| # taz.de -- Augenarzt über Kauf von Arztpraxen: „Wir entfernen uns von unser… | |
| > Immer mehr Arztpraxen werden von Finanzinvestoren aufgekauft. Das hat | |
| > Folgen für die Patienten, sagt Augenarzt Horst Helbig. | |
| Bild: Entschuldigung, Frau Doktor, ich habe eine Heuschrecke im Auge! | |
| wochentaz: Herr Helbig, bis Mitte des Jahres wollte der | |
| Bundesgesundheitsminister einen Gesetzentwurf vorlegen, der verhindert, | |
| [1][dass Finanzinvestor*innen Arztpraxen aufkaufen]. Warum sind | |
| „diese Heuschrecken“, wie Karl Lauterbach sie selbst nannte, so scharf auf | |
| deutsche Arztpraxen? | |
| Horst Helbig: Das ist relativ einfach. Die Investoren schauen, wo sie die | |
| höchsten Profite machen können. Es ist viel Geld unterwegs, das einen Hafen | |
| braucht und gerne eine Rendite von 20 Prozent bringen soll. Und wenn das am | |
| Aktienmarkt und am Anleihenmarkt nicht mehr möglich ist, dann werden andere | |
| Wege gesucht. Die internationalen Investoren haben offensichtlich das | |
| deutsche Gesundheitssystem als einen Markt entdeckt, wo man noch solche | |
| Renditen erwirtschaften kann. In den letzten Jahren hat sich das mit einer | |
| explosionsartigen Geschwindigkeit verbreitet. | |
| Ihr Fachgebiet, die Augenheilkunde, gilt als besonders betroffen. Warum? | |
| In der Augenheilkunde werden relativ viele Selbstzahlerleistungen erbracht. | |
| Aber auch Bereiche wie Radiologie, Röntgen, Labormedizin, Dialyse und | |
| Zahnheilkunde sind attraktiv für Investor*innen. | |
| Von welchem Ausmaß reden wir? | |
| Dazu muss man zunächst sagen, dass wir fast keine Daten haben. Wir wissen | |
| nicht, wie viele Arztpraxen insgesamt in den Händen von Investoren sind. | |
| Aber wir wissen, dass es Kapitalgesellschaften gibt, die inzwischen | |
| Hunderte Arztpraxen besitzen. | |
| Wie ist das überhaupt möglich? Das klassische Praxismodell sind doch | |
| niedergelassene Ärzt*innen, die mit einem sogenannten Kassensitz auf eigene | |
| Rechnung arbeiten. | |
| 2003 hat es die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt mit einer | |
| Gesetzesänderung ermöglicht, dass auch Krankenhäuser Kassensitze aufkaufen | |
| dürfen; und das unabhängig davon, welche Fachrichtungen vertreten sind in | |
| dem Krankenhaus und wo es seinen Sitz hat. Ein Beispiel ist eine Klinik, | |
| die hatte vier Betten für Schlafmedizin und hat in ganz Deutschland | |
| Hunderte von Augenarztpraxen gekauft. | |
| Warum dachte man damals, das wäre eine gute Idee? | |
| Es gibt ein Zitat von einem Abteilungsleiter im | |
| Bundesgesundheitsministerium, der als Vater dieser Regelung gilt. Demnach | |
| wollte man bewusst die Heuschrecken ins System lassen, um die Macht der | |
| Kassenärztlichen Vereinigungen, also der Vertretung der niedergelassenen | |
| Ärzte, zu brechen. | |
| Woher weiß ich, ob meine Arztpraxis zu einem rein gewinnorientierten | |
| Konzern gehört? | |
| Wenn Sie heute zum Arzt gehen, haben Sie im Grunde keine Ahnung, ob Sie von | |
| Angestellten eines schwedischen, belgischen oder sonstigen Kapitalinvestors | |
| behandelt werden. Da brauchen wir dringend eine Kennzeichnungspflicht. Das | |
| nützt Ihnen als Patient*in aber auch nicht viel, weil es Regionen gibt, | |
| in denen inzwischen fast alle Praxen in der Hand eines Investors sind. Wenn | |
| Sie zwei Meinungen einholen wollen, dann gehen Sie unter Umständen von | |
| einem Angestellten der Firma zum anderen Angestellten der gleichen Firma. | |
| Sind diese angestellten Ärzt*innen denn unbedingt schlechter als | |
| niedergelassene? | |
| Im Einzelfall lässt sich das ganz schwer nachweisen. Aber versuchen Sie | |
| mal, einen Termin zur augenärztlichen Routineuntersuchung zu bekommen, für | |
| die der Arzt 15 Euro abrechnen kann. Und dann einen als Selbstzahler für | |
| die Behandlung von Schlupflidern. Auf den einen warten sie zum Teil Monate, | |
| den anderen kriegen sie sofort. | |
| Und das ist ein Problem der Kapitalgesellschaften? Haben nicht auch | |
| niedergelassene Ärzt*innen ein Interesse an Profit? | |
| Jeder niedergelassene Arzt ist auch Unternehmer, ja, und muss mit seinem | |
| inneren ethischen Kompass regulieren, wie weit die eigenen wirtschaftlichen | |
| Interessen gehen. Bei den meisten gelingt das auch. Wenn Ärzte aber jetzt | |
| Angestellte eines rein gewinnorientierten Konzerns sind, dann hat dieser | |
| Konzern eben nicht die Aufgabe, die Kranken in Deutschland zu versorgen, | |
| sondern ausschließlich, Geld zu verdienen. | |
| Und an seine Anteilseigner*innen auszuschütten. | |
| Ja. Aus Unternehmersicht ist das auch nicht verwerflich. Aber ob ein | |
| Gesellschaftssystem, ob die Politik es zulässt, dass sich die Medizin nach | |
| diesen Kriterien organisiert, das müssen wir diskutieren. Ich halte es für | |
| hoch problematisch. | |
| Plädieren Sie für ein staatliches Gesundheitswesen ganz ohne | |
| Ökonomisierung? | |
| Nein. Wir haben in der Vergangenheit schon erlebt, was passiert, wenn wir | |
| ganz auf wirtschaftliche Anreize verzichten. | |
| Meinen Sie weniger Fortschritt? | |
| Zum Beispiel. Für das Gesundheitswesen brauchen wir einen Mittelweg. Aber | |
| der ist verlassen worden. Was wir im Moment erleben, ist eine | |
| Privatisierung von Gewinnen und eine Sozialisierung von Verlusten. | |
| Haben Sie dafür ein Beispiel aus Ihrem Bereich? | |
| Die niedergelassenen Ärzte haben in der Regel eine Bindung zu ihren | |
| Stammpatient*innen, bei denen sie dann auch die Leistungen erbringen, die | |
| sich finanziell nicht lohnen. In den gewinnorientierten Praxen sehen wir | |
| dagegen eine Spezialisierung auf lukrative Behandlungen wie | |
| Grauer-Star-Operationen oder die Medikamenteneingaben in das Auge. Ein | |
| Rosinenpicken. Die vergleichsweise schlecht vergütete Behandlung einer | |
| Netzhautablösung oder die Schieloperation bei einem Kind schicken sie dann | |
| in die nächste, völlig überlastete Notfallklinik. Das Gleiche gilt für die | |
| aufwendige Facharztausbildung – wir sind ja nicht als brillante Operateure | |
| auf die Welt gekommen, das Operieren wurde uns allen mühsam beigebracht. | |
| Auch das wird in diesen Praxisketten kaum gemacht, und die staatlichen | |
| Kliniken schaffen es aus Kapazitätsgründen kaum noch. Ich will hier aber | |
| gar keine moralische Diskussion führen, sondern eine systemische. | |
| Bitte. | |
| Wir sind auf dem Weg dahin, dass in vielen Regionen die | |
| investorenbetriebenen Praxen Monopole aufbauen. Nehmen wir mal an, die | |
| Politik würde dann versuchen, deren Möglichkeiten, Gewinne zu machen, | |
| einzuschränken … | |
| … dann haben diese Konzerne eine irre Lobbymacht. | |
| Ganz genau. Dann sagen die: Wenn die Politik das macht, dann ziehen wir uns | |
| zurück und bricht hier die Versorgung zusammen. Das ist eine | |
| Machtverschiebung, die nicht im Sinne der Gesellschaft sein kann. Hinzu | |
| kommt, dass nahezu alle diese Firmen ihren Sitz in Steuerparadiesen haben – | |
| sie ziehen also Geld aus der gesetzlichen Krankenversicherung ab und | |
| versteuern die Gewinne nicht einmal hier. | |
| Statt der Macht der Kassenärztlichen Vereinigungen steuern wir also auf | |
| eine Übermacht der Kapitalgesellschaften im Praxissystem zu? | |
| Wir haben im Gesundheitssystem von allen Seiten Lobbyismus. Das kann nur | |
| funktionieren durch ein Ausbalancieren dieser Kräfte, die aus verschiedenen | |
| Richtungen ziehen oder schieben. Dafür braucht es eine steuernde | |
| Institution, und das ist die eigentliche Aufgabe der Politik im | |
| Gesundheitswesen. | |
| Warum verkaufen überhaupt so viele Ärzt*innen ihre Kassensitze an | |
| Investoren? | |
| Da kommen zwei Tendenzen zusammen. Zum einen zahlen die | |
| Kapitalgesellschaften für Kassensitze von Ärzten, die altersbedingt | |
| verkaufen, sehr hohe Preise. Zum anderen gibt es weniger potenzielle | |
| Nachfolger: Die Bereitschaft zur Selbstständigkeit und zur 60-Stunden-Woche | |
| ist unter den jüngeren Kollegen massiv zurückgegangen. Deshalb lassen sich | |
| viele lieber anstellen, von dem Gehalt kann man auch recht gut leben. | |
| Das klingt ja auch gesünder. Wie ließe sich da gegensteuern? | |
| Ein Ansatz wäre, die Praxistätigkeit für einen niedergelassenen Arzt wieder | |
| attraktiver zu machen. Man muss die Konditionen an das veränderte Bild von | |
| Familie und Berufstätigkeit anpassen und den Ärzten ermöglichen, sich auf | |
| die ärztliche Tätigkeit, den Patientenkontakt zu konzentrieren. Das heißt | |
| vor allem weniger Bürokratie, weniger Administration, die Erleichterung von | |
| Teilzeit und Praxisgemeinschaften. | |
| Gesundheitsminister Lauterbach hat Gesetzesänderungen versprochen. | |
| Davon sehen wir praktisch noch nichts. | |
| Was genau erwarten Sie? Soll die Möglichkeit, dass Investor*innen | |
| Arztpraxen aufkaufen, abgeschafft werden? | |
| Zumindest stark einschränkt. Eine Schlafklinik mit vier Betten in Bayern | |
| darf keine Augenarztpraxen in ganz Deutschland aufkaufen können. Man sollte | |
| diese Möglichkeit auf regionale Versorgungszentren beschränken. Und auf | |
| Unternehmen, die Steuern in Deutschland bezahlen. | |
| Eine Regelung, die den Verkauf an Finanzinvestor*innen eindämmt, nützt | |
| aber nichts gegen die Macht der bereits bestehenden Investorenpraxen. | |
| Ich fürchte, das lässt sich nicht zurückdrehen. Aber die Politik muss einen | |
| Weg finden, solche Ketten zu zwingen, sich auch um Dinge zu kümmern, bei | |
| denen die Einzelleistung keinen Profit bringt. Sonst entfernen wir uns | |
| immer weiter von dem, was der hippokratische Eid und auch die Berufsordnung | |
| der Ärzte vorsieht. | |
| 2 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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