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# taz.de -- Aufklärung von Pestizidskandal gefordert: Giftig für Embryos – …
> Das Pestizid Chlorpyrifos war zugelassen, obwohl es Hirne schädigt. Der
> Hersteller habe Hinweise auf die Gefahr irreführend dargestellt, so
> Forscher.
Bild: Auch da steckte 2018 oft Chloryprifos drin: Bananen im Supermarkt
Berlin taz | Es sind schwere Vorwürfe, die WissenschaftlerInnen gegen den
Chemiekonzern Dow Chemical/Corteva und Pestizid-Zulassungsbehörden erheben:
„Der Hersteller des Insektizids Chlorpyrifos hat die Ergebnisse eines
Tierversuchs 1998 irreführend dargestellt, und die Behörden korrigierten
das erst 2019“, sagte der Chemiker Axel Mie von der schwedischen
Medizinuniversität Karolinska-Institut der taz. „Die
Ergebniszusammenfassung verschwieg, dass die Kleinhirne von Jungratten
kleiner waren, selbst wenn ihre Mütter während der Trächtigkeit nur sehr
geringen Chlorpyrifos-Mengen ausgesetzt waren“, ergänzte Christina Rudén,
Ökotoxikologie-Professorin an der Universität Stockholm.
Deshalb ließ die Europäische Union das seit Jahrzehnten erlaubte Mittel
2005 erneut zu, obwohl die Daten auf mögliche Schäden an den Gehirnen
menschlicher Embryos hindeuteten. Die Forscher fordern nun von der EU,
Hinweisen auf mögliche Manipulationen nachzugehen.
Zwar hat die EU den Stoff Anfang 2020 verboten. Denn Forscher um Mie hatten
die Rohdaten des Rattenversuchs ausgewertet und 2018 in einem Fachartikel
auf die fehlerhafte Auswertung hinwiesen. Zudem zeigten vor allem drei
Studien aus den Jahren 2005 bis 2016 kognitive und Verhaltensdefizite bei
Kindern, die im Mutterleib Pestiziden aus der Gruppe der Organophosphate
wie Chlorpyrifos ausgesetzt wurden. Auch konnten neue Untersuchungen nicht
ausschließen, dass das Pestizid das Erbgut schädigt.
Doch das EU-weite Verbot kam erst 22 Jahre nachdem die Rattenstudie
Hinweise auf die Gefahr geliefert hatte. In Deutschland durfte Chlorpyrifos
schon seit 2015 nicht mehr gespritzt werden – anders als etwa in Spanien
und Polen. Aber laut Bundesamt für Verbraucherschutz wurde das Pestizid
beispielsweise 2018 in 23 Prozent der untersuchten Grapefruits, [1][21
Prozent der analysierten Bananen] und 20 Prozent der Orangenproben
gefunden. Der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit zufolge war
Chlorpyrifos eines der 2018 am [2][häufigsten gefundenen] Pestizide in
Nahrungsmitteln.
„Studien deuten auf einen niedrigeren Intelligenzquotienten bei Kindern
infolge von Chlorpyrifosexposition hin“, schreiben Mie und Rudén. „In
Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, müsste die EU-Kommission schon
der Frage nachgehen, wie es zu der offensichtlich fehlerhaften Analyse
durch das Unternehmen kommen konnte.“
Untersucht werden muss den Wissenschaftlern zufolge auch, warum die Ämter
die Fehler nicht behoben. Spanien prüfte Chlorpyrifos ab 1999 im Auftrag
der EU. Wie immer bei solchen Verfahren in Europa, den USA oder Kanada
stützten sich die spanischen Regierungsexperten vor allem auf Studien, die
Hersteller des Pestizids in Auftrag gegeben und für die Behörden
zusammengefasst hatten. Polnische Ämter halfen den Spaniern dabei. Ihr
Urteil kontrollierten unter anderem deutsche Beamte. Doch die Experten
wiesen im amtlichen Bericht über die Risiken des Pestizids nicht auf die
Gefahren für Embryos hin.
Offenbar verließen sich die Behörden bei der Studie mit den Ratten nur auf
die Zusammenfassung von Dow Chemical. Die erwähnte mit keinem Wort, dass
die Kleinhirne der Jungen von Ratten flacher waren, auch wenn deren Müttern
während der Trächtigkeit Chlorpyrifos nur in geringen Dosen eingeflößt
wurde. Aus einer Tabelle im Datenteil der Studie dagegen ließ sich das sehr
wohl ablesen. „Die beunruhigenden Funde sind jedoch in einer
Durchschnittszahl für alle Hirnregionen versteckt, die auf den ersten Blick
unauffällig war“, so Mie. „Wenn man mit einem Fuß in einem Eimer mit
kochendem Wasser steht, und mit dem anderen Fuß in einem Eimer mit
Eiswürfeln, und sagt, dass im Durchschnitt die Wassertemperatur ganz
angenehm ist: Dann ist das zwar eine korrekte Aussage, aber doch nur die
halbe Wahrheit. Ungefähr so hat das Unternehmen einen durchschnittlichen
Effekt auf alle Gehirnregionen ausgerechnet, der den Blick auf die
einzelnen Regionen trübt“, erklärt der Wissenschaftler.
Denkbar ist sowohl Schlamperei als auch absichtliche Manipulation. Für
Letzteres spricht, dass die Autoren andere Daten nicht in einem
Durchschnittswert kaschierten, sondern korrekt auswerteten. „Hätte die
Firma die Daten richtig ausgewertet, wäre Chlorpyrifos schon vor 20 Jahren
verboten worden“, so Rudén.
Doch trotz der vielen Behördenexperten blieb der Fehler bei der Auswertung
der Versuchsdaten durch die Ämter unentdeckt. Sie handelten auch dann
nicht, als die US-Umweltbehörde EPA im Jahr 2000 die Datenauswertung zum
Gehirnaufbau in der Studie als „ungeeignet und nicht beweiskräftig“
kritisierte.
Wissenschaftler von Dow verteidigten die Studie 2019 mit dem Argument, dass
die Kleinhirne von bestimmten Rattenjungen kleiner gewesen seien, weil die
Hirne bei der Lagerung vor der Untersuchung in einer Fixierlösung
geschrumpft seien. Allerdings stand in der Studie laut Mie eindeutig, dass
alle Hirne der fraglichen Altersgruppe gleichzeitig untersucht worden
seien.
Selbst auf mehrmalige Nachfrage der taz, ob die Behörden dem Verdacht der
Manipulation nachgehen, antwortete die EU-Kommission nur ausweichend. „Jede
mutmaßliche Manipulation von Daten muss gemeldet werden“, schrieb die
Kommission der taz. Das zuständige spanische Gesundheitsministerium schrieb
der taz, das bei der Ausarbeitung der Analyse von Chlorpyrifos „zu keinem
Zeitpunkt“ die Daten der Studie manipuliert worden seien. „Die Ergebnisse
der Studien wurden auf Grundlage des damaligen Forschungsstandes
ausgewertet.“ Es sei höchst unwahrscheinlich, dass alle beteiligten
Experten nicht bemerkt haben sollten, dass Daten „versteckt“ worden wären.
Österreichs Gesundheitsminister Rudolf Anschober ließ mitteilen, dass er
sich „selbstverständlich für eine Aufklärung des Vorwurfes der Manipulation
im Rahmen der Zulassung von Chlorpyrifos ausspricht“. Deutschlands
Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) dagegen verwies nur auf die
EU-Kommission.
## Spanischer Gesundheitsminister will Reform
„Dieser Fall illustriert, dass das Zulassungsverfahren nicht zuverlässig
funktioniert – nicht nur in der EU, sondern weltweit“, sagt Mie. „Obwohl
die entscheidenden Daten seit 20 Jahren vorliegen, blieb Chlorpyrifos
praktisch überall zugelassen.“ Er schlägt vor, dass nicht mehr die
Industrie die Studien für die Zulassung finanziert. Stattdessen müssten die
Unternehmen eine Behörde bezahlen, damit sie die Studien in Auftrag gibt.
„Dadurch lässt sich einem Interessenkonflikt im Testlabor vorbeugen – der
Auftraggeber hätte dann kein wirtschaftliches Interesse an einem bestimmten
Resultat“, erklärte Rudén.
Das sieht auch der in Spanien zuständige Gesundheitsminister Salvador Illa
von der sozialistischen Partei PSOE so: „Unserer Meinung nach wäre es
ideal, wenn die Europäische Union die Studien für die Zulassung von
Wirkstoffen durchführen könnte und die Antragsteller die Kosten dieser
Studien einer europäischen Behörde zahlen würden“, teilte das Ministerium
der taz mit.
30 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/nbpsm/08_nbpsm…
[2] https://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/6057
## AUTOREN
Jost Maurin
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