Tante-Emma-Laden für RevolutionärInnen seit den Achtzigern | |
AntifaschistInnen aus aller Welt. Auch draußen herrschte früher mit einer | |
bunten Freebox und hängendem Sortiment der anarchische Charakter von HGs | |
Laden. Abgesehen von einer kaputten Bierflasche – wahrscheinlich von der | |
Partygesellschaft des Clubs oder des Burgerladens im gleichen Haus – sieht | |
es mittlerweile vor der Tür ordentlich aus. Die Fassade ist schwarz | |
gestrichen, keine Graffitis, keine Demo-Plakate. | |
## Das neue Domizil | |
Als wäre er immer da gewesen, sieht dagegen der „M99“ in seinem neuen | |
Domizil in der Falckensteinstraße 46 aus. Integriert in der neuen | |
Kiez-Landschaft mit Blick auf die Oberbaumbrücke und doch eigenartig | |
zwischen Kunstgalerien, Läden mit Designerkleidern, Tanzlokalen und | |
Touristen auf dem Weg zur East-Side Gallery. Allerdings: „F46 wird es nie | |
geben“, sagt der gebürtige Bayer. Er habe nur das M99-Prinzip dorthin | |
implantiert. | |
Aus der Manteuffelstraße 99 ging HG nach einem jahrelangen juristischen | |
Streit mit dem Eigentümer und der Hausverwaltung freiwillig raus. Seine für | |
September 2016 geplante Räumung konnte in letzter Minute dank heftigen | |
Protesten und wegen HGs zerbrechlicher psychischer Lage verhindert werden. | |
Einige Monate später schloss HG einen Mietvertrag für den Gewerberaum in | |
der Falckensteinstraße mit der Initiative „Stiftung Umverteilen“ ab. Im | |
Juni 2017 eröffnete er den neuen Laden. Dass er in Kreuzberg bleiben | |
konnte, sahen seine Anwälte als Erfolg gegen die Gentrifizierung. | |
„M99 Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf. HG seit 1978 im Exil Nummer | |
8“, taufte HG seinen Laden um. So steht es auch auf dem selbstgemalten | |
Schild vor der Tür, an der ein Rollstuhl das „H“ abbildet. | |
HG ist seit einem Sturz 1989 querschnittsgelähmt. Die Geschichte seines | |
Unfalls lässt er auf einer Leuchtreklame im Schaufenster in Schleife | |
laufen. Auf Englisch, damit auch Touristen sie verstehen können. „6 Wochen | |
Koma, 1 Jahr Krankenhaus“ habe er der Stadtpolizei zu verschulden. Dann: | |
„Sitting-Class Integration“, „Widerstand gegen Gentrifizierung“, | |
„Ladenbesucher sind die Arme und Beine für HGs Leben.“ | |
Das neue Laufpublikum nennt HG nicht „Touristen“, sondern „Travellers“ … | |
unterteile sie in „Traveller-Konsum der monarchistischen Art oder der | |
dialogfähigen Art. Und Traveller, die Globalisierungsgegner sind“, sagt er. | |
„Davon kommen viele zu mir, auch sie haben Revolutionsbedarf.“ | |
Von seiner ehemaligen Stammkundschaft würden noch nicht so viele | |
vorbeischauen, aber HG hat auch noch viel zu tun im Laden. „Noch 500 | |
Ikea-Kisten mit Ware sind verpackt“, sagt er. Insgesamt viele Artikel habe | |
er seinen UmzugshelferInnen geschenkt. | |
Obwohl es nach 20 Uhr ist, warten doch ein paar alte Bekannte HGs vor der | |
Tür, die nach ihm fragen. „Macht er wieder auf?“.„Open 10–12–14 bis … | |
Uhr“ steht gesprüht auf der neuen Fassade. Wann er da ist, hängt nicht nur | |
von seiner Laune ab, sondern von den vielen Terminen, die HG hat: | |
politische Arbeit etwa beim „Bündnis Zwangsräumung verhindern“, Arzt und | |
Krankengymnastik und neuerdings UnterstützerInnen besuchen, die durch seine | |
Räumungsverhinderung schwer beschädigt worden seien. „Mein Anwalt hatte | |
einen Herzinfarkt, einer Aktionsgefährtin wurde ein Fuß amputiert“, sagt | |
er. | |
„Zwei Pfeffersprays, die für 5 Euro“, möchte der wartende Kunde haben. Und | |
eine schwarze Mütze. „Aus Wolle oder aus Plastik?“, fragt HG und sagt ihm, | |
wo das jetzt alles ist. Selbstbedienung mit klaren Anweisungen, wie es bei | |
ihm Gewohnheit ist. Das Wechselgeld soll er auch selbst nehmen. „Alles | |
gut“, sagt der junge Mann. „Finde ich nicht, aber so verschieden sind die | |
Empfindungen“, erwidert HG und fängt an, die Probleme aufzuzählen, die er | |
mit dem M99 bisher hatte. „Du hast dir deinen Job ausgesucht“, sagt der | |
Kunde. „Genau“, gibt HG zu. | |
Die Bedingungen in der Falckensteinstraße beschreibt HG doch als | |
„traumhaft“. Die Räumlichkeiten seien rollstuhlgerechter, denn Laden, | |
Wohnung und Lager befinden sich im Erdgeschoss. „Ich kann hier alles | |
bestimmen, auch wann und wie mir jemand hilft“, sagt HG. „Ich habe hier | |
meine Freiheit als Zwitter zwischen zwei Beinen und Sitzklasse.“ Sein Bett | |
baute er über die Toilette, im Laden hat er zwei große Fenster und zwei | |
Türen, die er im Sommer offen hält. „An meiner Klaustrophobie muss ich auch | |
nicht mehr leiden.“ | |
Vor allem sei der Eigentümer sein Freund und unterstütze ihn seit 30 | |
Jahren. „Als er sah, dass es für mich in der Manteuffelstraße nicht mehr | |
klappte, hat er mich hierher geholt“, sagt HG. „Er ist kein Spekulant, | |
sondern er lebt so spartanisch wie ich selbst.“ | |
Im Laden ist es kalt, beim Erzählen sieht man HGs Atem. Er hat nur eine | |
Handheizung und einen seit 15 Jahren nicht gebrauchten Kachelofen. | |
Einerseits spare er Kosten, andererseits spartanisch zu wohnen, sei Teil | |
seiner Lebensphilosophie. „Die viertel Million, die ich in Waren habe, ist | |
nicht da, um meinen Wohlstand zu erhöhen“, sagt er. | |
HG überlebe weiterhin auf Spendenbasis. „Viele denken, dass ich arm bin, | |
weil ich arm aussehe und stecken mir Geld in die Hand.“ Dass er den Laden | |
nur als Infrastruktur nutze, sei nicht allen klar. „Kaum eine Woche hier, | |
wurde mir draußen 400 Euro an Parkas und Jacken abgezogen“, sagt er. HG | |
sagt, das seien „Existenzialisten“ gewesen, die sein Konzept nicht kennen | |
und im Gegensatz zu anderen denken würden, er sei reich. | |
Seinen „Wohlstand“ sichere er durch eine Privatrente, die ihm in 7 bis 8 | |
Jahren ausgezahlt werden soll „bis an mein Lebensende, scheinbar schon für | |
2039 vorbestimmt, da werde ich 80 und der neue Mietvertrag läuft aus“, sagt | |
er. | |
Bis dahin habe Hans-Georg Lindenau aber keine Zeit sich auszuruhen. | |
Unmittelbar besorgt ihn die Situation der besetzten Gerhart Hauptmann | |
Schule in der Ohlauer Straße, die am 11. Januar geräumt werden soll. „Es | |
wird kein großer Widerstand erwartet. Aber ich werde dazu aufrufen und mich | |
daran beteiligen, dass die Räumung verhindert werden kann“, sagt HG. | |
5 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
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