# taz.de -- Aus der Le Monde diplomatique: Ein mörderischer Landstrich | |
> Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez wird von Drogen, Armut und | |
> Gewalt beherrscht. Die Politik ist gescheitert. | |
Bild: Die Armee ist in Ciudad Jurarez präsent, doch die Situation wird nur imm… | |
Im Jahr 1942 brachten die Vereinigten Staaten und Mexiko das sogenannte | |
bracero-Programm auf den Weg, das es mexikanischen Saisonarbeitern | |
ermöglichte, auf Farmen in den USA zu arbeiten. Hunderttausende Campesinos, | |
die daraufhin für einen Teil des Jahres in die USA strömten, beendeten den | |
Mangel an billigen Arbeitskräften nördlich des Río Bravo und kehrten | |
praktisch die Massenausweisung mexikanischer Farmarbeiter um, die während | |
der Wirtschaftskrise in den 1930ern stattgefunden hatte. 1964 lief das | |
Programm zur Anwerbung aus, auch weil die amerikanischen Erntearbeiter | |
gegen die mexikanische Billiglohnkonkurrenz protestiert hatten. Damit sahen | |
sich die Mexikaner auf einmal von ihren Jobs im Norden abgeschnitten. | |
Als Reaktion auf die in der Folge steigende Arbeitslosigkeit in Mexiko | |
legte die mexikanische Regierung ein Industrialisierungsprogramm für die | |
Grenzregion auf. Sie orientierte sich dabei an Vorbildern wie Hongkong und | |
Taiwan, die Freihandelszonen eingerichtet hatten, Wirtschaftsenklaven, in | |
denen ausländische Unternehmen Fabriken bauen und einheimische | |
Arbeitskräfte anheuern konnten, beispielsweise für die Endmontage von | |
Fernsehgeräten. Das maquiladora-Programm – abgeleitet von der Mühle | |
(maquila), deren Betreiber Anspruch auf einen Anteil vom gewonnenen Mehl | |
hat – bot den US-Unternehmern billige Arbeitskräfte, Steuererleichterungen | |
und einen Produktionsstandort, den nur wenige Schritte und nicht ein Ozean | |
vom heimischen Markt trennten. | |
US-Unternehmen packten die Gelegenheit beim Schopf und eröffneten zwischen | |
1970 und 1990 zahlreiche Fabriken entlang der Grenze. Ihre Zahl stieg von | |
zwölf Firmen mit 3 000 Beschäftigten im Jahr 1965 auf 1 929 Firmen mit 460 | |
258 Beschäftigten im Jahr 1990. Ciudad Juárez führte das Feld an und sog | |
die verarmte Landbevölkerung wie ein Schwamm auf. Zwischen 1950 und 1990 | |
stieg die Bevölkerungszahl von 122 600 Einwohner auf 800 000. | |
Die Maquiladoras wuchsen noch einmal kräftig nach Abschluss des | |
Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) und der Abwertung des Pesos | |
um mehr als die Hälfte im Jahr 1994. Die daraufhin in Mexiko einsetzende | |
Inflation, die von 1994 bis 1995 von 7 auf 52 Prozent stieg, verbilligte | |
für die US-Firmen, die Peso mit Dollar kaufen konnten, die mexikanischen | |
Gehälter um beinahe 30 Prozent. So erklärt sich, dass zwischen 1995 und | |
2001 die Beschäftigtenzahl der Maquiladoras jährlich um 11 Prozent stieg, | |
während die mexikanische Wirtschaft im gleichen Zeitraum insgesamt | |
schrumpfte. In Ciudad Juárez verdoppelte sich die Zahl der Arbeiter und | |
Arbeiterinnen in den Maquiladoras von 1994 bis 2 000 beinahe, von 140 045 | |
auf 262 805. Und die Bevölkerung der Stadt explodierte zur Jahrtausendwende | |
auf über 1,2 Millionen. | |
Die Profite dieses Wachstums flossen hauptsächlich Richtung Norden ab. Die | |
Arbeiter in diesen Betrieben waren zwar in mancher Hinsicht besser dran als | |
zuvor auf dem Land, doch der starke Druck auf die Löhne, den die heimische | |
sowie die zunehmende internationale Konkurrenz erzeugten, ließ sie nicht | |
aus der Armut entkommen. Die Lebensbedingungen in den wuchernden Slums vor | |
den Fabriktoren waren erbärmlich. Manche Hütten waren aus Paletten | |
zusammengezimmert. Von fließendem Wasser, funktionierenden Sanitäranlagen, | |
ordentlichen Straßen oder Strom konnten viele nur träumen. Schulen, | |
Krankenhäuser, öffentlicher Nahverkehr, und was es sonst noch an | |
staatlichen Einrichtungen gibt, waren Mangelware. In vielerlei Hinsicht war | |
Ciudad Juárez, seinem Namen zum Trotz, keine Stadt, sondern eher ein | |
Barackenlager für die Heerscharen der Arbeiter und Arbeiterinnen in den | |
privatwirtschaftlichen Enklaven. | |
## Gewalt gegen Frauen | |
Insbesondere für die Frauen war der soziale Stress sehr hoch. Die | |
Montagebetriebe, die ursprünglich das Arbeitslosenproblem der Männer lösen | |
sollten, stellten verstärkt ledige junge Frauen ein, die billiger waren und | |
als anpassungsfähiger galten. Das kam den Bedürfnissen der armen | |
Landbevölkerung entgegen, da die Haushalte, die wegen der Krise des | |
Agrarsektors mehr Mitverdiener brauchten, die Mädchen in die Industrie | |
schicken konnten, wo sie bald die Mehrheit stellten. Doch die Arbeit und | |
die Arbeitsbedingungen in den Maquiladoras waren hart, die Löhne karg. Die | |
Mexikanerinnen verdienten nur etwa ein Sechstel dessen, was Frauen jenseits | |
des Río Bravo bekamen. Zudem wurden die Frauen von den großenteils weiter | |
arbeitslosen Männern angefeindet – nicht nur weil sie einen Job hatten, | |
sondern auch weil die unabhängigen, mobilen werktätigen Frauen die | |
patriarchalische Gesellschaftsordnung infrage stellten. | |
Als 1994 infolge der Peso-Krise die Armut sprunghaft zunahm, während | |
gleichzeitig die Maquiladoras fast nur weibliche Arbeiterinnen einstellten, | |
kam es zu einer Welle der Gewalt gegen Frauen in der Stadt, von der | |
überwiegend weibliche Beschäftigte der Montagebetriebe betroffen waren. Die | |
Zahl der Vergewaltigungen, Folterungen und brutalen Tötungsdelikte | |
(Strangulation, Messerstiche, Verstümmelungen) stieg. Die Polizei ließ die | |
Morde geschehen und mordete manchmal auch selbst. Und die dunklen Straßen | |
trugen erheblich zur Unsicherheit der Frauen bei. Zwischen 1993 und 2003 | |
wurden mehr als 340 Frauen getötet. Die „Frauenmorde von Juárez“ waren ein | |
internationales Thema. Sicher spielten bei einigen dieser Verbrechen | |
besondere Umstände oder persönliche Motive eine Rolle, aber es kann kein | |
Zweifel bestehen, dass es sich nicht bloß um eine Anhäufung individueller | |
Taten handelte. Was hier geschah, war tief in der sozialen Ökologie der | |
Stadt verwurzelt. | |
Die 1990er Jahre waren auch das große Jahrzehnt von Amado Carrillo Fuentes | |
alias „El Señor de los Cielos“ (Herr der Himmel), der 1993 die Herrschaft | |
des Juárez-Kartells übernommen hatte. Seit 1995 setzte er mit seiner | |
Flugzeugflotte, die kolumbianisches Kokain nach Juárez brachte, über 12 | |
Milliarden Dollar pro Jahr um. Der Strom der Drogen Richtung Norden floss | |
parallel zu der Flut legaler Waren, die dank Nafta stetig anschwoll. Mit | |
den Profiten wurde die Armee von Schmugglern bezahlt, die Tonnen von in der | |
Stadt lagernden Drogen bewegten. Bis zu seinem Sturz 1997 sorgte El Señor | |
de los Cielos einigermaßen für Ordnung in seinem Reich. Morde gehörten | |
natürlich auch hier zum Geschäft, schließlich konnte man Streitigkeiten | |
nicht vor Gericht austragen, aber es waren bloß 200 bis 300 pro Jahr. | |
Als das 21. Jahrhundert heraufzog, nahm der Druck weiter zu. Die noch | |
niedrigeren Löhne in chinesischen Montagebetrieben verlockten manche | |
Unternehmen, ihre Produktion nach Asien zu verlagern. Und im März 2000 | |
platzte in den USA die Dotcom-Blase, das Land rutschte in die Rezession. | |
Die mexikanische Wirtschaft folgte ihr im Sturzflug: Schon immer | |
empfindlich gegenüber den Finanzturbulenzen Amerikas, war sie nun, | |
angekettet durch Nafta, verwundbarer denn je. Nirgends waren die Folgen so | |
verheerend wie im Grenzgebiet. Zwischen 2000 und 2002 schmolz die | |
Beschäftigtenzahl der Maquiladoras regelrecht zusammen, 529 | |
Fabrikationsstätten schlossen, mit ihnen gingen 49 000 von 262 000 | |
Arbeitsplätzen verloren. | |
## Die Macht der Kartelle | |
Die Rezession war von kurzer Dauer, schon bald ging die Achterbahnfahrt der | |
Wirtschaft wieder nach oben, es wurden neue Leute angeheuert, die Stadt | |
wuchs weiter. 2005 zählte sie 1,46 Millionen Einwohner. Neben dem rasanten | |
Bevölkerungswachstum gab es in der unterentwickelten Stadt aber noch andere | |
Probleme. Dem Tod von El Señor de los Cielos im Jahr 1997 folgte die | |
übliche Krise um die Nachfolge. Im Jahr 2000 schien sich sein Bruder | |
Vicente Carrillo Fuentes als neuer Mann an der Spitze durchgesetzt zu | |
haben. Vicente präsentierte sich als „El Viceroy“ (Vizekönig) und festigte | |
seine Position durch einen Anschluss an das Sinaloa-Kartell von Joaquín „El | |
Chapo“ Guzmán. | |
Am 11. September 2004 wurde Rodolfo Carrillo Fuentes, ein weiterer Bruder, | |
von Killern getötet, die allem Anschein nach im Sold von El Chapo standen. | |
Drei Monate später fiel Arturo Guzmán Loera, der Bruder von El Chapo, einem | |
Racheakt zum Opfer. Damit bröckelte die Allianz weiter. Die internen | |
Querelen des Juárez-Kartells vertieften sich und erschütterten die ohnehin | |
schwache Position von El Viceroy. | |
Als das Bündnis zwischen dem Sinaloa- und dem Juárez-Kartell im Jahr 2007 | |
endgültig zerbrach, entspann sich ein gnadenloser Kampf. Die | |
Gewaltausbrüche im Januar und Februar 2008 sorgten für einen neuen Rekord: | |
100 Tote in 60 Tagen. Im April schickte Präsident Felipe Calderón in der | |
„Operation Chihuahua“ tausende Soldaten und Bundespolizisten in die Stadt. | |
Damit goss er Öl ins Feuer: Ende 2008 zählte man bereits 1 600 Tote. | |
Im selben Jahr brach noch mehr Unglück über die Stadt herein. Am 15. | |
September meldete Lehman Brothers Insolvenz an, und die dadurch ausgelöste | |
ökonomische Talfahrt der USA stürzte die mexikanische Wirtschaft in ihre | |
schwerste Krise seit 20 Jahren. Der ausländische Kapitalfluss kam zum | |
Erliegen, was katastrophale Auswirkungen auf die Maquiladoras hatte. Am | |
härtesten traf es Ciudad Juárez, die Stadt mit den meisten für den Export | |
produzierenden Montagebetrieben. 50 000 Arbeitsplätze wurden vernichtet, im | |
Dezember 2009 zählte man nur noch 168 011 Beschäftigte, ein Rückgang um 22 | |
Prozent. Tijuana verlor 21 Prozent seiner Arbeitsplätze. Doch auch die | |
Mexikaner, die in den USA arbeiteten, traf die Krise hart, sie überwiesen | |
weniger Geld in ihre Heimat. Dieser für Mexiko wichtige Einkommenszufluss | |
ging 2009 um 16 Prozent zurück. Landesweit rutschten zwischen 2006 und 2009 | |
10 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze. | |
## Ein Mord für 85 Dollar | |
Zum Teil wurde der Niedergang durch ein Wachstum des informellen Sektors | |
ausgeglichen, in dem zwischen 2008 und 2009 fast eine Million Jobs | |
entstanden. Denn ein großer Wirtschaftszweig hatte der Krise widerstanden: | |
die Kartelle. Sie boten vielfältige Möglichkeiten vom Drogenkurier bis zum | |
Killer, verlockende Aussichten vor allem für die Jugendlichen, die auf der | |
Straße standen. Einer Studie zufolge gab es allein in Ciudad Juárez 120 000 | |
junge Leute zwischen 13 und 24 Jahren – 45 Prozent aller Jugendlichen der | |
Stadt –, die weder eine Ausbildung machten noch einer geregelten Arbeit | |
nachgingen. | |
Stattdessen liefen viele mit Maschinenpistolen herum, die ihnen ein Kartell | |
in die Hand gedrückt hatte. Die milchgesichtigen sicarios, die eben noch | |
die Schulbank gedrückt hatten, waren bereit, für ein wenig Bargeld zu | |
töten. (Der Preis für einen Mord betrug in Juárez damals 85 Dollar, womit | |
man eine Woche lang Bier und Tacos bezahlen konnte.) Tausende aus den | |
wuchernden Slums der Stadt wurden in diesen Krieg hineingezogen. Wer nicht | |
direkt vom Juárez- oder Sinaloa-Kartell angeheuert wurde, schloss sich | |
einer der ihnen unterstellten Straßenbanden an. | |
Der Erzbischof von Mexiko-Stadt, zugleich Primas von Mexiko, erklärte im | |
katholischen Wochenblatt Desde la Fe, die Finanzkrise in den USA habe das | |
„Scheitern“ des ungezügelten, spekulativen Kapitalismus gezeigt, und | |
forderte die Rückkehr zu einer sozial verantwortlichen Wirtschaft. | |
Präsident Calderón reagierte mit einem rasch zusammengeschusterten | |
Notprogramm, das die jahrzehntelange Vernachlässigung des sozialen Gefüges | |
von Juárez nicht wettmachen konnte. Es half etwa so viel, wie wenn man | |
jemandem, der gerade einen Bauchschuss abbekommen hat, ein Pflaster auf den | |
Arm klebt. | |
Doch der Präsident verkaufte sein großsprecherisch „Todos somos Juárez“ | |
(Wir alle sind Juárez) genanntes Programm als ein Maßnahmenbündel, das „die | |
Ursachen von Gewalt und Verbrechen“ bekämpfen sollte. Dazu gehörten: mehr | |
Unterrichtsstunden an 71 Schulen der Stadt; eine Kampagne zur Drogen- und | |
Gewaltprävention namens „Sichere Schulen“; zinsgünstige Darlehen für 1 3… | |
kleine und mittlere Unternehmen; die Sanierung von 19 öffentlichen Plätzen, | |
Sportanlagen, Parks und Gemeindezentren in Armenvierteln; der erleichterte | |
Zugang zum kostenlosen staatlichen Gesundheitsprogramm und die Verdoppelung | |
der Haushalte (auf 21 808), die vom staatlichen Armutsbekämpfungsprogramm | |
für einkommensschwache Familien profitierten. Wie wenig all diese an sich | |
sinnvollen Maßnahmen halfen, zeigte sich, als wenig später auf einem der | |
neu angelegten Fußballplätze 7 Menschen ermordet wurden. | |
## Goldgrube Drogenhandel | |
Für Zuversicht bei den Investoren sorgte ausgerechnet die Tatsache, dass | |
die Profite aus dem Drogengeschäft so reichlich flossen wie eh und je. | |
Analysten wunderten sich, wie gut die mexikanischen Banken dastanden, | |
obwohl es mit der Wirtschaft bergab ging. 30 Milliarden schmutzige Dollar, | |
die in den Safes der mexikanischen Banken gewaschen wurden, waren, so der | |
damalige Chef des UN-Büros für Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung Antonio | |
Maria Costa, „das einzige flüssige Investitionskapital“, das den am Rande | |
des Zusammenbruchs stehenden Geldinstituten zur Verfügung stand. Der | |
mexikanische Finanzminister äußerte sich etwas vorsichtiger über die Größe | |
dieser Goldgrube, als er am 15. Juni 2010 auf einer Pressekonferenz | |
erklärte, die 41 mexikanischen Banken verfügten über „10 Milliarden Dollar, | |
deren Herkunft nicht im Rahmen der normalen Wirtschaftstätigkeit unseres | |
Landes erklärt werden kann“. | |
Im Oktober 2012 brachte Calderón ein wenig ambitioniertes Geldwäschegesetz | |
durchs Parlament, das die Regeln für Banken, Spielkasinos und | |
Kreditkartenunternehmen geringfügig verschärfte. Hinzu kamen Beschränkungen | |
für Bargeldtransaktionen bei gewissen Immobiliengeschäften sowie beim | |
Handel mit Fahrzeugen, Edelmetallen, Uhren, Edelsteinen und Kunstwerken. In | |
Anbetracht der Tatsache, dass 2010 lediglich 2 Prozent der wegen Geldwäsche | |
eingeleiteten Strafverfahren zu einer Verurteilung geführt hatten, rechnete | |
jedoch niemand mit einer wirksamen Durchsetzung dieser Maßnahmen. | |
Statt die finanziellen und systembedingten Krisen anzugehen, verstärkte | |
Calderón schließlich den Militäreinsatz. In Ciudad Juárez wurden etwa 800 | |
Polizisten entlassen und durch Soldaten und Bundespolizei ersetzt. Bis März | |
2009 kamen 4 500 Zusatzkräfte, im August waren es schon mehr als 7 500, | |
weitere Aufstockungen erfolgten im Jahr 2010. | |
Dabei genoss Calderón die volle Unterstützung der USA. Als die Zahl der | |
Todesopfer in Mexiko drastisch anstieg, bat er die USA um Kampfdrohnen, | |
deren Wirkung im Irak und in Afghanistan ihn beeindruckte. Aus Angst vor | |
Kollateralschäden lehnte das Weiße Haus ab. Als dann im Juli 2009 ein | |
US-amerikanischer Grenzschützer erschossen wurde, sagte die US-Regierung | |
Predator-Drohnen zu, allerdings nur für Überwachungseinsätze. Sie wurden | |
von Piloten in den USA gesteuert, während mexikanische Militärkommandeure | |
oder Bundespolizisten die Einsatzorte südlich des Río Bravo vorgaben. | |
## Korruptes Militär | |
Obama genehmigte später auch die Ausbildung mexikanischer Einheiten durch | |
die US-Antidrogenbehörde DEA und die CIA. Mit Hilfe von Lügendetektoren, | |
Drogentests und Sicherheitsüberprüfungen wurde versucht, vertrauenswürdige | |
mexikanische Einheiten zusammenzustellen. Allerdings wurden diese | |
Anstrengungen regelmäßig durch eingeschleuste Kartellmitglieder | |
unterlaufen. | |
2010 verstärkten sich die Befürchtungen in den USA. Im September reiste | |
Außenministerin Hillary Clinton nach Mexiko und erklärte, die Kartellkriege | |
könnten „sich in einen Aufstand verwandeln“. Im Februar 2011 äußerte das | |
Pentagon die Sorge, es könne zu „einem Umsturz in einem direkt benachbarten | |
Land“ kommen, eine Entwicklung, die möglicherweise dazu führe, dass | |
Amerikas „bewaffnete Soldaten unmittelbar an oder jenseits unserer Grenze | |
einen Aufstand bekämpfen“ müssten. Diese Andeutung einer möglichen | |
Militärintervention der USA, die Erinnerungen an die mexikanische | |
Expedition des Generals John J. Pershing im Jahr 1916 sowie den | |
mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1846 weckte, löste einen Sturm der | |
Entrüstung aus, woraufhin die US-amerikanische Seite sofort abwiegelte. | |
Im März 2011 flog Calderón nach Washington. Obama lobte ihn für seinen | |
„außerordentlich mutigen“ Kampf gegen die Drogenkartelle und erklärte, die | |
USA stünden Calderón im Drogenkrieg als „zuverlässiger Partner“ zur Seit… | |
Zur Unterstützung mexikanischer Operationen in Ciudad Juárez veranstalteten | |
die US-Behörden Brainstormings im texanischen Fort Bliss und entsandten | |
Verbindungsoffiziere ins Hauptquartier der mexikanischen Bundespolizei in | |
Ciudad Juárez. | |
Doch in der viel geplagten Stadt selbst ging das Militär, das alle | |
Einwohner für potenzielle Narco-Mörder hielt, so brutal mit verdächtigen | |
Bürgern und der Polizei um, dass es das Problem eher verschärfte als löste. | |
Und nicht nur das. Angesteckt von der Gier, liefen Soldaten und | |
Bundespolizisten bald in Scharen zur dunklen Seite der Macht über: Sie | |
stahlen, vergewaltigten, raubten und kidnappten nach Herzenslust. Die | |
Bevölkerung, die sie zunächst willkommen geheißen hatte, verlor rasch alle | |
Illusionen, es kam zu vermehrten Anklagen wegen Fehlverhalten und | |
Amtsmissbrauch. | |
Im November 2011 hieß es in einem Bericht von Human Rights Watch: „Statt | |
die Gewalt einzudämmen, hat Mexikos ‚Krieg gegen die Drogen‘ zu einem | |
drastischen Anstieg von Mord, Folter und anderen schweren | |
Rechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte geführt, die das Klima von | |
Gesetzlosigkeit und Angst in vielen Teilen des Landes nur verschärfen.“ | |
Generalmajor Manuel de Jesús Moreno Aviña, zuständig für die | |
Militäroperationen im Bundesstaat Chihuahua, wurde seines Postens enthoben | |
und wegen Folter, Mord und Zusammenarbeit mit Drogenhändlern angeklagt. | |
## Höchste Mordrate der Welt | |
Eine schwindelerregende Spirale von Mord, Kidnapping, Erpressung, Raub, | |
Bandenkämpfen, Rache- und Auftragsmorden erfasste die Stadt. | |
Maschinengewehrsalven gehörten bald zu den alltäglichen | |
Hintergrundgeräuschen. In den Straßen lagen Patronenhülsen und viel zu oft | |
auch verstümmelte oder von Kugeln durchsiebte Leichen. | |
Im August 2009 verzeichnete Ciudad Juárez die mit Abstand höchste Mordrate | |
unter allen Städten der Welt. Am Ende des Jahres waren 2 660 Menschen | |
gewaltsam ums Leben gekommen, fast doppelt so viele wie im Jahr 2008. Im | |
Jahr 2010 stieg die Zahl der Mordopfer sogar auf 3 116. | |
Zehntausende flohen zwischen 2007 und 2011 aus der Stadt. Wer Geld und | |
Papiere hatte, zog über die Grenze nach El Paso oder weiter nach Norden. | |
100 000 Häuser standen leer, wurden aufgegeben oder waren zerstört. In der | |
Stadt schien der Tod allgegenwärtig, es war ein Krieg aller gegen alle. Der | |
US-Journalist Charles Bowden, der damals in Juárez lebte, schrieb in seinem | |
erschütternden Tatsachenbericht „Murder City“, man habe den Eindruck, dass | |
die „Gewalt fester Bestandteil der Gesellschaft geworden ist, keine | |
einzelne Ursache und kein einzelnes Motiv mehr hat und ganz sicher auch | |
keinen Knopf zum Abschalten“. Die Gewalt sei „wie der Staub in der Luft, | |
einfach Teil des Lebens“. Oder, so Bowden weiter, „nicht Teil des Lebens, | |
sondern das Leben selbst“. | |
Aber das Blutvergießen geschah weder ziellos, noch war es unerklärlich. Es | |
wurde zwar durch Calderóns Intervention angeheizt, aber letztlich tobte der | |
Kampf um die Kontrolle der Plazas und die vielen Milliarden Dollar, die dem | |
Sieger winkten. Als 2011 El Chapo und seine Leute El Viceroy entscheidend | |
geschwächt hatten und Calderón sich gezwungen sah, seine Soldaten, die nur | |
Öl ins Feuer gossen, abzuziehen und das Feld den neu aufgestellten Kräften | |
der Polizei des Bunds und der Stadt zu überlassen, ließ die Gewalt nach, | |
und am Ende des Jahres ging die Opferzahl auf 2 086 zurück. Im Jahr 2012, | |
als das Sinaloa-Kartell mehr oder weniger seinen Sieg feiern konnte, sank | |
die Zahl der Mordopfer auf 750 – immer noch schlimm genug, aber doch eine | |
deutliche quantitative Veränderung, die sich auch qualitativ niederschlug. | |
Geschäfte öffneten wieder, die Bürger genossen die relative Ruhe. | |
Aber das Abflauen des Kampfs der Titanen, diesmal durch einen | |
Waffenstillstand und nicht durch einen Sieg, brachte keine landesweite | |
Entspannung. Ganz im Gegenteil: Der Krieg sorgte für eine Ausweitung der | |
Kollateralkriminalität. Die Tyrannosaurier waren abgezogen, aber auch die | |
kleineren Velociraptoren richteten immer noch genug Schaden an. | |
Übersetzung: Gabriele Gockel | |
8 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
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