# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Schachspiel um Nordmazedonien | |
> Budapest und Sofia blockieren mit fiesen Tricks die | |
> EU-Beitrittsverhandlungen mit Skopje. Ist es ihnen womöglich zu | |
> europafreundlich? | |
Bild: Várhely (l.), Orbáns Mann in Brüssel, kungelt gegen Skopje | |
Mehr als hundert Jahre ist es her, dass ein britischer Forschungsreisender | |
sich einmal sehr wundern musste. Der Mann war in Mazedonien unterwegs, in | |
den Dörfern rund um die osmanische Stadt Manastir, und fragte überall die | |
Leute, was sie denn wären. „Wir sind Griechen“, erfuhr er in einem Ort. | |
Der Forscher verzeichnete das Ergebnis in seinem Reisetagebuch. Ein Jahr | |
später kam er wieder vorbei und wunderte sich über die bulgarische Fahne | |
über dem Haus des Ortsvorstehers. „Ja, wir sind Bulgaren“, verkündete ihm | |
derselbe Mann, der sein Dorf noch vor einem Jahr als griechisch ausgegeben | |
hatte. „Letztes Jahr waren wir Griechen, jetzt sind wir Bulgaren.“ | |
Die Sache war ganz einfach: Der alte Priester war gestorben, jetzt war ein | |
neuer da. Beide kamen aus verschiedenen Bistümern. Im Osmanischen Reich, zu | |
welchem Manastir (auf Griechisch Monastir), das heutige Bitola, damals noch | |
gehörte, war nicht „Ethnizität“, „Volkszugehörigkeit“, nicht einmal | |
Muttersprache ein Kriterium von Bedeutung. „Schwebendes Volkstum“ nannte | |
man es in der Sprache des Nationalismus jener Zeit. | |
Gerade weil es so schwebte, unternahmen die Politiker in den umliegenden | |
Hauptstädten der neuen Balkanstaaten alles Mögliche, das „Volkstum“ zu | |
erden und damit das beherrschte Territorium zu vergrößern. Ein probates | |
Mittel waren die Geschichten berühmter Vorfahren – vom Zaren Samuil, vom | |
Heiligen Sava, vom Helden Skanderbeg oder von Alexander dem Großen. Auf die | |
Abstammung kommt es an: Die Weisheit leuchtete gerade viehzüchtenden Bauern | |
spontan ein. | |
## Ein Territorium, neun Reiche, Staaten und Parastaaten | |
Wo die Zugehörigkeit „schwebt“, fluide ist, muss ihre jahrhundertealte | |
Geschichte umso eindringlicher beschworen werden. Eine mazedonische Nation | |
gibt es amtlich seit 77 Jahren, im allgemeinen Bewusstsein ist sie noch | |
jünger. Nach einem turbulenten 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf sich auf | |
dem Territorium des historischen Mazedonien nicht weniger als neun Reiche, | |
Staaten und Parastaaten tummelten, nimmt das Spiel mit den Identitäten | |
gerade wieder Fahrt auf. | |
Seit einem Dreivierteljahr [1][blockiert das EU-Mitgliedsland Bulgarien die | |
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonie][2][n], dem mit | |
Abstand reformfreudigsten und proeuropäischsten Balkanland. | |
Begonnen hat die neue Runde im alten Machtspiel im Sommer 2020 im | |
stattlichen Gebäude einer kleinen Partei an der Sofioter Pirotska-Straße. | |
Eine Neuwahl drohte. Die rechtsradikale Partei mit dem traditionsreichen | |
Namen [3][„Innere mazedonische revolutionäre Organisation“ (VMRO)] nutzte | |
ihr Erpressungspotenzial als Teil einer wackligen Regierungsmehrheit, um | |
mit ihrem Kernthema zu punkten: Das viermal kleinere Nachbarland | |
Nordmazedonien – wie es seit der glücklichen Beilegung des jahrzehntelangen | |
Streits mit Griechenland heißt – sollte nach dem Willen der bulgarischen | |
Nationalisten zwar nicht mehr auf seinen Staatsnamen, aber immerhin auf den | |
Namen seiner Sprache verzichten und sich als ein Staat der bulgarischen | |
Nation deklarieren. Der konservative Regierungschef Boris Borissow spielte | |
notgedrungen mit, desgleichen die sozialistische Opposition. Wenn es um | |
nationale Fragen ging, hatte sich schon ihre kommunistische Vorgängerpartei | |
nie rechts überholen lassen. | |
[4][Die Partei, die den Anstoß gegeben hatte, flog bei den Neuwahlen | |
dennoch aus dem Parlament]. Aber die Kugel rollt seither weiter. Bulgariens | |
Regierung legte im vorigen November offiziell ihr Veto gegen die Aufnahme | |
von Beitrittsverhandlungen mit Skopje ein. Die EU-Kommission musste eine | |
schon angesetzte Regierungskonferenz absagen. Auch Albanien war blockiert: | |
Nach dem Willen der EU hätten beide Länder die Verhandlungen gemeinsam | |
beginnen sollen. Die Bremser der Südosterweiterung, wie Frankreichs | |
Präsident Emmanuel Macron, konnten sich entspannt zurücklehnen. | |
## Athens Veto | |
Kein Land in Osteuropa wurde von der Europäischen Union so böse hingehalten | |
wie Nordmazedonien. Aber gerade deshalb ist kein Land so sehr auf die EU | |
fixiert – ein fataler Zusammenhang. Schon vor 30 Jahren wollte die Union | |
die ehemalige jugoslawische Republik nicht anerkennen, obwohl sie nach dem | |
Urteil der EU-Experten die Kriterien klarer erfüllte als das dann doch | |
anerkannte Kroatien. | |
Zehn Jahre später stand das isolierte Land mit seinen 2 Millionen | |
Einwohnern am Rand eines Bürgerkriegs. Die EU vermittelte, konnte aber | |
nicht mit Beitrittshoffnungen locken, weil Griechenland jeden | |
Erweiterungsschritt blockierte. | |
Als Athen dann 2008 sein Veto sogar gegen die Nato-Mitgliedschaft einlegte, | |
fiel Mazedonien in eine selbstzerstörerische Trotzphase. Unter Premier | |
Nikola Gruevski steuerte das Land nach außen in Richtung Russland und nach | |
innen in Richtung Diktatur. Gleichzeitig startete das Regime einen großen | |
nationalen Relaunch und überzog die Hauptstadt Skopje mit unzähligen | |
Skulpturen, Palästen und klassizistischen Tempeln aus Gips, mal im Stil der | |
Prager Karlsbrücke, mal à la Champs-Élysées. Die Botschaft lautete: Seht | |
her, wir sind auch Europa! | |
Seit das Regime Gruevski 2016 fiel, strebt das Land wieder mit | |
Riesenschritten in Richtung Westen. Die neue Führung mit einem energischen | |
Außenminister, Nikola Dimitrov, sprang über ihren Schatten und ließ sich | |
nötigen, den Staatsnamen zu ändern. Ein Vierteljahrhundert lang hatten | |
wechselnde griechische Regierungen die Angst geschürt, der Name | |
„Mazedonien“ könnte territoriale Ansprüche auf die gleichnamige | |
griechische Provinz beinhalten. | |
## Orbáns Mann in Brüssel | |
Die großen EU-Staaten wollten keinen Druck auf Athen ausüben. Dabei hatte | |
für frühere Erweiterungskandidaten noch die Formel gegolten, rein | |
bilaterale Probleme hätten in Beitrittsverhandlungen nichts zu suchen. Für | |
Mazedonien galt die Formel nicht. Und kaum war die griechische Mauer | |
gefallen, errichtete Bulgarien die nächste. Europa belohnt nur Länder, die | |
sich ihm nicht fügen. | |
Hinter der Kulisse des aktuellen Identitätsstreits wird Schach gespielt – | |
wie vor 120 Jahren. Aktueller Großmeister ist der ungarische Autokrat | |
Viktor Orbán. Zug um Zug baut er seine Optionen aus. Befreundete | |
Oligarchen kaufen Zeitungshäuser in den Nachbarländern. Orbáns Amtskollege | |
[5][Janez Janša] in Slowenien, das am 1. Juli in der EU die | |
Ratspräsidentschaft übernimmt, ist sein treuer Anhänger. Einen | |
Parteifreund, Olivér Várhelyi, brachte Orbán als Erweiterungskommissar in | |
der neuen EU-Kommission unter. Zum Entsetzen der Brüsseler Beamten schönt | |
der Ungar eigenhändig kritische Berichte über das autoritär regierte | |
Serbien. In Nordmazedonien setzt Orbán auf den abgelösten Ex-Autokraten | |
Gruevski. Als der 2018 wegen Korruption ins Gefängnis sollte, flüchtete er | |
nach Budapest und bekam dort Asyl. | |
Im Mai nun schlug [6][Kommissar Várhelyi] vor, die EU solle zwar mit | |
Albanien, aber nicht mit Nordmazedonien über den Beitritt verhandeln. Ein | |
tückischer Schachzug: Wird die Regierung in Skopje mit ihrem | |
Demokratisierungskurs ein weiteres Mal frustriert, könnte die Bevölkerung | |
in einer Trotzreaktion wieder auf Nationalismus und auf Russland setzen. | |
Hilfe ist nicht in Sicht. Seit die EU die Erweiterungspolitik an Orbán und | |
seine Freunde überantwortet hat, sitzen die Balkanstaaten in der Falle: Je | |
besser sie sich mit Ungarn und dessen EU-Kommissar stellen, desto größer | |
wird die Erweiterungsskepsis in Frankreich oder den Niederlanden. Gardez! | |
## Der Doppel-Nationalheld Deltschew | |
Der formale Streitgegenstand passt weniger ins 21. Jahrhundert als vielmehr | |
in die Epoche des britischen Forschungsreisenden – in der sich Franzosen | |
und Deutsche noch stritten, ob Karl der Große ein Deutscher oder ein | |
Franzose war. Ein dicker Stein des Anstoßes ist zum Beispiel die | |
Wahrnehmung des schnurrbärtigen Doppel-Nationalhelden Goze Deltschew | |
(1872–1903), der in Sofia als großer Bulgare und in Skopje als großer | |
Mazedonier verehrt wird. | |
Deltschew selbst, der im heutigen Griechenland geboren wurde, eine | |
bulgarische Schule besuchte und im heutigen Nordmazedonien Lehrer war, | |
hätte die Frage nicht interessiert. Er war Sozialist, kämpfte gegen die | |
Osmanen und „wollte gewiss nicht die Herrschaft Istanbuls durch jene Sofias | |
ersetzen“, wie der Regensburger Historiker und Bulgarien-Spezialist Ulf | |
Brunnbauer sagt. | |
Prinzipiell unlösbar ist auch der Streit über die mazedonische Sprache und | |
die wechselseitigen Minderheiten. Ob Mazedonisch tatsächlich eine Sprache | |
ist oder ein „westbulgarischer Dialekt“, wie Sofia behauptet, ist | |
Ansichtssache. „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer | |
Marine“, hat der Linguist Max Weinreich die müßige Streitfrage auf den | |
Punkt gebracht. Auch ob es in Nordmazedonien eine bulgarische und ob es in | |
Bulgarien eine mazedonische Minderheit gibt, sei politischen Entscheidungen | |
entzogen, meint Brunnbauer. „Da es in beiden Ländern Personen gibt, die | |
sich als Angehörige einer solchen Minderheit bezeichnen, gibt es sie.“ | |
Am 11. Juli wird in Bulgarien wieder gewählt. Gestritten wird über Mafia, | |
direkte Demokratie, eine Abhöraffäre. Von Goze Deltschew und dem | |
„westbulgarischen Dialekt“ redet niemand. Die Partei, die die Kugel ins | |
Rollen brachte, liegt in den Umfragen bei 3 Prozent. | |
[7][© LMd, Berlin] | |
21 Jun 2021 | |
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[6] https://www.politico.eu/article/eu-commission-albania-membership/ | |
[7] https://monde-diplomatique.de/ | |
## AUTOREN | |
Norbert Mappes-Niediek | |
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