# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Frau sein und frei sein in Riad | |
> Das saudische Regime gesteht Frauen immer mehr Rechte zu. Mit dieser | |
> Strategie poliert es seine Außendarstellung auf und grenzt sich vom Iran | |
> ab. | |
Bild: Eine Einkaufsstraße in Riad | |
Es gibt viele Gründe, das saudische Regime zu kritisieren, nicht zuletzt | |
für seine Missachtung der Frauenrechte. Doch ausgerechnet auf diesem Feld | |
hat sich in letzter Zeit viel getan. Im Februar 2018 wurde die Radiologin | |
Tamader al-Rammah zur stellvertretenden Arbeitsministerin ernannt, und so | |
sitzt nun zum zweiten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau in der | |
Regierung. Armee und Polizei stellen mittlerweile Frauen ein, und dann | |
wurde nach 35 Jahren nicht nur das Kinoverbot aufgehoben, Männer und Frauen | |
können sogar erstmals gemeinsam ins Kino gehen. Womöglich könnte auch die | |
Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten gelockert werden. | |
Doch dass Frauen ab dem 24. Juni allein Auto fahren dürfen, ohne dass ein | |
männlicher Vormund zustimmen muss, hat wohl am meisten Aufsehen erregt. Die | |
schon im September letzten Jahres angekündigte spektakuläre Reform ist Teil | |
von Kronprinz Mohammed bin Salmans (kurz: MBS) ambitioniertem | |
Wirtschafts- und Sozialprogramm „Vision 2030“. Selbst die Abaya, das lange | |
schwarze Gewand, das saudische Frauen in der Öffentlichkeit tragen, ist | |
nicht mehr obligatorisch. | |
Im Februar erklärte ein Geistlicher im Radio, es könne genügen, sich | |
„dezent“ zu kleiden. Einige Wochen später ließ der Kronprinz während sei… | |
Staatsbesuchs in den USA in einem Interview die Bemerkung fallen, eine | |
Muslimin ohne Abaya sei eine Muslimin „wie alle anderen“. Da sich das | |
Königreich partout von seinem Rivalen Iran abgrenzen will, indem es gute | |
Beziehungen zum Westen pflegt, ist der Status der Frauen ein wichtiger | |
Faktor in der Außendarstellung des Kronprinzen. Das Königshaus hat zudem | |
zahlreiche westliche Werbeagenturen wie Publicis, Image Sept oder Edile | |
Consulting engagiert, um sein schlechtes internationales Image zu | |
verbessern. | |
Schwer zu sagen, ob sich die saudischen Frauen über all diese Veränderungen | |
freuen. Denn es gibt bekanntlich keine Meinungsfreiheit in diesem Land, in | |
dem immerhin ein Drittel der 30 Millionen Einwohner aus dem Ausland kommt. | |
Die jungen Leute – 70 Prozent der Saudis sind unter 35 – machen jedenfalls | |
einen zufriedenen Eindruck. Und von Frauen hört man, sie seien es leid, | |
dass Saudi-Arabien immer nur nach dem Status der Frauen beurteilt wird. | |
## Religionspolizei eingeschränkt | |
So empört sich die Hochschuldozentin Hoda al-Helaissi: „Es macht mich | |
krank, dass man immer auf uns herabschaut. Sie wollen uns vorschreiben, wie | |
wir uns verhalten sollen, aber wir sind ein Land, in dem Stammesgesetze und | |
Traditionen regieren. Wir haben das Recht, uns in unserem eigenen Tempo zu | |
entwickeln!“ Sie ist eine von 30 Frauen, die der Madschlis asch-Schura | |
angehören, der Beratenden Versammlung, die der Regierung | |
Gesetzesvorschläge macht. Ihre 150 Mitglieder werden nicht gewählt, | |
sondern vom König ernannt. Seit 2013 nehmen erstmals auch Frauen daran | |
Teil. Fawziah al-Bakr ist eine von 47 Pionierinnen, die sich schon im | |
November 1990 ans Steuer gesetzt hatten, um öffentlich gegen das Fahrverbot | |
für Frauen zu demonstrieren. Die Pädagogik-Professorin an der | |
König-Saud-Universität in Riad ist begeistert über die jüngsten | |
Entwicklungen: „In zwei Jahren haben wir erreicht, was wir seit 30 Jahren | |
fordern. Die Veränderungen sind enorm. Man muss es sich mit eigenen Augen | |
anschauen.“ | |
Ein noch viel wichtigerer Wendepunkt als die Aufhebung des Fahrverbots war | |
es für viele Frauen, als vor zwei Jahren die Religionspolizei Muttawa, die | |
die Frauen an allen öffentlichen Orten verfolgte, in die Schranken gewiesen | |
wurde. „Das hat unser Leben wirklich verändert“, sagt Fawziah al-Bakr. | |
„Vorher haben sich die Frauen gegenseitig kontrolliert, ob sie ,auf Linie' | |
waren, und auf der Straße fühlten wir uns belästigt. Seit dieser | |
Entscheidung können wir uns viel unbeschwerter bewegen.“ | |
Für die höher gebildeten Frauen ist das nächste Ziel die Aufhebung der | |
männlichen Vormundschaft. Diese Bestimmung der in Saudi-Arabien | |
herrschenden Scharia verurteilt die Frauen zu lebenslanger Unmündigkeit. | |
2017 wurde sie gelockert. Seitdem dürfen Frauen unbegleitet Behördengänge | |
tätigen, arbeiten oder ein eigenes Unternehmen gründen, ohne dass ihr | |
mahrâm (Ehemann, Vater, Bruder, Sohn oder ein anderer Mann aus der Familie) | |
seine Zustimmung geben muss. Doch wenn eine Frau einen Pass beantragen, | |
reisen und vor allem heiraten möchte, braucht sie immer noch die Erlaubnis | |
des Vormunds. | |
Hatoon al-Fassi, Dozentin für Frauengeschichte an der | |
König-Saud-Universität, sieht die aktuelle Entwicklung positiv, obwohl sie | |
nach wie vor jeden Tag kämpfen müsse. „Die Männer stehen genauso unter | |
Druck, weil sie nicht wissen, wie viel Spielraum sie haben.“ Diese | |
Erfahrung macht sie zum Beispiel jedes Mal, wenn sie ihre wöchentliche | |
Kolumne für die regierungsnahe Zeitung al-Riyadh abliefert. Wenn es um ein | |
heikles Thema geht, erscheint ihr Beitrag manchmal erst Wochen später, weil | |
sich die ausschließlich männliche Chefredaktion keinen Ärger mit dem Regime | |
einhandeln will. | |
## Die Angst ist überall spürbar | |
Gefürchtet sind auch die Reaktionen aus dem Klerus. Seit MBS’ Aufstieg | |
müssen sich die Geistlichen zwar noch stärker der Regierung unterordnen, | |
doch sie sind nach wie vor ein wichtiger Partner des Königshauses und | |
könnten unter Umständen wieder mehr Einfluss gewinnen. „Wir tasten uns | |
voran, und jeder Schritt ist ein Sieg“, sagt Hatoon al-Fassi, bevor sie | |
noch ein paar scharfe Bemerkungen über „feige Männer“ abfeuert, „die ni… | |
die Initiative ergreifen wollen und nicht sagen, was sie denken“. | |
Tatsächlich ist unklar, ob die Menschen in Saudi-Arabien mehrheitlich | |
bereit sind, die Veränderungen zu akzeptieren oder eine eher | |
rückwärtsgewandte, konservative Einstellung pflegen. 93 Prozent der | |
Bevölkerung haben Zugang zum Internet. Und Mangels alternativer Quellen | |
könnte man auf die Idee kommen, die stark frequentierten sozialen Netzwerke | |
– vor allem Twitter sowie Instagram, Snapchat und Facebook – für die | |
Meinungsforschung auszuwerten. | |
Doch das Netz wird überwacht, weshalb die meisten User sehr vorsichtig | |
sind. Hatoon al-Fassi geht sowieso davon aus, dass viele Saudis der Meinung | |
sind, dass sich die derzeitigen Veränderungen nicht mit dem Islam | |
vereinbaren lassen. Doch dafür könne man heute andere Stimmen hören, die | |
früher unterdrückt, wenn nicht gar verteufelt wurden. Sie blicke jedenfalls | |
„vertrauensvoll in die Zukunft“, sagt die überzeugte Feministin. | |
Beunruhigend findet sie nur, dass all diese Veränderungen „von einer | |
einzigen Person abhängen“, das sei „nicht gerade gesund“ – eine | |
sibyllinische Anspielung auf den Kronprinzen, der allein und oft auf | |
brutale Weise über die Reformen entscheidet, ohne eine wirkliche politische | |
Öffnung in Aussicht zu stellen. | |
Im Gegensatz zu ihren iranischen Nachbarn, die einen Präsidenten und ein | |
Parlament wählen, stimmen die Männer und Frauen in Saudi-Arabien nicht über | |
ihre Abgeordneten ab; so liegt fast die gesamte Macht in den Händen des | |
Königshauses. Und das Regime ist noch strenger geworden, die Angst ist | |
überall spürbar. Wenn es um den Machterhalt geht, zögert MBS nicht lange, | |
Kritiker ins Gefängnis zu stecken, ganz gleich, ob sie aus der | |
konservativen oder der fortschrittlichen Ecke kommen. | |
Zwischen Juni 2017 und Mai 2018 gab es mehrere Verhaftungswellen, in | |
manchen Fällen genügte schon ein harmloser politischer Tweet. Die | |
Ritz-Carlton-Affäre, benannt nach dem Fünf-Sterne-Hotel in Riad, in dem im | |
November 2017 mehrere hundert Prinzen, Unternehmer und hochrangige Beamte | |
wegen Korruptionsverdachts festgehalten wurden, sitzt vielen noch in den | |
Knochen. Zuletzt traf es im Mai 2018 sieben Frauenrechtlerinnen, denen das | |
Regime Staatsverrat und Kontakt zu feindlichen ausländischen Mächten | |
vorwirft. | |
## Manche wollen nicht Autofahren | |
In dem beliebten Souk Swakah im Süden von Riad machen sich aber auch die | |
Frauen in den schwarzen Abayas, Hidschabs oder Nikabs große Sorgen um ihre | |
Zukunft. „Ich bin dagegen, dass Frauen Auto fahren und was sonst noch in | |
letzter Zeit passiert ist“, sagt eine etwa 60-jährige Frau. Ihr | |
Gesichtsschleier spart nur ihre Augen aus, die sich gerade mit Tränen | |
füllen. Seit über zehn Jahren verkauft sie Kleidung. Dass Frauen arbeiten, | |
verstoße nicht gegen den Islam, sagt sie. Aber alles andere widerspreche | |
den strengen Sitten, die eingehalten werden müssten. Während sie spricht, | |
schaut sie sich verstohlen um und fügt laut hinzu: „Aber lang lebe der | |
Kronprinz!“ | |
Neben ihr steht die 25-jährige Nurah. Alles, was man von ihr sieht, sind | |
geschminkte Augen und weiß lackierte Fingernägel. Auch sie ist gegen die | |
Fahrerlaubnis für Frauen. Ihr Ehemann bringt sie morgens zur Arbeit und | |
holt sie abends auch wieder ab. „Unser Leben gefällt uns, wie es ist. Wir | |
sind nicht wie die Frauen im Westen.“ Sie freut sich, dass sie arbeiten | |
kann: „Mein Mann hat mir problemlos die Erlaubnis gegeben. Ich bringe Geld | |
nach Hause, und ich langweile mich nicht mehr.“ | |
Im Souk Hidschab sagen die Verkäuferinnen fast das Gleiche. Nur beim Thema | |
Auto fangen Ibtissam und Norr, beide um die 50 und mit Nikab, unwillkürlich | |
an zu lachen: „Wir fahren seit 30 Jahren! Bei den Beduinen sind die Frauen | |
der Meinung, dass sie das Recht dazu haben. Und wie sollten wir es sonst | |
machen, so weit weg von allem?“ Beide leben in kleinen Siedlungen etwa 50 | |
Kilometer nördlich der Hauptstadt. | |
Eine Witwe, Mutter von acht Kindern, sagt: „Ich arbeite, weil ich das Geld | |
brauche. Die Arbeit ist ein Geschenk Gottes. Der Prophet hat uns im Übrigen | |
ermutigt zu arbeiten.“ Ihre Freundin ergänzt: „Solange es nicht gegen den | |
Islam ist und wir nicht mit Männern zu tun haben, machen wir, was wir | |
wollen!“ An einem Stand für Unterwäsche erklärt eine Verkäuferin, dass man | |
den Frauen nur deshalb verboten hat, Auto zu fahren, weil man sie schützen | |
wollte: „Der Mann muss seine Verantwortung übernehmen.“ Die anderen drei | |
Frauen stimmen ihr lebhaft zu. | |
Die beiden BWL-Studentinnen Jasmeen und Mariam arbeiten nur stundenweise | |
als Verkäuferinnen im Souk Hidschab. Den ganzen Tag tippen sie auf ihren | |
Smartphones herum. Mariam ist mit einem Medizinstudenten verlobt, den sie | |
bei einer Hochzeitsfeier kennengelernt hat. Er hat sie von Weitem gesehen, | |
als sie ihren Gesichtsschleier abgelegt hatte, und daraufhin bei ihren | |
Eltern um ihre Hand angehalten. | |
„Die Veränderungen gehen in die richtige Richtung“, sagt ihre Freundin | |
lächelnd und macht das Victory-Zeichen. „Weil wir jetzt Auto fahren dürfen, | |
werden wir bald selbstständig sein!“ Beide junge Frauen sind jedoch für die | |
Beibehaltung der männlichen Vormundschaft: „Dadurch fühlen wir uns | |
geschützt.“ Auf die Frage, was sie für die Zukunft erwarten, sagt Mariam: | |
„Ich möchte vor allem das Gefühl haben, dass ich als Mitglied der | |
Gesellschaft wichtig bin.“ | |
## Viele Frauen sind ehrgeizig | |
Viele saudische Frauen machen keinen Hehl aus ihrem Ehrgeiz. „Sie ergreifen | |
jede Chance, die sich bietet“, erzählt ein junger Unternehmer. „Sie sind | |
dynamischer als die Männer, als hätten sie etwas aufzuholen!“ 97 Prozent | |
der Mädchen besuchen eine Schule und 60 Prozent der Studierenden sind | |
weiblich. | |
Seit der Amtszeit König Abdallahs (2005 bis 2015) dürfen Frauen in | |
Geschäften arbeiten. Anfangs waren es nur einfache Tätigkeiten als | |
Kassiererinnen und Verkäuferinnen, die aber den Weg in alle anderen | |
Berufsfelder geöffnet haben – mit Ausnahme der Gerichte. Nach der | |
wahhabitischen, aber auch anderen islamischen Auslegungen der Scharia | |
dürfen Frauen kein Richteramt ausüben. | |
Gleichzeitig hat König Abdallah an hunderttausende junger Leute, davon 30 | |
Prozent Frauen, Auslandsstipendien vergeben. Laut Hoda al-Helaissi haben | |
all diese Maßnahmen zur Öffnung beigetragen: „Die jungen Leute sind durch | |
die sozialen Netzwerke mit der Außenwelt verbunden. Wegen der | |
Wirtschaftskrise reicht ein Gehalt zum Leben nicht mehr aus, und die Frauen | |
wollen Karriere machen. Oft werden sie von ihren Ehemännern, Brüdern und | |
Vätern unterstützt.“ Alles hängt von den Familien ab, vom sozialen Umfeld | |
und vom Wohnort. | |
Die Frauen der Familie Mansour treffen sich jedes Wochenende zum Abendessen | |
bei der Matriarchin in einem riesigen Beduinenzelt im Garten der | |
Familienvilla. Im Hintergrund hört man das Rauschen des Verkehrslärms. Die | |
6-Millionen-Einwohnerstadt Riad liegt mitten in der Wüste. Es gibt keine | |
Wohnblöcke, nur sandfarbene Villen so weit das Auge reicht, ein paar | |
futuristisch anmutende Wolkenkratzer, von gedrungenen, staubigen Palmen | |
gesäumte Alleen und zahllose Einkaufszentren. | |
## Es ist wichtig, die Wahl zu haben | |
Bei den Mansours, einer alten großbürgerlichen und begüterten Familie, ist | |
man eher konservativ. „ ‚Sie‘ wollen, dass wir ein zweites Dubai werden�… | |
sagt eine etwa 50-jährige Frau, „aber ich werde meinen Nikab nicht | |
ablegen.“ Dass Frauen Auto fahren dürfen, finden sie gut, „solange man uns | |
nicht dazu zwingt!“ Ihnen ist es wichtig, „dass wir die Wahl haben“, und | |
zwar in allen Bereichen. Eine Frau, die sechs Jahre in den USA gelebt hat, | |
möchte nicht auf ihren Chauffeur verzichten: „Das ist zwar teuer, aber | |
nicht so anstrengend.“ Tausende saudische Frauen haben Chauffeure aus | |
Pakistan, Indien oder Bangladesch – muslimische Arbeitskräfte, die ihren | |
saudischen Arbeitgebern vollkommen ausgeliefert sind. | |
Und was halten die Frauen von der Vormundschaft? „Ab einem gewissen Alter, | |
21 Jahre zum Beispiel, sollte man darauf verzichten können.“ Die jungen | |
Mädchen hören ihren Müttern und Tanten zu, äußern aber manchmal auch ihre | |
eigene Meinung. Die Studentinnen sagen überwiegend, sie wollten „für zwei | |
oder drei Jahre ins Ausland gehen, aber dann wieder zurückkommen“. Alle | |
wollen arbeiten und heiraten, „frühestens mit 30 Jahren, und nicht mehr als | |
zwei oder drei Kinder“ bekommen. Und wie halten sie es mit der Abaya? „Sie | |
ist praktisch und elegant, so ähnlich wie ein Mantel.“ | |
Nurah bedauert, dass sie nicht Tiermedizin studieren konnte, ein | |
Studiengang, zu dem Frauen noch nicht zugelassen sind. Sie hat sich für | |
Naturwissenschaften entschieden und verbringt den Rest der Zeit mit Reiten. | |
Eines Tages, daran glaubt sie ganz fest, wird sie ihr Land bei den | |
Olympischen Spielen vertreten. | |
„Mein Bruder hat zur mir gesagt: ,Es ist okay, dass du bei Wettkämpfen | |
mitmachst, aber es kommt nicht infrage, dass du ins Fernsehen gehst oder in | |
Zeitungen deine Meinung sagst!' Und ich habe geantwortet: ,Es ist mein | |
Leben. Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten!‘ “ Im Übrigen ist | |
sie der Meinung, dass die Ungleichheit zwischen Mann und Frau mit der | |
Tradition zu tun hat und nicht mit der Religion. Diese Unterscheidung ist | |
ihr wichtig. | |
Nurahs Cousine Reema entwirft Abayas, die sie über das Internet vertreibt. | |
Ihre bunten Kreationen erinnern an Prinzessinnen- oder Brautkleider. Dank | |
Facebook & Co ist ihr Geschäft rasch in Gang gekommen. Mehrere Freundinnen | |
haben sich ebenfalls für den Onlinehandel entschieden, eine vor allem bei | |
Frauen beliebte Wachstumsbranche. Die eine bietet Fertiggerichte an, eine | |
andere Schmuck. Eine dritte ist professionelle Maskenbildnerin. Die meisten | |
können davon leben. Am Wochenende treffen sie sich an bestimmten Orten, die | |
seit Kurzem für Männer und Frauen zugänglich sind, wie das Café Bateel. | |
Hier nehmen sie auch den Gesichtsschleier ab. Es ist eine der sehr seltenen | |
Gelegenheiten, junge Männer zu treffen. | |
## Die Farbe Schwarz ist allgegenwärtig | |
Im Vergleich mit dem 750 Kilometer weiter westlich gelegenen Taif erscheint | |
das gesellschaftliche Klima in Riad fast liberal. Von Taif bis Mekka sind | |
es nur 65 Kilometer. Doch anders als in Dschidda, das sich durch den | |
Kontakt mit Pilgern aus aller Welt geöffnet hat, ist Taif sehr konservativ | |
geblieben. Es herrscht strikte Geschlechtertrennung, kein Restaurant, kein | |
Café verstößt gegen die Regel. Und die Farbe Schwarz ist allgegenwärtig. | |
„Hier kann man nichts unternehmen“, seufzt die lebhafte Salwa, Studentin | |
der Islamwissenschaften. „Ich habe Glück, dass mein Vater mir vertraut, | |
aber bei meinen Freundinnen ist das anders. Wenn sie ihren Vormund | |
anbetteln, ,Lass mich ausgehen', sagt er ,nein‘, und oft schlägt er sie.“ | |
Viele Mädchen hätten einen Freund, erzählt Salwa. Ihre Eltern glaubten, sie | |
seien an der Universität, aber tatsächlich lassen sie sich von ihrem | |
Chauffeur an einer Privatwohnung absetzen. Voreheliche sexuelle Beziehungen | |
gelten als Unzucht, sind aber gang und gäbe. Abtreibungen sind strikt | |
verboten, es sei denn, das Leben der Mutter ist in Gefahr; doch die Frauen | |
können die Pille in der Apotheke kaufen, sogar ohne Rezept. | |
Salwa meint, in Taif würden die Mädchen aus Trotz heiraten – es sind immer | |
arrangierte Ehen –, „weil sie endlich ihre Freiheit wollen“. Wenn eine Fr… | |
erst einmal verheiratet und Mutter ist, hat sie in ihrem Haushalt das | |
Sagen. Die Erziehung der Kinder und das Familienbudget sind ihre Domäne. | |
Polygamie (zwischen 8 und 10 Prozent der Ehen) ist in der jungen Generation | |
inzwischen selten, obwohl immer wieder Stimmen laut werden, die sie wegen | |
der Versorgung unverheirateter Frauen verteidigen. | |
## Der Traum von Frauenrechten | |
Wenn Salwa nicht an der Universität ist, sitzt sie vor dem Fernseher. Sie | |
liebt türkische und indische Serien. Über die saudischen Männer macht sie | |
sich keine Illusionen. „Sie wissen nicht, was Liebe ist. Sie wollen nur | |
Sex.“ Ob arrangiert oder nicht, „beinahe jede zweite Ehe endet heute mit | |
der Scheidung“, erzählt der Sozialwissenschaftler Mohammed al-Amri. Er hat | |
kürzlich in der Presse Alarm geschlagen, weil die hohen Scheidungsraten ein | |
Problem seien, „das schwerwiegende Konsequenzen für die Gesellschaft“ | |
habe. | |
Salwas Freundin Khadija ist 28 Jahre alt und schon geschieden. Ihr Mann hat | |
sie geschlagen. Sie wohnt jetzt bei ihrem Bruder, der ihr Vormund geworden | |
ist, und arbeitet in einem Friseursalon. „Mein Bruder hat Angst vor dem | |
Getuschel der Nachbarn“, sagt Khadija. „Hier zählt nur, was die Leute | |
reden!“ | |
Die beiden Freundinnen trauern den Zeiten nach, als die Religionspolizei | |
noch patrouillierte. „Da hat man uns wenigstens auf der Straße in Ruhe | |
gelassen. Heute werden wir belästigt! Die Männer verfolgen uns und wollen | |
unsere Telefonnummern.“ Die beiden träumen davon, in ein Land zu gehen, „wo | |
die Frauen Rechte haben“. In Taif wird es ihrer Einschätzung nach noch | |
„mindestens eine Generation“ dauern, bis es so weit ist. | |
Wer nach Mekka reisen will, kommt automatisch in die Hafenstadt Dschidda (4 | |
Millionen Einwohner, davon 840 000 Ausländer) am Ufer des Roten Meers. Mit | |
ihrer 30 Kilometer langen Uferpromenade, der Corniche, der Altstadt | |
al-Balad, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, ihren Freiluftskulpturen und | |
Restaurants, die Gerichte aus aller Welt servieren, ist sie zweifellos die | |
faszinierendste – und am wenigsten konservative – Stadt Saudi-Arabiens. | |
## Es brodelt in der Gesellschaft | |
Auch hier sind die Alleen überdimensioniert, und es gibt viel zu viele | |
Einkaufszentren. Frauen können sich so frei bewegen wie nirgendwo sonst im | |
saudischen Königreich. Die Abayas sind oft beige, blau, hellgrau, mit | |
Perlen besetzt, und haben Reißverschlüsse. Man sieht vielen Frauen an, dass | |
sie beim Schönheitschirurgen waren oder sich zumindest Botox spritzen | |
lassen. Hier spürt man, dass es in der Gesellschaft brodelt. | |
Außerdem gibt es in Dschidda schon lange eine lebendige Kunstszene. Drei | |
Monate vor der offiziellen Wiedereröffnung des ersten Kinos in Riad wurde | |
im Dschiddaer Kulturzentrum Arbab al-Heraf der Film „Mariam“ gezeigt. | |
Darin geht es um eine französische Jugendliche, die in der Schule Kopftuch | |
tragen möchte, obwohl das Gesetz es verbietet. Rund 60 Jugendliche | |
beiderlei Geschlechts besuchten die Vorführung in diesem einzigartigen | |
Kulturcafé, das 2017 von einem jungen Mann eröffnet wurde, der aus | |
Australien zurückgekehrt war. | |
Die Regisseurin Faizah Ambas berichtet, sie sei „verblüfft“ gewesen über | |
die Äußerungen der jungen Leute in der anschließenden Diskussion: „Sie | |
haben sich getraut, vor Fremden über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen. | |
,Mein Freund hat mich verlassen, weil ich keinen Hidschab tragen wollte', | |
erzählte eine junge Frau. Eine andere berichtete genau das Gegenteil: Ihr | |
Freund wollte nicht, dass sie den Hidschab trug. | |
## Von Traditionen erdrückt | |
Eine dritte sagte: ,Ich bin Christin‘ [in Saudi-Arabien ist es verboten, | |
eine andere Religion als den Islam zu praktizieren]. In dem Augenblick | |
stand ein Junge von vielleicht 20 Jahren auf und sagte: ,Ihr Film handelt | |
letztlich davon, dass man den anderen akzeptieren soll, und das fehlt bei | |
uns.' “ | |
2006 hat Rajaa Alsanea mit ihrem Roman „Die Girls von Riad“ einen Skandal | |
ausgelöst. In Form eines Blogs erzählen darin vier Freundinnen von ihrem | |
Leben und ihren Liebesbeziehungen. Es ist nichts Schockierendes, nur der | |
Alltag von Frauen, die von den Traditionen erdrückt werden. Das Buch | |
erschien zuerst im Libanon und verbreitete sich unter der Hand rasch in | |
Saudi-Arabien. | |
2015 erschien „Zwei Frauen aus Dschidda“. Die Autorin Hanaa Hijazi ist | |
Ärztin. Auch dieses Buch erschütterte die Gesellschaft, wurde aber nicht | |
zensiert. In dem Roman zerbrechen zwei Freundinnen an den Verboten und | |
begehen schließlich Selbstmord. Er wurde viel gelesen und wohlwollend | |
aufgenommen, „auch von Männern“, wie die Autorin betont. Viele Leserinnen | |
kritisierten nur den tragischen Ausgang. „Sie hätten sich ein anderes Ende | |
für die beiden Protagonistinnen gewünscht, das hat mich gefreut. Sie können | |
sich also auch andere Perspektiven für Frauen vorstellen.“ | |
## „Schlimmer denn je“ | |
Dass Frauen künftig Auto fahren dürfen, hat für Lina al-Maeena vor allem | |
symbolische Bedeutung: „Wir können unser Leben selbst lenken und, warum | |
nicht, eines Tages vielleicht das Land.“ Für die 40-Jährige, die an die | |
Emanzipation durch Sport glaubt, gibt es keine Hindernisse. Vor zwölf | |
Jahren hat sie die erste Frauenbasketballmannschaft gegründet, damals war | |
Sport für Frauen noch verboten. Heute sitzt sie in der Beratenden | |
Versammlung. Seit einem Jahr ist Sportunterricht für Mädchen an den | |
öffentlichen Schulen verpflichtend. Es ist fraglich, ob es ein Zeichen der | |
Öffnung oder eine medizinische Notwendigkeit ist. Der | |
Weltgesundheitsorganisation zufolge sind fast 70 Prozent der saudischen | |
Frauen übergewichtig, 40 Prozent davon adipös. | |
Der Modernisierungsprozess lässt sich wahrscheinlich kaum noch aufhalten. | |
Allein aus ökonomischen Gründen ist die Integration von Frauen in den | |
Arbeitsmarkt unumgänglich. In der Politik sieht es jedoch ganz anders aus. | |
Jedenfalls ist in den Verlautbarungen des Kronprinzen nie von | |
Demokratisierung die Rede. Kommunalwahlen sind die einzigen Wahlen im | |
Königreich. | |
Eine Journalistin meint: „Im Ausland stellt man MBS als jungen Prinzen dar, | |
der Reformen will und die Korruption bekämpft. Aber die Unterdrückung ist | |
härter denn je.“ Als Frau habe sie zwar mehr Freiheiten, doch die | |
Meinungsfreiheit für alle werde stärker eingeschränkt. „Ich habe keine | |
Angst mehr, wenn ich auf der Straße unterwegs bin, aber ich habe Angst, | |
mich offen zu äußern. Ich fürchte, die Willkür ist schlimmer denn je.“ | |
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer | |
7 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Florence Beaugé | |
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