# taz.de -- Augenarzt über Kurzsichtigkeit: „Kinder, die viel drinnen sind, … | |
> Weltweit steigt die Zahl der Kurzsichtigen. Woran das liegt und was bei | |
> schlechter Sicht wirklich hilft, erklärt Augenmediziner Hakan Kaymak. | |
Bild: Wenn alle kurzsichtig sind, müssen Straßenschilder dann größer beschr… | |
taz: Herr Kaymak, sind Sie kurzsichtig? | |
Hakan Kaymak: Ja. Ich bin in der vierten Klasse kurzsichtig geworden, | |
damals hatte ich minus eine Dioptrie. Das heißt, dass mein Fernpunkt, also | |
das, was ich noch scharf sehen konnte, einen Meter entfernt war. | |
taz: Ist das ein Erbe Ihrer Eltern oder haben Sie in der Schule zu lange | |
und zu viel gelesen? | |
Kaymak: Mein Vater war kurzsichtig, meine Mutter ist normalsichtig. Wenn | |
ein Elternteil kurzsichtig ist, dann liegt das Risiko, dass das Kind auch | |
kurzsichtig wird, bei 40 Prozent. Zudem spielen natürlich auch | |
Umweltfaktoren eine große Rolle. | |
taz: Seit Jahrzehnten steigt die Zahl der Kurzsichtigen kontinuierlich. | |
Laut einer Übersichtsstudie werden [1][2050 bis zu 40 Prozent der | |
Weltbevölkerung kurzsichtig] sein, andere Studien sagen, die Hälfte. | |
Kaymak: Da muss man aufpassen, das sind ja nur Prognosen. Außerdem hat sich | |
gezeigt, dass die Myopie, also Kurzsichtigkeit, in Europa nicht ganz so | |
stark zugenommen hat, wie man eigentlich befürchtete … | |
taz: … aber sie hat sie zugenommen, vor allem global. Wie lässt sich das | |
erklären? | |
Kaymak: Die Gründe, warum Kinder kurzsichtig werden, wie langes Lesen und | |
schlechtes Licht, galten auch schon vor hundert Jahren. Deshalb war auch | |
Anfang des 20. Jahrhunderts die Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden, | |
an Gymnasien deutlich höher als an Dorfschulen, wo die Kinder viel mehr | |
Zeit im Freien verbrachten. Mit der Glühlampe sank die Kurzsichtigkeit, | |
aber durch die früheren Einschulungen und langen Schulstunden nimmt sie | |
wieder sehr stark zu, insbesondere in vielen asiatischen Ländern. Die | |
Kinder sind teilweise bis zu 14 Stunden in der Schule und müssen sich | |
danach noch mit Hausaufgaben beschäftigen. | |
taz: Aber wie genau führt das lange Drinnensein zu Kurzsichtigkeit? | |
Kaymak: Ganz genau weiß man das nicht. Beobachtungsdaten zeigen aber: | |
Kinder, die viel drinnen sind und viel in einem Abstand von weniger als 30 | |
Zentimetern zum Auge lesen – egal ob auf dem iPad oder im Schulbuch – sind | |
häufiger kurzsichtig. Umgekehrt hilft Draußensein. Ein Beispiel: Ein Kind | |
mit zwei kurzsichtigen Eltern hat ein Risiko von 60 Prozent, kurzsichtig zu | |
werden. Hält sich dieses Kind jedoch zwei Stunden täglich im Freien auf, | |
kann die Wahrscheinlichkeit auf 30 Prozent gesenkt werden. | |
taz: Sonnenlicht hilft also? | |
Kaymak: Ja, aber auch beim Sonnenlicht weiß man noch nicht genau, woran das | |
liegt. Eine Theorie besagt etwa, dass Botenstoffe wie Dopamin in der | |
Netzhaut ausgeschüttet werden und eine Art Stoppsignal bewirken, sodass | |
sich die Streckung des Augapfels verlangsamt. Bei Kurzsichtigen ist das | |
Auge zu schnell gewachsen. | |
taz: Nun ist aber Sonnenlicht zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten | |
unterschiedlich stark. Muss man einer bestimmten Lichtintensität ausgesetzt | |
sein? | |
Kaymak: Tatsächlich wächst das Auge im Winter schneller als im Sommer. In | |
den Schulverordnungen steht meines Wissens 500 Lux Beleuchtungsstärke, das | |
ist aber für Büros und Erwachsene gedacht. Besser wären 1.000 Lux. Zum | |
Vergleich: Tageslicht hat eine Beleuchtungsstärke von 10.000 Lux. | |
taz: Könnte die Zunahme der Kurzsichtigkeit auch daran liegen, dass das | |
Problem mittlerweile häufiger untersucht wird? | |
Kaymak: Das kann man so nicht sagen. Kurzsichtigkeit fällt meist im | |
Kindesalter auf. Es gibt aber keine systematischen Reihenuntersuchungen in | |
den Schulen, wie zum Beispiel bei der Kariesprophylaxe. Das heißt, nach wie | |
vor werden auffällige Kinder zum Augenarzt gebracht. Die Art und Weise, wie | |
ihre Sehkraft dann untersucht wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten | |
auch nicht geändert. | |
taz: Sie sprechen vor allem von Schulkindern – in welchem Alter entwickelt | |
sich Kurzsichtigkeit? | |
Kaymak: Wenn ein Baby auf die Welt kommt, hat es in der Regel plus vier | |
oder plus fünf Dioptrien, es ist also sehr weitsichtig. Der Nullpunkt, also | |
die Normalsichtigkeit, ist erst mit etwa 8 oder 9 Jahren erreicht. Wenn das | |
Auge über ein gewisses Maß hinauswächst, ist es kurzsichtig. | |
taz: Wächst das Auge im Laufe des Lebens weiter? | |
Kaymak: In der Regel nur bis zum Alter von 15, 16 oder 17 Jahren. Bei | |
wenigen Menschen wächst das Auge aber auch mit 40, 50 oder 60 Jahren noch. | |
Das kann vor allem gesundheitliche Folgen haben. Beispielsweise haben | |
Kurzsichtige oft viel früher eine Netzhautablösung. Das ist dann ein | |
Notfall und muss umgehend operiert werden. Symptome dafür sind Lichtblitze, | |
Schatten und kleine schwarze Punkte, die Sie immer öfter sehen. | |
taz: Um Kurzsichtigkeit entgegenzuwirken, [2][wagte die taiwanesische | |
Regierung einen viel beachteten Versuch]. Sie verpflichtete alle Schulen | |
dazu, dass sich Schulkinder im Alter von 6 bis 12 Jahren täglich für | |
mindestens zwei Stunden im Freien aufhalten müssen. In den folgenden Jahren | |
ging die Kurzsichtigkeit rapide zurück. Würden Sie eine solche Maßnahme | |
auch für Deutschland empfehlen? | |
Kaymak: Ja. Das war die bis dato effektivste natürliche, also | |
medikamentenfreie Maßnahme. Es wurde am Ursprung des Problems angesetzt. | |
Und betrifft nicht manche, sondern alle Kinder. In Deutschland hat der | |
Augenarzt Hermann Cohn bereits vor 150 Jahren Untersuchungen durchgeführt, | |
um herauszufinden, wie Schulen auszusehen haben. Er plädierte für große | |
Fenster, durch die viel Tageslicht flutet, und für ein Verbot von | |
Hausaufgaben beziehungsweise Strafarbeiten. | |
taz: Warum fand er in Deutschland kein Gehör? | |
Kaymak: Ich weiß nicht, wie es zu seinen Lebzeiten war. Aber im | |
Nationalsozialismus versuchte man alle möglichen medizinischen Konditionen | |
auf Genetik und Rasse zu reduzieren. Man wollte nicht wahrhaben, dass | |
vieles auch von der Umwelt abhängt, und unterdrückte dieses Wissen. Ich | |
erinnere mich noch an mein Augenheilkunde-Buch aus dem Studium. Dort steht | |
auch drin, dass Kurzsichtigkeit vererbt wird und mit Umweltfaktoren wie | |
Licht und Lesen nicht viel zu tun hat. | |
taz: Mittlerweile weiß man zum Glück mehr. Wie ist nun die Lage an | |
deutschen Schulen? | |
Kaymak: Vor einigen Jahren konnte ich, da eine meiner Patientinnen | |
Schulleiterin war, Kinder an einer Schule untersuchen. Von den 700 Kindern | |
waren 100 kurzsichtig. 50 der 100 kurzsichtigen Kinder wussten es nicht. 30 | |
der Kinder, die es nicht wussten, sahen schlechter als 60 Prozent. Sie | |
gingen also wirklich eingeschränkt durch die Welt. | |
taz: Mit Corona hat sich das Taiwan-Experiment in umgekehrter Richtung | |
wiederholt. Plötzlich waren alle Menschen und damit auch Kinder viel mehr | |
im Haus als sonst. | |
Kaymak: Es gibt verschiedene Studien, die nachweisen, dass die | |
Kurzsichtigkeit während der Pandemie zugenommen hat. | |
taz: Abgesehen von natürlichen Maßnahmen wie dem Draußensein gibt es auch | |
Medikamente, um Kurzsichtigkeit zu verhindern oder aufzuhalten. Zu ihnen | |
zählen zum Beispiel Atropin-Augentropfen. | |
Kaymak: Atropin gibt es schon seit mehr als 100 Jahren. Wie Atropin genau | |
wirkt, wissen wir trotzdem nicht. Es hat zum Beispiel einen Effekt auf die | |
Kontrastempfindlichkeit des Sehens im Auge und einen Effekt auf den | |
Dopaminstoffwechsel. Zur Erinnerung: Dieser beeinflusst das Wachstum des | |
Auges. Weil Atropin so viele verschiedene Effekte hat, steht die richtige | |
Dosierung bis heute nicht fest. Man sagt aktuell, dass 0,05-prozentiges | |
Atropin bei Kindern einmal pro Nacht getropft werden soll. Das geht dann so | |
lange, wie das Auge noch wächst. Sonst kann es zum sogenannten | |
Rebound-Phänomen kommen, das heißt, der Augapfel wächst nach der Behandlung | |
weiter. | |
taz: Neben Atropin kommen auch korrigierende Brillengläser zum Einsatz. | |
Diese gaukeln dem Auge die Kurzsichtigkeit quasi vor. | |
Kaymak: Nach [3][einer Studie, die wir vor Kurzem veröffentlicht haben], | |
können diese Gläser bei 60 Prozent der Kurzsichtigen ein normales | |
Augenwachstum erzeugen. | |
taz: Welche Behandlungen werden derzeit noch erforscht und was erhoffen Sie | |
sich von ihnen? | |
Kaymak: Es gibt Ansätze, das Wachstum genetisch zu regulieren. Diese | |
Wissenschaftler suchen die Schlüsselgene für das Augenwachstum. Neu ist | |
zumal das Arbeiten mit Rotlicht. Die Kinder schauen dann für zwei, drei | |
Minuten in rotes Licht. Die Studienergebnisse sind zwar vielversprechend, | |
aber es ist fraglich, ob nicht auch Langzeitschäden entstehen können. | |
12 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] http://bjo.bmj.com/content/early/2024/08/14/bjo-2024-325427 | |
[2] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0161642017303676 | |
[3] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11287573/ | |
## AUTOREN | |
Enno Schöningh | |
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