Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Angriff auf Israel: „Wir rannten, Richtung Sonne“
> Bar Vilker, Galit Goldcher und Raz Ronen haben das Massaker der Hamas
> überlebt. Nun trauern sie zusammen und fürchten um ihren Freund Schahak.
Bild: Bar Vilker, Galit Goldcher und Raz Ronen haben das Massaker auf dem Super…
Modi'in taz | Der Moment, als die Nachrichtensprecherin aufhört zu reden,
ist der, auf den Bar Vilker, Galit Goldcher und Raz Ronen gewartet haben.
Auf der Terrasse verstummen die Gespräche. Alle Blicke richten sich auf den
Fernseher. Der Sender Kanal 12 blendet am Mittwochabend Fotos und Namen der
neu identifizierten Opfer des Hamas-Überfalls auf den Süden Israels ein.
Dutzende, minutenlang. Als der Nachrichtenjingle wieder einsetzt, sinkt Bar
zurück in die Sofakissen: „Niemand diesmal“, sagt er erleichtert. Es
bedeutet aber auch: Keiner weiß, ob ihr Freund Schahak Madar in einem
Hamas-Versteck in Gaza festgehalten wird oder überhaupt noch am Leben ist.
„Ich habe ihn das letzte Mal am Samstag kurz nach Sonnenaufgang gesehen,
als die ersten Raketen geflogen sind“, erinnert sich der 26-jährige Vilker.
Zusammen mit Goldcher und Ronen war Vilker, der in Tel Aviv in der
Hightechbranche arbeitet und einen schmalen Nasenring trägt, einer der
Besucher des Supernova-Festivals.
Bis am Morgen Hunderte Bewaffnete der Hamas die Sperrzäune zu Israel
durchbrachen und Dörfer, Armeeposten und das Festival stürmten. „Niemand
hat verstanden, was los ist“, sagt Goldcher. Erst als aus zwei Richtungen
Schüsse fallen, wird ihm klar: [1][Hier passiert etwas Größeres.]
## Willkürliche Hinrichtungen, verbrannte Kinder
Die Gruppe springt ins Auto und fährt in Richtung Ausgang, doch auch dort
warten die Angreifer mit Sturmgewehren. „Wir haben das Auto stehen lassen
und sind gerannt, immer in Richtung Sonne, weg von Gaza“, sagt Vilker. Mit
ihnen Hunderte andere Besucher, viele nach einer durchtanzten Nacht. „Ich
höre noch dieses Sirren der Kugeln über unseren Köpfen, während links und
rechts Menschen getroffen werden und fallen.“
Mehr als vier Stunden schleichen sie sich mit Hunderten anderen
Überlebenden in Richtung Osten, während von den Orten Ofakim und Re’im
Schüsse herüberhallen. Nach 15 Kilometern erreicht die Gruppe das Dorf
Patisch. Nach und nach sammeln sich Überlebende in der kleinen Ortschaft,
verängstigt, erschöpft und dehydriert. „Es war reines Glück, dass sie
Patisch wohl übersehen haben, wir wären ein leichtes Ziel gewesen“, sagt
Goldcher. „Und die Armee war noch immer nirgends zu sehen.“ Freiwillige
fahren Vilker, Goldcher und Ronen nach Tel Aviv.
[2][Noch immer steht die Frage im Raum, wie es der Hamas gelingen konnte,
unter dem Radar der israelischen Sicherheitsbehörden einen Angriff dieser
Größe vorzubereiten.] „Ich fühle mich nicht mehr sicher“, sagt Goldcher.
Nicht nur, weil Armee und Geheimdienste überrascht worden sind. „Auch weil
ich nicht wusste, dass es diesen Hass auf uns gibt.“
Nach und nach hätten sie Geschichten von Freunden und aus den Medien
erfahren. Von willkürlichen Hinrichtungen, verbrannten Kindern. Von dem
Freund vom Festival, der in einem Kühlschrank versteckt überlebt habe,
während er einer Vergewaltigung zuhören musste. Ein anderer habe sich in
einer Mülltonne versteckt. „Sie haben ihn wohl gehört und in seinem
Versteck erschossen, ohne nachzuschauen, wer er war“, sagt Vilker.
## Die Realität sinkt nur langsam ins Bewusstsein
Von der Terrasse in Modi’in fällt der Blick in der Dämmerung auf sanfte
Hügel. Goldcher wirkt müde und zupft an ihren Locken, Ronens Miene lässt
sich kaum entnehmen, was in ihm vorgeht. Vilker hingegen wirkt wach und
aufmerksam. Er erzählt klar und aufgeräumt. „Meine Geschichte zu teilen ist
das Mindeste, was ich gerade tun kann“, sagt er. Auf der anderen Seite des
Tals funkeln die ersten Lichter im palästinensischen Beit Sira. Es könnte
ein idyllischer Blick sein, wenn dazwischen nicht die Sperranlage verlaufen
würde, die Israel um das besetzte Westjordanland herum und über weite
Strecken auf palästinensischem Gebiet errichtet hat.
Die drei Überlebenden sind hier bei Chaim und Niza Halfon untergekommen,
den Eltern einer Freundin. Sie haben die Gruppe zu sich geholt, als kurz
nach ihrer Rückkehr nach Tel Aviv eine Rakete im Stadtzentrum eingeschlagen
war. Hier versuchen die drei Freunde zu verarbeiten, was passiert ist. „Ein
Psychologe hat mir gesagt, es ist wichtig, in Bewegung zu bleiben, über
alles zu sprechen, was an Gefühlen kommt, mit Menschen zu sein, denen ich
vertraue“, sagt Vilker. Die Realität sinke nur langsam ins Bewusstsein,
sagen die Freunde.
„Gestern waren wir auf der Beerdigung einer Freundin in Tel Mond, danach
konnte ich kaum noch atmen“, sagt Vilker. Die Reden ihrer Eltern zu hören
und an ihrem Grab zu stehen. „Das hätte ich sein können.“ Es sei schwer zu
akzeptieren, dass es reiner Zufall war, dass ihre Rollen nicht vertauscht
seien.
Nun werden nach und nach die Namen der Getöteten bekannt. Schahak Madar war
bisher nicht dabei. Stattdessen haben seine Angehörigen sein Handy im
Gazastreifen lokalisiert. Ob er auch dort und am Leben ist, ist bisher
nicht bekannt. Noch immer wurden zahlreiche Leichen aus den überfallenen
Dörfern nicht identifiziert.
## Die meisten Opfer sind Zivilisten
Schahak könnte eine von etwa 150 Geiseln sein, die die Hamas verschleppen
konnte. Die Terroristen haben damit ein grausames Faustpfand gewonnen.
Israel ist in seiner Geschichte weit gegangen, um gefangene Staatsbürger zu
befreien. Der Soldat Gilat Schalit, der sich fünf Jahre in den Händen der
Hamas befand, wurde im Austausch gegen mehr als 1.000 palästinensische
Gefangene freigelassen. Im Fernsehen laufen Nachrichten: Seit Samstag
fliegt die Luftwaffe Angriffe auf den Gazastreifen. Im Gegensatz zu
früheren Operationen verzichtet die Armee offenbar immer wieder darauf, die
Bewohner vorzuwarnen. Die meisten Opfer der jetzigen Angriffe sind
Zivilisten.
Angesichts dieses Vorgehens ist unklar, welche Rolle das Schicksal der
Gefangenen derzeit für das militärische Vorgehen Israels hat.
Finanzminister Bezalel Smotrich hatte bereits am Samstag gesagt, die Armee
solle „die Hamas brutal treffen und die Angelegenheit der Gefangenen nicht
wesentlich berücksichtigen“. Vilker vertraut darauf, dass die Armee die
richtige Entscheidung trifft: “Nach dem, was die Hamas und die Leute, die
über die Grenze gekommen sind, getan haben, weiß ich nicht, ob es nicht
besser wäre, gleich zu sterben, als jahrelang in ihrer Gefangenschaft zu
verbringen.“
Die israelische Regierung hat Gaza seit Tagen von Strom, Wasser und
Lebensmittellieferungen abgeschnitten. Rund eine Million Menschen im Norden
Gazas wurden aufgefordert, sich in den Süden zurückzuziehen. Ein Einmarsch
mit Bodentruppen könnte kurz bevorstehen.
Auf der Terrasse in Modi’in werden im Fernsehen die jüngsten Totenzahlen
verlesen und verkündet, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und
Oppositionsführer Benny Gantz sich auf eine Notstandsregierung geeinigt
haben. Es gibt selbst gebackene Pizza zum Abendessen.
## Angriffe auf Wohnviertel
Angriffe auf Wohnviertel als Reaktion auf den Terror der Hamas? Vilker
winkt ab: Er habe stets geglaubt, die normalen Menschen in Gaza seien von
der Hamas unterdrückt und würden deren Mittel ablehnen. Nach dem Angriff
aber hätten sie auf Videos gefeiert und die Gefangenen auf der Straße
misshandelt. „Seitdem denke ich, da ist kein Platz mehr für Mitleid, es
wird uns andersherum auch nicht gewährt.“
„Ich kann mich an keinen vergleichbaren Moment in der Geschichte Israels
erinnern“, sagt Chaim Halfon, der Gastgeber, beim Abendessen. Sein Sohn
habe sich nach dem Angriff freiwillig bei der Armee gemeldet, er wolle sein
Land verteidigen. „Ich teile seinen Enthusiasmus nicht, aber ich weiß nach
diesem Anschlag: Wir haben keine Wahl, wir müssen kämpfen.“
Er deutet auf die Lichter von Sira auf der anderen Seite des Tals. Wenn
Raketenalarm ausgelöst werde, höre er die Palästinenser manchmal auf der
anderen Seite feiern. Das sei früher anders gewesen. Chaim Halfon wohnt
seit mehr als 20 Jahren hier und erinnert sich noch an den Austausch mit
den Menschen dort, bevor der Zaun beide Orte getrennt hat.
Manche Palästinenser würden nun vielleicht einen Sieg feiern, aber für
Halfon ist etwas zerbrochen. „Ich bin kein emotionaler Mensch, aber ich
fühle aus tiefstem Herzen, etwas wie dieser Angriff darf nie wieder
passieren. Wir haben noch einen langen Krieg vor uns, und am Ende werden
wir gewinnen, auch wenn es kein fröhlicher Sieg wird.“
## Der Angriff hat etwas losgetreten
Plötzlich heult eine Sirene in der Nähe auf. Eine Minute später zieht Ronen
die schwere Metalltür des Schutzraums von innen zu. Zwischen Regalen mit
eingelagerten Weingläsern, Tellern und Sitzpolstern warten Chaim Halfon,
seine Frau Niza und ihre drei Gäste mit zwei Hunden. Kurz darauf gibt es
Entwarnung: Fehlalarm.
Nach dem Essen sitzt Vilker alleine am Rand der Terrasse. Der Riss gehe
sogar noch tiefer, sagt er: „Ich hätte nie gedacht, das einmal zu sagen,
aber auch die arabischen Israelis müssen sich entscheiden. Sie müssen
zeigen, dass sie auf unserer Seite stehen und verurteilen, was uns passiert
ist. Sonst können sie nicht mehr Teil dieses Landes sein.“ Er selbst habe
immer auf Frieden gehofft. Jetzt sehe er diese Möglichkeit nicht mehr. Dass
jeder fünfte Israeli arabisch oder palästinensisch ist? „Völlig egal! Wir
haben lange genug halbe Sachen probiert.“
Der brutale Angriff der Hamas – er hat etwas losgetreten im Nahostkonflikt;
eine Dynamik, die derzeit kaum noch jemand zu kontrollieren scheint.
13 Oct 2023
## LINKS
[1] /Hamas-Anschlaege-auf-Israel/!5962557
[2] /Hamas-Angriff-auf-Israel/!5965572
## AUTOREN
Felix Wellisch
## TAGS
Gaza
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Longread
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
Gaza
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Terror der Hamas: Der Tag danach
Frieden zwischen Israelis und Palästinensern scheint weiter entfernt denn
je. Unser Autor will an der Idee der Aussöhnung festhalten. Eine Utopie.
Musikmanager über Clubszene nach 7.10.: „Wir Juden erholen uns immer davon“
Der israelische Musikmanager Guy Dreifuss spricht über die Situation der
Clubzene seit dem 7. Oktober. Auch finanziell sei es zunehmend schwierig.
Nach dem Angriff auf Israel: Schwarz-weißer Naher Osten
Die Fronten verhärten sich im Diskurs um die Entwicklungen in Israel und im
Gazastreifen. Für die Lösungssuche ist das wenig hilfreich.
Krieg in Nahost: Drahtseilakt im Westjordanland
Die humanitäre Krise in Gaza spitzt sich weiter zu. Nach langem Zögern hat
sich der palästinensische Präsident von dem Angriff der Hamas distanziert.
Vorgeschichte des Angriffs auf Israel: Wie Gaza zu Gaza wurde
Der Küstenstreifen und Israel haben eine wechselvolle Geschichte. Von
weitgehend friedlichem Grenzverkehr in den Achtzigern zu Terror und
Blockade.
Krieg im Nahen Osten: Die Angst greift um sich in Gaza
Tausende fliehen in Richtung Süden des Küstenstreifens, die Hamas fordert
sie auf zu bleiben. Präsident Abbas warnt vor einer „zweiten Nakba“.
Unter israelischer Belagerung: Leben am Limit im Gazastreifen
Die Lage im Gazastreifen spitzt sich zu. 340.000 Menschen sind auf der
Flucht, es gibt nur wenig Strom und Wasser. Israel setzt weiter auf
Blockade.
Scholz im Bundestag zu Hamas-Angriff: „An der Seite Israels“
Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilt den Hamas-Terror mit deutlichen
Worten. Die Bundesregierung werde Israel konkret unterstützen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.