# taz.de -- Aus für die Gulag-Gedenkstätte Perm-36: Legalistische Piraterie | |
> Seit der staatlichen Übernahme bekam die wichtigste Gedenkstätte für die | |
> Gulag-Lager weder Strom noch Wasser. Es war ein Ende auf Raten. | |
Bild: Perm-36 war mehr als ein antibolschewistisches Mahnmal. Mit der jährlich… | |
MOSKAU taz | Ende Juli kam das endgültige Aus. Perm-36, Russlands einzige | |
authentische Gedenkstätte, die an das sowjetische Lagerwesen erinnert, | |
musste nach 20 Jahren die Tore schließen. Bis zuletzt hatten der private | |
Trägerverein und dessen Direktorin Tatjana Kursina noch gekämpft. Die | |
Schließung war von den lokalen Behörden der Stadt Perm im nördlichen Ural | |
jedoch von langer Hand vorbereitet worden. | |
Sie stellt ein Lehrstück dar, wie das System Putin Gesetz und Recht auf dem | |
Weg in eine formierte Gesellschaft instrumentalisiert. Perm-36 ist von den | |
Abertausenden „Besserungsanstalten“ des Stalin’schen Gulag-Systems als | |
Einzige fast intakt erhalten geblieben. Baufällige Gebäude ließ der 1994 | |
gegründete Verein noch in den 1990er Jahren wiederherrichten. Auch | |
ausländische Sponsoren beteiligten sich daran. Für die ehemaligen Häftlinge | |
und Menschenrechtler sollte das zum Verhängnis werden. | |
Denn Nichtregierungsorganisationen (NGO), die ausländische Unterstützung | |
erhalten, sind inzwischen genötigt, sich als „ausländische Agenten“ | |
registrieren zu lassen. Perm-36, das zum Netzwerk der | |
Menschenrechtsorganisation Memorial gehört, wollte dieser Demütigung | |
entgehen und griff vergangenes Jahr das Angebot der regionalen Regierung | |
auf, das Museum in staatliche Trägerschaft zu überführen. | |
Was dann folgte, war ein Akt unfreundlicher Übernahme oder legalistischer | |
Piraterie. Die Regionalregierung entließ acht von zehn Mitarbeitern, setzte | |
die Direktorin ab, strich die Führungen aus dem Museumsprogramm und zahlte | |
keine Rechnungen mehr. Strom und Wasser wurden abgestellt. Ende Juli | |
flatterte dem Verein die Aufforderung ins Haus, das Museum zu räumen. | |
## Antibolschewistisches Mahnmal | |
Perm-36 war mehr als ein antibolschewistisches Mahnmal. Mit der jährlichen | |
Sommerschule „Pilorama“ bot es auch ein zivilgesellschaftliches Forum, das | |
Kontroverse statt Mythenpflege förderte und sich der offiziell gemiedenen | |
Vergangenheitsbewältigung stellte. Unter dem Exgouverneur Oleg Tschirkunow | |
entwickelte sich die Millionenstadt im Norden zu einem intellektuellen und | |
künstlerischen avantgardistischen Experimentierfeld – von einem russischen | |
Bilbao war häufig die Rede. | |
Ganz anders als noch zu Zeiten Anton Tschechows, der vor hundert Jahren | |
seine „Drei Schwestern“ im gleichnamigen Drama in der verschlafenen | |
Garnisonsstadt Perm ansiedelte und sich nach Moskau verzehren ließ. Das | |
Perm der 2000er Jahre war selbstbewusst und frech, zu selbstständig für das | |
ästhetisch eher bäuerlich-proletarische Moskau. Mit Wladimir Putins | |
Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 setzte endgültig die ideologische | |
Gegenoffensive ein. Tschirkunow wurde gegen einen flammenden | |
Putin-Bewunderer ausgetauscht. | |
Die Kampagne gegen Perm-36 laufe seit mehr als einem Jahr und sei Teil des | |
Kampfes um die Geschichte in Russland, meint Arsenij Roginskij, | |
Memorial-Vorsitzender in Moskau. Jugendliche schrieben Briefe an den | |
Gouverneur und Putin, in denen sie die Museumsmacher antisowjetischer | |
Propaganda bezichtigen. „Sut wremeni“ (Wesen der Zeit) nennt sich die | |
Jugendgruppe aus dem rotbraunen Umfeld der Kommunistischen Partei. Ihr | |
Ziel: „Zurück in die UdSSR“. | |
1943 war das Arbeitslager unter Stalin gegründet worden, 1987 wurde es | |
geschlossen. Die vorwiegend politischen Dissidenten, die in den 1970er und | |
80er Jahre einsaßen, hielten das Lager für eine der unerbittlichsten | |
„Besserungsanstalten“ des Gulag-Systems. Zu den prominenteren Insassen | |
gehörte der Menschenrechtler Sergej Kowaljow, ein alter Mitstreiter des | |
Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow. | |
## Gefühl der Scham | |
Wer in Perm-36 landete, sei von einem Gefühl der Scham getrieben worden, | |
meint Kowaljow. Er gab im Untergrund die Samisdat-Zeitschrift „Chronik | |
aktueller Ereignisse“ heraus. Wer sich dem totalitären System widersetzte, | |
sei damals pauschal zum „Faschisten“ erklärt worden, sagt er. Leider müsse | |
man auch heute wieder Scham empfinden. Wieder ist Faschist, wer sich dem | |
Kreml nicht beugt, wie sich an der russischen Intervention in der Ukraine | |
zeigt. | |
Auch im Kampf um Perm-36 wird der Ukraine-Konflikt von Moskaus | |
Propagandaregisseuren ausgeschlachtet. Der TV-Sender NTW, ein besonders | |
willfähriges Sprachrohr des Kreml, strahlte Anfang Juni eine Dokumentation | |
zur Lagergeschichte aus. Der Titel „Die Fünfte Kolonne“ transportierte | |
schon die Botschaft: die Häftlinge waren Vaterlandsverräter, diese | |
Volksfeinde sind es, die heute noch die Deutungshoheit über die Geschichte | |
innehaben. | |
Igor Gladnew, Kultusminister in Perm, nahm in dem Beitrag kein Blatt vor | |
den Mund: „Am Ende schreiben die uns noch vor, wie wir Geschichte, Personen | |
und Ereignisse bewerten sollen, die mit unserem nationalen Charakter | |
zusammenhängen.“ Die Aktivisten entwickelten einen solchen Eifer, dass man | |
sich fragen müsse: Warum? Wem nütze das? | |
Verherrlichung von Faschisten wird den Ausstellungsmachern unterstellt. | |
Denn neben den mehrheitlich politischen Häftlingen saßen auch | |
Unabhängigkeitskämpfer aus dem Baltikum und ukrainische Nationalisten | |
zeitweilig im Lager. Deren Nachfahren seien in der Ostukraine gerade damit | |
befasst, einen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung zu verüben. | |
## „Akzentverschiebungen“ | |
„Wenn wir Krieg führen, können wir im Hinterland keine Fünfte Kolonne | |
dulden“, rechtfertigte der Vorsitzende von „Sut wremeni“, Pawel Gurjanow, | |
das Vorgehen der Behörden, das auch in den sozialen Netzen auf Zustimmung | |
stößt: Sei es nicht sicherer, die ukrainischen Nationalisten in Lager zu | |
stecken, als sie zu rehabilitieren und über den Maidan spazieren zu | |
lassen?, fragt ein Blogger. | |
Seit dem Zusammenbruch des totalitären Systems in Russland ist inzwischen | |
ein Vierteljahrhundert vergangen. „Das Museum wird nicht geschlossen“, | |
meint die geschasste Direktorin Tatjana Kursina, „die Stoßrichtung wird | |
sich aber ändern.“ Minister Gladnew sprach schon von | |
„Akzentverschiebungen“, und auch der Veteranenverband der Aufseher bot | |
Hilfe bei der Gestaltung einer neuen Ausstellung an. Jetzt ist die Stunde | |
der Revanche angebrochen, Wächter und Henker kehren zurück. Sie leugnen | |
Unrechtssystem und Staatsterror, darin vergleichbar den Propagandisten der | |
Auschwitzlüge. | |
Die nachwachsende Generation hätte keine Kenntnis der eigenen Geschichte, | |
meint der Dissident und ehemalige Lagerinsasse Wladimir Bukowski. Daher sei | |
die Jugend für Illusionen und imperiale Anfälle so empfänglich. Geschichte | |
wird in Russland nicht mehr nur geschönt, sie wird einfach neu erfunden. | |
18 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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