# taz.de -- Bahnrad-EM in Berlin: Strampeln auf Holz | |
> Bei der Meisterschaft wird Werbung für eine Sportart gemacht, bei der nur | |
> wenige Fans noch durchblicken. Ein Blick auf und hinter die Planken. | |
Bild: Mit 60 Kilometer pro Stunde über's Holz jagen | |
Die Bahn ist dann am markantesten, als noch nichts da ist außer ihr. Ein | |
paar Radler strampeln zum Aufwärmen übers Holz im Berliner Velodrom, und | |
als noch keine Musik da ist und kein Publikum, hört man nur das Geräusch | |
der neuen hölzernen Bahn. Wie ein summender Insektenschwarm beim | |
Viererteam, anschwellend, abschwellend. Kommt einer allein, hat es ein | |
bisschen was von einer Spielzeugeisenbahn, die auf Holzschienen fährt. | |
Wenn nicht gleich „Atemlos durch die Nacht“ liefe, ließe sich die | |
Bahnrad-EM mit geschlossenen Augen verfolgen. Dann Einlass, | |
Bahnrad-Europameisterschaft also. Radsportveranstaltung und | |
Randsportveranstaltung. Donnerstag, der erste Finaltag, offizielle | |
Zuschauerzahl 1.600, ein paar angereiste Polen mit Tröten und zwei | |
Engländer mit Fahnen, sonst deutsches Publikum. Es fühlt sich nicht nach EM | |
an. Aber die, die kommen, werden knappe acht Stunden stoisch auf ihren | |
Plätzen bleiben. Pause gibt es nur, wenn Pause ist. Der Rest ist Bahnrad. | |
„Hierher kommen nur die Hartgesottenen“, sagt Steffen Morgenstern. „Die, | |
die sich wirklich dafür interessieren.“ Morgenstern war selbst mal Sprinter | |
und gehört damit zum Kreis der Insider. „Der Großteil der Leute, die hier | |
auf der Tribüne sitzen, sind Familien, Hardcore-Fans und ehemalige | |
Sportler“, sagt er. Wer zum Bahnrad kommt, kennt sich aus. Und muss es wohl | |
auch. Ein riesiges Konglomerat von Disziplinen wird bei der EM gefahren: | |
Mannschaftsverfolgung, Teamsprint, Scratch, Ausscheidungsfahren, | |
Punktefahren, Einerverfolgung, Sprint, Omnium, Steher, Keirin, Madison. | |
Wer durchblicken will, muss es sich vorher durchlesen. Kurzzeitdisziplinen, | |
Ausdauerdisziplinen. Scratch zum Beispiel ist eine Ausdauerdisziplin, bei | |
der viele Fahrer gemeinsam starten und siegt, wer als Erster die Distanz | |
schafft. Beim Steherrennen fahren die Radler im Windschatten eines | |
Motorrads; beim Ausscheidungsfahren fliegt alle paar Runden der Letzte | |
raus. Bei Keirin, einer japanischen Kurzzeitdisziplin, fährt ein | |
Schrittmacher voraus und beschleunigt, um nach der Hälfte die Bahn zu | |
verlassen, sodass dann erst das eigentliche Rennen beginnt. | |
## Scharping wirbt für Radsport | |
Verstehen die Leute das noch? „Das Regelwerk wird immer schlimmer“, findet | |
jedenfalls Morgenstern. „Ich verstehe es, aber für die meisten ist es | |
unverständlich.“ Andere Randsportarten sind gefälliger: Beim Springreiten | |
gibt es nur drüber oder nicht drüber. Auch Bahnrad ist im Prinzip nicht | |
schwer zu kapieren: Wer der Schnellste ist, gewinnt. Aber die Feinheiten, | |
sagt Morgenstern, blieben für Kenner. Morgenstern zählt auf, wann man | |
welche Linie nicht überschreiten dürfe, die Steherlinie, den | |
Sprintkorridor. „Ich bin mir sicher, dass drei Viertel der Leute hier nicht | |
wissen, was die Linien bedeuten.“ | |
Ein paar Stunden vorher, im Presseraum des Berliner Velodroms, wirbt Rudolf | |
Scharping für den Radsport. Scharping ist seit 2005 Präsident des Bunds | |
Deutscher Radfahrer (BDR) und stellt gerade eine neue | |
Drei-Länder-Meisterschaft im Straßenrennen für die U23 vor. Er sagt Sätze | |
wie: „Das ist ein kleines Stückchen Europa.“ Und: „Wir versuchen, die | |
Attraktivität der Meisterschaft zu erhöhen.“ Hinter ihm flackert ein | |
grünlicher Werbefilm über den Austragungsort Unna. Straßenrennen lässt sich | |
leichter verkaufen als Bahnrad. Bahnrad, das ist so etwas wie der knorrige | |
Großonkel des Radsports: Ein bisschen aus der Zeit gefallen mit seinem | |
nüchternen Im-Kreis-fahren, monoton. Nicht für jedermann. Und mit dem | |
eigentümlichen Charme einer Veranstaltung, wo es nur um Sport geht. Nicht | |
um gefallene Helden und große Dramen wie bei der Tour de France, nicht um | |
Bierbuden und Wrestlingstars wie bei den Sechstagerennen. Die Frage ist: | |
Sollte es anders sein? | |
Der BDR erhofft sich aktuell Aufwind fürs Bahnradeln: 2018 findet der | |
Weltcup im Berliner Velodrom statt, 2020 die WM. „So viele hochkarätige | |
internationale Radsportereignisse hatten wir in so einem Zeitraum noch | |
nie“, sagte Scharping. Dabei ist Bahnrad in Deutschland sportlich | |
attraktiv: Die Deutschen fahren in fast allen Disziplinen um die Medaillen | |
mit, auch an diesem Abend wird es zweimal deutsches Silber geben. Namen | |
aber fehlen. Kristina Vogel ist die Einzige hier, die so etwas wie ein | |
deutschlandweiter Star ist. Leute wie sie sollen den Bahnradsport promoten. | |
Aber wo Weltmeisterinnen nach der Fahrt auf die Tribüne kommen und sich | |
unters Publikum setzen, ist der Begriff Star weit weg. | |
Die Hürde, die sei ja vor allem, dass sich die meisten Leute erst gar nicht | |
für Radsport interessieren würden, sagt Barry Lessentin. Er ist aus Hamburg | |
zur EM gefahren und kann nicht ganz verbergen, dass er von der | |
Zuschauerzahl enttäuscht ist. „Bahnrad ist ein bisschen speziell“, sagt er. | |
Und: „Ganz ehrlich, ich weiß auch noch nicht, ob ich alles verstehe.“ Auch | |
er ist selbst Hobbyradsportler. Für seinen Klub organisierte er ein kleines | |
Bahnradturnier. Lessentin ist für den Sport gekommen. Er erzählt, wie das | |
ist, mit 60 Stundenkilometer über die Bahn zu jagen. „Mich fasziniert die | |
Geschwindigkeit.“ Leute wie Lessentin kommen, weil sie einfach den Sport | |
lieben. Aber die romantische Idee von einem Sport, wo es nur um die | |
Schönheit und die Leistung geht, stimmt nicht ganz. Es geht trotzdem | |
irgendwie um Gesichter. Persönliche Gesichter. | |
Die größeren Cliquen mit Kindern, eigentlich fast alle, die um Lessentin | |
herumsitzen, das sind Familien der Radsportler. Sie tragen bedruckte | |
T-Shirts ihrer Star gewordenen Enkel oder Cousins. Die Mütter schreien | |
ekstatisch, wenn das eigene Kind vorbeirauscht, und sie begrüßen sich | |
untereinander, man kennt sich von vielen Reisen. Man ist hier fast unter | |
sich. Manche, wie Weltmeisterin und Olympiasiegerin Miriam Welte, haben | |
eine halbe Reisegruppe mitgebracht, Sie reisten regelmäßig mit, erzählt | |
ihre Oma stolz. Früher schaute sie höchstens die Tour de France, die | |
Enkelin brachte sie zum Bahnrad. Heute bedauert sie es, dass die Medien so | |
wenig Bahnrad zeigen würden. „Ich würde ihr so gern am Fernseher zugucken. | |
Das tut weh, wenn man es nicht verfolgen kann.“ Versteht sie, was da unten | |
läuft? „Wenn man lange dabei ist, versteht man es.“ | |
Mittlerweile ist die Oma auch Bahnradfan. Und sie wird ein paar schöne Tage | |
in Berlin haben: An diesem Abend holt Miriam Welte im Teamsprint Silber, am | |
nächsten Gold im 500-Meter-Zeitfahren. „Die Zeit ist megastark“, sagt Welte | |
danach, und ein paar andere Sätze, die man so sagt. Da ist Bahnrad dann | |
doch noch puristisch. Es geht um Zeit, ums Rad und die Grenzen der | |
Geschwindigkeit, um Lageenergie und Fliehkraft. Dann ist Leistung das | |
Spektakel. | |
22 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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