# taz.de -- Auswirkungen der Coronapandemie: Das wilde Herz der Kultur | |
> Wofür brauchen wir eigentlich Kultur? Als geistige Tankstelle, wie es | |
> manche Mächtige wollen, macht sie sich überflüssig. | |
Bild: Zur Zeit geschlossen: Konzertsäle und Clubs – für viele Kulturschaffe… | |
Zu den mittelfristig und langfristig Leidtragenden in der Pandemiekrise | |
gehören sicher jene Menschen, die man altmodisch „Kulturschaffende“ und | |
[1][im Neusprech Produzenten in der „Kreativwirtschaft“ nennen kann.] Die | |
einen sind heftig, die anderen lebenskatastrophal betroffen. Verlustlos | |
kommt wohl kaum jemand davon. | |
Die meisten hören nicht etwa auf zu arbeiten, sie können ihre Arbeit nur | |
nicht mehr im gewohnten Maße auf den Markt bringen, was vor allem für jene | |
gilt, die, wie man so sagt, „frei“ arbeiten. Theater, Galerien, Kinos, | |
Museen, Konzertsäle, Buchhandlungen, Clubs etc. sind mal geschlossen, mal | |
wieder halboffen, mal hybridisiert und mal einfach verschwunden. | |
Das ist das eine. Das andere aber ist ein unterschwelliger Konflikt: Wird | |
Kultur eigentlich gebraucht? Sind Buchhandlungen so wichtig wie | |
Getränkemärkte, Sportplätze wichtiger als Theater, und wie viele junge | |
bildende Künstler*innen sind so „systemrelevant“ wie eine Pflegekraft? | |
Nicht die Kultur, sondern ihre politische Ökonomie steht auf dem Spiel. | |
Vielleicht ist diese Krise Anlass, nachzudenken, was das eigentlich ist: | |
Kultur. | |
Die eine Definition umfasst mehr oder weniger alles, was zwischen Menschen | |
passieren kann, von Umgangsformen über Riten und Symbole bis zum Austausch | |
von Wissen und Ideen. „[2][Kultur ist der besondere Umgang mit der Welt, | |
der eine bestimmte Gemeinschaft auszeichnet“, sagt der Sozialanthropologe | |
Ernest Gellner.] | |
Deshalb bricht immer mal wieder ein „Kulturkampf“ in einer Gesellschaft | |
aus, wenn die eine Hälfte so (zum Beispiel ökologisch) und die andere | |
Hälfte so (zum Beispiel kapitalistisch) mit der Welt umgehen will. | |
## Ein prekärer Beruf – im doppelten Sinn | |
In einem engeren Sinn kann man Kultur aber auch als Produktion und | |
Widerspiegelung (etwa als Kritik) dieser Umgangsformen ansehen, also all | |
die Texte, Bilder, Inszenierungen, Kompositionen, Reenactments, | |
Installationen und Reflexionen, die eine besondere ästhetische Form | |
annehmen und von Menschen erzeugt werden, die sich ebendies als Beruf | |
ausgesucht haben: Kultur. | |
Das ist eine prekäre Situation, denn Kultur als Beruf ist erheblich von | |
Politik und Ökonomie abhängig. Kultur muss sich mit dem Geld und mit der | |
Macht arrangieren, sonst geht es ihren Produzent*innen schlecht. Aber | |
paradoxerweise verliert sie auch rasch an Wert, wenn sie sich nicht | |
unablässig von dieser Abhängigkeit befreien würde wollen. | |
Diese Kultur ist eine innere Wildnis, die beständig neu erobert, | |
domestiziert und kapitalisiert werden soll, nur um gleich darauf an anderen | |
Stellen wieder wild zu werden. Der Haken an dieser Beziehung: [3][Kultur, | |
die nichts anderes als „systemrelevant“ ist (die „geistigen Tankstellen�… | |
von denen unsere Kulturstaatsministerin sprach), ist nicht einmal für | |
Politik und Ökonomie von großem Wert.] | |
Ganz davon abgesehen, dass sie dann ungefähr so lustvoll ist wie eine | |
Dreiviertelstunde Gedichtaufsagen im Deutschunterricht. Schwarzromantisch | |
ausgedrückt: Kultur, die dazu getrimmt wird, ihr eigenes wildes Herz zu | |
brechen. | |
## Der große digitale Umbruch | |
Die Pandemiekrise macht nur sichtbarer und schneller, was ohnehin | |
stattfindet, nämlich eine große Umorganisation der Kultur. Mancherorts | |
sieht das aus wie ein veritables Verschwinden oder Vernichten. Viele alte | |
Kanäle, Medien und Institutionen werden abgebaut. [4][Man kann sich | |
wundern, mit welchem Feuereifer manche dabei das Werk der Selbstabschaffung | |
betreiben.] Das hatte in den Rundfunkanstalten, Zeitungen und Kinos schon | |
vorher begonnen, es wird auch nach der Krise weitergehen. | |
Denn der Plattform-, Streaming- und Onlinekapitalismus bedeutet viel mehr | |
als einen technisch-ästhetischen Medienwechsel. Er will an der Kultur | |
vollenden, was der Neoliberalismus mit allen anderen Lebensbereichen | |
geschafft hat: Privatisierung, Digitalisierung, Globalisierung. Und nicht | |
zuletzt: Willfährigkeit und Korruption. Nur: Mit Hosenscheißer*innen, | |
Karrierist*innen und Opportunist*innen macht man keine lebendige | |
Kultur. In der Kultur wird ausgehandelt, was sich eine Gesellschaft an | |
innerem Widerspruch gefallen lässt und wo es Energien der Veränderung gibt. | |
## Warum Kultur nicht untergeht | |
Vermutlich gibt es, seit es die Idee von „Kultur“ gibt, die Vorstellung, | |
sie würde zerstört werden. Aber es geht weniger um ein Verschwinden als um | |
eine Transformation. Dabei geht etliches verloren, einiges kommt hinzu, | |
manches muss sich dramatisch verändern, und irgendwas wird in all dem | |
Trubel gleich bleiben dürfen. | |
Es ist Quatsch, ständig vom großen kulturellen Untergang zu reden. Genauso | |
aber ist es auch Quatsch, sich die Verluste schönzureden und zu verdrängen, | |
dass es in jeder Transformation Verlierer und Gewinner gibt. Und auch | |
Verlierer, die klasse waren, und Gewinner, die scheiße sind. Zu glauben, | |
dass jede Transformation ein Fortschritt ist und jeder Fortschritt eine | |
Verbesserung, das ist auch bei der Kultur ein Trugschluss. | |
Dass der Plattform- und Onlinekapitalismus durch die Pandemie eine enorme | |
Bestätigung und Beschleunigung erfährt, das verändert nicht nur die | |
medialen Transportwege und die politisch-ökonomische Situation der | |
Produzent*innen in der Kultur. Das stellt auch den Grundkonsens der | |
demokratischen Gesellschaft infrage, der ohnehin im Zustand des rapiden | |
Abbaus begriffen scheint. | |
Freiheit? Die Wahl, entweder der Macht oder dem Geld in den Arsch zu | |
kriechen? Die Wahl, vor den Drohungen der Neofaschisten einzuknicken? Die | |
Wahl, von der Allianz aus neoliberalen Schnöseln und Rechtspopulisten | |
plattgemacht zu werden oder lieber gleich kulturellen Selbstmord zu begehen | |
wie die großen bürgerlichen Zeitungen, die Nachrichtenmagazine, die | |
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die ihre sinkenden Schiffe vom | |
Ballast der „Kultur“ befreien? | |
Es gibt eine Lektion der Pandemiekrise: Eine Kultur, die Würde, Freiheit | |
und Lust miteinander verbindet, hat weder in der Politik noch auf dem Markt | |
verlässliche Verbündete. Sie muss sich selbst helfen, um dorthin | |
zurückzukehren, wohin sie gehört: zu den Leuten. Nicht zum System. | |
1 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Branchenfokus/Wirtschaft/branchenf… | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest_Gellner | |
[3] https://www.br.de/nachrichten/kultur/monika-gruetters-deutscher-buchhandlun… | |
[4] /Debatte-um-Literaturkritik-im-Radio/!5750574 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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