# taz.de -- Ausstieg bei den Evangelikalen: Das Tor zurück zur Welt | |
> Frau Minze war über zwanzig Jahre lang Mitglied in einer evangelikalen | |
> Freikirche. Dank Twitter ist ihr der Ausstieg gelungen. | |
Bild: Die Aussteigerin Frau Minze | |
Die Coronapandemie war ein Segen. Dank ihr führt Frau Minze heute eine | |
glückliche Beziehung, statt in einer freudlosen Ehe festzusitzen. Dank ihr | |
redet sie mit Freund:innen über politische Themen, die sie bewegen, statt | |
über die Gnade Gottes. Frau Minze bereitet sich nicht mehr in einer | |
Bibelgruppe auf das Jenseits vor. Ausgerechnet in einer Pandemie lebt sie | |
zum ersten Mal einfach ihr Leben. | |
Frau Minze war über zwanzig Jahre Mitglied in einer Freikirche. In diesem | |
Text wird sie wie ihr Twitter-Profil heißen, ihren echten Namen möchte sie | |
zum Schutz ihrer Familie nicht veröffentlicht sehen. In ihrem früheren | |
Leben hatte Frau Minze kaum Kontakte außerhalb der Gemeinde; bis vor fünf | |
Jahren, als Twitter ihr Tor zur Welt wurde: „So habe ich schnell ganz viele | |
neue Weltbilder für mich kennengelernt.“ Neben der katholischen und der | |
evangelischen Kirche gibt es in Deutschland [1][eine Vielzahl christlicher | |
Freikirchen]. Viele von ihnen möchten ihren Glauben einfach anders leben | |
als die Landeskirchen. Andere propagieren ein dualistisches Weltbild, in | |
dem sie die Auserwählten Gottes sind und alles andere Satans Werk ist. | |
Frau Minzes Freikirche ist evangelikal geprägt und nennt sich Freie | |
evangelische Gemeinde. Das Wort „evangelikal“ meint heute ein bibeltreues | |
Christentum, das sich von liberalen Auslegungen der Religion abgrenzt. Laut | |
Theologe Martin Fritz, wissenschaftlicher Referent der Evangelischen | |
Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), spielt die persönliche | |
Bekehrung oder „Wiedergeburt“ eine maßgebliche Rolle bei Gemeinden wie der | |
von Frau Minze. Menschen, die in besonders konservativen Gemeinschaften | |
aufwachsen, sind oft von der Außenwelt isoliert. Inzwischen sprechen | |
Aussteiger:innen in den sozialen Medien darüber, wie sie ihren Glauben | |
Stück für Stück hinterfragt haben. Wie so eine Abkoppelung mithilfe des | |
Internets aussehen kann, zeigt der Fall von Frau Minze. | |
Im Jahr 2003, im Alter von 24 Jahren, ging Frau Minze auf Missionsreise. | |
Ein Jahr blieb sie in Südafrika, dann bereiste sie mit einer evangelikalen | |
Organisation namens „Operation Mobilisation“ über 30 Länder, von Istanbul | |
aus über das Mittelmeer, die Ostküste Afrikas herab. „Es war spannend, alle | |
zwei Wochen ein neues Land zu sehen – und gleichzeitig noch Gottes Werk zu | |
tun.“ | |
## „Mit fundamentalistischen Scheuklappen“ | |
Frau Minze wusste über die Geschichte der Missionierung Bescheid: | |
[2][Christliche Missionar:innen haben den Weg der Kolonialmächte | |
bereitet], vor allem in Afrika. Frau Minze war aber überzeugt, alle müssten | |
von Gottes Heilsplan erfahren. „Es tut mir im Nachhinein sehr leid, dass | |
ich mit fundamentalistischen Scheuklappen auf den Augen vielen Menschen ein | |
sehr eindimensionales Bild von Gott und Glauben vermittelt habe.“ | |
Laut Martin Fritz von der EZW zeichnet evangelikale Gemeinden vor allem | |
eines aus: der klare Missionsauftrag. Dazuzugehören bedeute ein intensives | |
Frömmigkeitsleben, das häufig viel Zeit und Einsatz fordert. Aus dem | |
Selbstverständnis, die Gemeinschaft der „wahren“ Gläubigen zu sein, leite | |
sich die Aufgabe ab, auch andere zu dem „richtigen“ Glauben zu bekehren. | |
„Mit der missionarischen Wendung nach außen geht eine innere Abwendung von | |
der Außenwelt einher.“ Wie viele Menschen sich genau in freikirchlichen | |
Gemeinden engagieren, ist laut Fritz nur schwer feststellbar. | |
## Sie müsse sich vom Freund trennen | |
Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen ist eine der beiden großen | |
freikirchlichen Zusammenschlüsse. Laut einer Statistik der evangelischen | |
Kirche liegt die Mitgliederzahl ihrer Gemeinden bei 297.000 Menschen: ein | |
Bruchteil der über 40 Millionen Menschen, die in Deutschland auf dem Papier | |
evangelisch oder katholisch sind. | |
Die SektenInfo Berlin ist eine staatliche Beratungsstelle, die Hilferufe | |
und Anfragen aus den verschiedensten Kontexten erhält: „Lebenshilfe“, | |
Verschwörungsideologien, Scientology. Aus dem letzten Jahresbericht der | |
Stelle geht hervor, dass aber die meisten Anfragen Bezug auf, unter | |
anderem, evangelikal geprägte Freikirchen nehmen. Bevor Frau Minze auf | |
Missionsreise ging, stellte die Gemeinde ihr eine Bedingung: Um wirklich | |
Mitglied sein zu dürfen, müsse sie sich von ihrem Freund trennen, weil er | |
kein Christ war. „In der Bibel steht, dass man sich nicht an jemanden | |
binden soll, der ungläubig ist“, sagt sie. | |
## „Unzüchtige“ Klamotten aussortiert | |
Zu dem Zeitpunkt war sie seit sieben Jahren in einer glücklichen | |
Partnerschaft. Der Pastor prophezeite ihr, dass Gott ihr einen Partner | |
schenken würde, der besser zu ihr und ihrem neu gewonnenen Glauben passen | |
würde. Nach Monaten gab sie nach: „Ich habe mich für Gott entschieden und | |
meinen Freund verlassen, obwohl ich ihn noch geliebt habe. Das war wirklich | |
schwer.“ | |
Martin Fritz kennt Ähnliches: Eine Gebetskreisleiterin bestimmte zum | |
Beispiel, wen eine junge Frau treffen durfte und wen nicht. Sie löschte | |
Fotos von ihrem Handy und sortierte „unzüchtige“ Klamotten aus. „Es kann… | |
einem großen Druck kommen, den Maßstäben dieser Gemeinde der Frommen zu | |
entsprechen, weil man sonst im Extremfall auch ausgeschlossen werden kann“, | |
sagt Fritz. Nach der Trennung blieb Frau Minze acht Jahre lang Single. Dann | |
lernte sie in der Gemeinde einen Mann kennen. In den Augen der Freikirche | |
die perfekte Beziehung: Er war gläubig, und sie warteten mit dem Sex bis | |
nach der Hochzeit: „Und dann haben wir in der Hochzeitsnacht festgestellt, | |
dass unsere sexuellen Vorlieben null miteinander harmonieren.“ | |
## Ehefrau und Mutter | |
Eine Trennung sei keine Option gewesen. Die Ehe zwischen Mann und Frau gilt | |
als heilig. Nur innerhalb dieses Bündnisses ist Sex erlaubt. Mädchen | |
lernen, dass sie ihren Körper verstecken müssen, um Männer nicht zu | |
schlechten Gedanken zu verleiten. „Ehefrau und Mutter sein – [3][das ist | |
deine Berufung als Frau]“, sagt Frau Minze. Sie gründete eine Familie, so, | |
wie es für sie vorgesehen war. „Ich war Mutter von zwei kleinen Kindern in | |
einer unglücklichen Ehe und habe gemerkt, dass ich depressiv werde.“ | |
Gott hatte seine Verheißung nicht wahr gemacht, dachte sie immer häufiger. | |
„Das hat mich über die Jahre immer weiter vom Glauben entfremdet. Bei den | |
Evangelikalen“, sagt Frau Minze rückblickend, „geht es immer wieder darum, | |
dass man seinem Herzen nicht trauen darf.“ Man lerne, permanent, die | |
eigenen Gedanken in Frage zu stellen, weil durch sie der Teufel versuchen | |
könnte, einen von Gott und seinen Plänen abzubringen. | |
## Fast nur bei anderen Christen | |
„Als Evangelikale verbringt man 90 Prozent seiner Zeit mit anderen | |
Christen“, sagt Frau Minze, „also mit Menschen, die genau dasselbe denken | |
wie man selbst.“ Auf einer Geburtstagsfeier lernte sie jemanden kennen, der | |
ihr von Twitter erzählte. Sie legte sich einen Account an. „Ich habe dann | |
immer mehr festgestellt, dass die Themen, die mir wichtig geworden sind, in | |
der Gemeinde keinen Platz hatten.“ Vor allem solche wie Umweltschutz: „Die | |
Bibel sagt: Gott wird einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daher | |
ist Klimaschutz nicht wichtig.“ | |
Dann kam Corona. Die Gottesdienste fanden nur noch per Zoom statt. Martin | |
Fritz kann sich vorstellen, dass Bindungswirkungen, die in geschlossenen | |
Gemeinden stattfinden, durch Corona ausgehebelt wurden. „Plötzlich merkt | |
man, dass das Leben ohne diese Gruppierung auch ganz okay ist oder | |
vielleicht sogar freier.“ Zeitgleich hörte Frau Minze einen Podcast, in dem | |
eine Frau von ihrem Ausstieg aus einer Freikirche erzählte. | |
## Dekonstruktion des Glaubens | |
„Ihre Geschichte war so sehr ähnlich wie meine, ich konnte es gar nicht | |
fassen, dass es noch andere gibt.“ Sie schrieb der Frau eine Nachricht auf | |
Instagram, woraufhin sie antwortete: Es gebe ein großes Netzwerk von | |
Menschen, die ihren Glauben „dekonstruieren“. „Dekonstruktion“ nennt ma… | |
Kreisen von Freikirchen-Aussteiger:innen die Aufarbeitung der eigenen | |
Glaubensmuster. Unter Hashtags wie #exevangelical, #deconstruction oder | |
#purityculture sprechen Menschen auf Social-Media-Kanälen über ihre | |
Erfahrungen in repressiven christlichen Gemeinden. In Deutschland gibt es | |
zum Beispiel das Netzwerk Freikirchen-Ausstieg. | |
Es analysiert übliche Motive mancher Kirchen, von Gewalt gegen | |
Minderjährige („Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“) bis zu | |
Schuldgefühlen beim Ausstieg („Habe ich Gott den Rücken gekehrt?“). Die | |
Online-Community hat Frau Minze auf ihrem Weg geholfen. Heute glaubt sie | |
nicht mehr an Gott, ihre „Dekonstruktion“ teilt sie auf Instagram. Aber sie | |
gibt auch Einblicke in ihr Familienleben. Von ihrem Mann hat sich Frau | |
Minze getrennt. Dennoch lebt sie mit ihm und den Kindern seit einem Jahr in | |
einer WG. Manchmal wollen Frau Minzes Kinder noch beten. Dann betet sie mit | |
ihnen. „Sie sind halt so geprägt. Und das ändert sich ja nicht von heute | |
auf morgen.“ | |
5 Aug 2021 | |
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Emeli Glaser | |
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