# taz.de -- Alltag mit dem Coronavirus in China: Peking, stillgelegt | |
> Cherie Liu lädt zum Italiener ein, weil sie sich nicht einschränken will. | |
> Andere Pekinger sind vorsichtiger. Wie ein Virus das öffentliche Leben | |
> lahmlegt. | |
Bild: Platz des himmlischen Friedens, Peking: Mao ist noch da, ein Besuch ist v… | |
Cherie Liu verbringt den Freitagabend mit ihren Freunden beim | |
Nobel-Italiener im Penkinger Ausgehviertel Sanlitun. Kellnerinnen mit | |
schwarzen Masken im Gesicht servieren Rotwein, Pizzen mit Büffelmozarella | |
und üppige Salatbeilagen. „Jetzt flippen die Leute aus und kaufen | |
Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel ohne Ende. Noch vor wenigen Wochen | |
wussten viele von uns nicht einmal, was [1][das Wort Quarantäne] überhaupt | |
bedeutet“, sagt die 32-jährige Chinesin und schmunzelt den Unglauben über | |
ihre panischen Mitmenschen weg. Ihre Lippen hat sie mit knallrotem | |
Lippenstift geschminkt und die Haare zum Zopf gebunden. Eine Handvoll | |
Bekannte sind ihrer Einladung zum gemeinsamen Abendessen in das bis auf | |
wenige Touristen leere Restaurant gefolgt. | |
Wenige Stunden vor Cherie Lius Abendessen hat die | |
Weltgesundheitsorganisation wegen des Coronavirus eine „internationale | |
Notlage“ ausgerufen. Die meisten ihrer Freundinnen würden sich regelrecht | |
in eine Paranoia hineinsteigern, sagt die Angestellte einer | |
Marketing-Agentur. Sie selbst habe sich hingegen bewusst dazu entschieden, | |
Ruhe walten zu lassen. „Unser zentralisiertes System ist sehr effizient. | |
Die Regierung schickt unzählige Ärzte nach Wuhan und baut zwei Spitäler aus | |
dem Nichts. Welches Land außer China kann das innerhalb so kurzer Zeit | |
zustande bringen?“, sagt Cherie Liu, die sich als „Patriotin“ bezeichnet. | |
Doch trotz dieser staatlichen Gegenmaßnahmen [2][verbreitet sich das | |
Coronavirus rasant]. Bis zum Montag haben die Behörden landesweit 16.582 | |
Infizierte und 360 Todesfälle bestätigt. Damit sind bereits deutlich mehr | |
Menschen in Festlandchina an dem neuartigen Lungenerreger verstorben als zu | |
Zeiten der Sars-Epidemie vor 17 Jahren, die als schwerwiegendste ihrer Art | |
gilt. | |
Die besorgniserregenden Statistiken finden zunehmend im Ausland Widerhall: | |
Die Vereinigten Staaten haben ihre Bürger dringend davon abgeraten, Reisen | |
nach China zu unternehmen. Fast alle Industrienationen haben ihre | |
Staatsbürger aus den Quarantänegebieten in der Provinz Hubei evakuiert, | |
darunter Frankreich und Deutschland. Etliche Fluglinien kappen ihre | |
Verbindungen in die Volksrepublik. Russland hat seine Landesgrenze nach | |
China geschlossen, auch Taiwan und Singapur schotten sich gegen Ankömmlinge | |
aus dem chinesischen Festland ab. | |
Von Panik könne jedoch gar keine Rede sein, vielmehr seien die Leute | |
gelangweilt, versichert die Pekingerin Cherie Liu, während die Bedienung | |
die ersten Nachspeisen an den Tisch bringt. Wie zum Beweis zückt sie ihr | |
Smartphone hervor und öffnet eine App, die mit dem Titel „Das kleine rote | |
Buch“ den gleichen Namen trägt wie die ikonische Zitatensammlung von Mao | |
Zedong. Dort laden unzählige Chinesen kurze Videoclips hoch, wie sie den | |
monotonen Alltag unter Quarantäne verbringen – von Tanzeinlagen in den | |
eigenen vier Wänden bis hin zu Badminton-Matches im Innenhof. Gesammelt | |
sind die Beiträge unter dem Hashtag „Heimtagebuch“ – angesichts der | |
stillgelegten Bahnhöfe, Hausarreste und Autofahrverbote eine erstaunliche | |
Verniedlichung der Gesundheitskrise. | |
Auf einer besonders oft geklickten „Heimtagebuch“-Aufnahme ist eine | |
spontan verabredete Aktion der Bewohner Wuhans zu sehen, des Zentrums der | |
Epidemie: Abertausende unter Hausarrest stehende Menschen öffnen um Punkt | |
acht Uhr abends die Fenster ihrer Wohnungen und stimmen einen | |
Solidaritäts-Chor in den sternenklaren Himmel an. „Wuhan, Jiāyóu!“, rufen | |
sie immer und immer wieder. Ein Idiom, das sich am ehesten mit „auftanken“ | |
übersetzen lässt und als Durchhalteparole gemeint ist. | |
Doch in den sozialen Medien lässt sich ebenso eine ganz andere, düstere | |
Wirklichkeit beobachten. In unverblümter, teils gehässiger Sprache wettern | |
chinesische User gegen inkompetente Parteikader. Als etwa der Bürgermeister | |
von Wuhan auf einer öffentlichen Veranstaltung seine Gesichtsmaske | |
offensichtlich falsch herum trägt, wird dies als Beweis für seine | |
Realitätsferne herangezogen. Noch mehr Spott muss sich sein direkter | |
Vorgesetzter gefallen lassen: Auf einer Pressekonferenz gerät der | |
Lokalgouverneur der Provinz Hubei bei einer für die Viruskontaminierung | |
essenziellen Frage ins Straucheln. Wie viele Atemschutzmasken man | |
produziere, will ein Journalist wissen. Von 10,8 Milliarden Stück pro Jahr | |
spricht Wang Xiaodong zunächst, bis ihm schließlich ein Papierausdruck zur | |
Korrektur vorgelegt wird. „Tatsächlich sind es 1,8 Milliarden“, setzt Wang | |
schließlich zum zweiten Versuch an – nur um wenige Minuten später zugeben | |
zu müssen, dass die richtige Zahl bei lediglich 1,8 Millionen liegt. „Kein | |
Wunder, dass die Erreger sich so stark ausbreiten konnten“, erregt sich ein | |
Nutzer auf Weibo, einer Art chinesisches Twitter. | |
In den letzten Tagen kommen immer mehr Details darüber ans Tageslicht, wie | |
die Lokalregierung von Wuhan das Coronavirus in den ersten Wochen zu | |
verschleiern versucht hat. Chinesische Forscher haben in einer aktuellen | |
Studie – publiziert im renommierten The New England Journal of Medicine – | |
dargelegt, dass bereits Mitte Dezember 2019 Beweise vorlagen, dass die | |
Erreger der Lungenkrankheit von Mensch zu Mensch übertragen werden können. | |
Zu jenem Zeitpunkt wusste die chinesische Öffentlichkeit noch nichts über | |
einen möglichen Virusausbruch. Erstmals publizierten Anfang Januar | |
Krankenhausmitarbeiter auf sozialen Medien über eine „mysteriöse | |
Lungenseuche“. Wegen „Verbreitung von Gerüchten“ wurden diese jedoch | |
vorübergehend festgenommen. | |
„Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Parteikader die negative | |
Nachricht über das Virus verschwiegen haben, weil das künftige | |
Beförderungen zunichtegemacht hätte“, sagt ein Mittdreißiger in Peking beim | |
Feierabendbier. Unter vorgehaltener Hand äußern sich viele junge Chinesen | |
in der Hauptstadt kritisch über das bleierne Gesellschaftsklima, seitdem | |
Präsident Xi Jinping an der Macht ist: „Wir können einfach nicht mehr so | |
offen reden. Leute wie ich, die eigentlich nur das Beste für unser Land | |
wollen, fragen sich irgendwann: Wieso können wir keine offenen | |
Informationen im Internet empfangen?“ Ob Google, Facebook oder die New York | |
Times: Waren viele Onlineplattformen aus dem Ausland vor zehn Jahren noch | |
offen zugänglich, sind diese im chinesischen Internet längst gesperrt. Nur | |
wer eine per Gesetz illegale VPN-Software besitzt, kann sich wirklich frei | |
informieren – auch über den Virusausbruch. | |
Hinter der „chinesischen Firewall“ agieren die Behörden zunehmend nervös. | |
Internetnutzer und Zensoren liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel – etwa bei | |
den Livestreams der täglichen Pressekonferenz der Gesundheitskommission, | |
die in kritischen Kommentaren regelrecht untergehen: „So einen Mist muss | |
ich mir echt nicht anschauen!“, schreibt dort ein Nutzer. Ein anderer | |
postet: „Unser Leben scheint nicht mehr Wert zu haben als das eines | |
Insekts. Leute, bitte wacht endlich auf!“. Kurze Zeit später sind die | |
Kommentare bereits gelöscht, nur um wenig später an anderer Stelle wieder | |
neu aufzutauchen. Am Ende sitzt die staatliche Hand jedoch am längeren | |
Hebel. „Die Anleitung der öffentlichen Meinung stärken“, nennt es Chinas | |
Präsident Xi Jinping. Je größer die Krise, desto stärker wird die Kontrolle | |
über öffentliche Botschaften ausgeübt. | |
Am Montagmorgen lädt das staatliche Informationsbüro zur Pressekonferenz. | |
Nur einen Steinwurf vom Platz des Himmlischen Friedens entfernt finden sich | |
über 200 Journalisten mit Gesichtsmasken in einem pompösen Briefing-Raum | |
ein: marmorne Wände, Säulenkolumnen, mit Stuck verzierte Decken. | |
Regierungsvertreter in Schlips und Anzug von gleich sechs verschiedenen | |
Ministerien treten vor die Öffentlichkeit, um über die Versorgungslage in | |
den Quarantänegebieten in und um Wuhan zu berichten. | |
Die Aufführung soll die Effizienz der staatlich gelenkten Wirtschaft | |
verdeutlichen, die beachtliche Gegenmaßnahmen zur Viruseindämmung | |
unternimmt: Dutzende Unternehmen sind angehalten, trotz der Neujahrsferien | |
ihre Produktion aufzunehmen und Wuhan mit Gesichtsmasken und Schutzanzügen | |
zu versorgen. Mehrere Provinzen beliefern die abgesperrten Gebiete mit Reis | |
und frischem Gemüse. Systematisch werden Gesundheits-Checks im öffentlichen | |
Raum installiert, zudem sämtliche Ferntransportmittel im Land täglich | |
desinfiziert. Die Kernaussage spricht jeder der Ministerialbeamten am Ende | |
seines Vortrags aus: „Den Kampf gegen das Virus werden wir letztendlich | |
gewinnen.“ | |
Doch bis dahin wird jener Kampf auch wirtschaftliche Einbußen kosten. In | |
einer ersten Einschätzung geht der Analysedienst Economist Intelligence | |
Unit von einem Einbruch des Wirtschaftswachstums von bis zu 1 Prozentpunkt | |
für 2020 aus. | |
Orientierung gibt der historische Vergleich mit der Sars-Epidemie in den | |
Jahren 2002 und 2003: Allein im chinesischen Tourismussektor brachen die | |
Einnahmen im Jahr 2003 um bis zu 60 Prozent ein. Die US-Denkfabrik „Center | |
for International Development“ beziffert den finanziellen Schaden für China | |
auf insgesamt 25 Milliarden US-Dollar. „Dieses Mal könnten die Auswirkungen | |
leicht höher ausfallen, weil Chinas Anteil am globalen Bruttosozialprodukt | |
zugenommen hat und Privatkonsum im Land eine wichtigere Rolle spielt“, sagt | |
Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. | |
## Die Straßen Pekings sind gespenstisch leer | |
Wie tiefgreifend der Virusausbruch den chinesischen Alltag verändert, | |
beweist ein bloßer Blick auf die gespenstisch leeren Straßen der Pekinger | |
Innenstadt. Die Verbotene Stadt ist geschlossen, genau wie sämtliche Tempel | |
und Palastanlagen. Die wenigen Restaurants, die geöffnet sind, haben vor | |
ihren Türen provisorische Marktstände aufgebaut: Wegen der ausbleibenden | |
Kundschaft verscherbeln sie ihre allmählich ablaufenden Vorräte aus der | |
Gemüsekammer. Die meisten Wohnanlagen sind zudem von den Behörden dazu | |
angehalten, keine Besucher mehr hereinzulassen – ganz gleich ob es sich um | |
Essenskuriere oder Bekanntschaften handelt. | |
Das öffentliche Leben ist de facto zum Stillstand gekommen: Die meisten | |
Unternehmen haben ihren Mitarbeitern eine Woche freigegeben oder | |
Home-Office verordnet. Die Universitäten, Schulen und Kindergärten sind bis | |
auf Weiteres geschlossen. | |
Wer die U-Bahn nehmen möchte, bekommt zunächst einen Temperaturscanner in | |
Form einer kleinen Handfeuerpistole an die Stirn gehalten. Züge, die zu | |
Pendlerzeiten normalerweise berstend voll wären, sind an diesem | |
Montagmorgen um neun Uhr lediglich mit einer Handvoll Menschen bestückt. | |
Manche tragen neben den Gesichtsmasken auch Sonnenbrillen, um ihre Augen | |
vor der Aufnahme der Erreger zu schützen. Auf den TV-Displays an den | |
Zugwänden erklärt ein Nachrichtensprecher, wie man Atemschutzmasken | |
fachgerecht ans Gesicht legt: „Ebenfalls wichtig ist die Hygiene: Es ist | |
gar nicht so leicht, sich wirklich gründlich die Hände zu waschen…“ | |
Und doch ist dies kein Vergleich zum Epizentrum in der Region Wuhan, in der | |
die U-Bahnen gar nicht mehr fahren und die rund 40 Millionen dort lebende | |
Menschen nicht mehr verlassen dürfen. „Momentan sind wir wirklich ein | |
bisschen nervös“, sagt Timo Balz, der bereits seit zehn Jahren in der | |
Elf-Millionen-Metropole lebt und dort an der Universität unterrichtet. Als | |
einer von wenigen Deutschen hat sich der 45-Jährige dazu entschieden, trotz | |
der angebotenen Evakuierung die Stadt nicht zu verlassen – auch seiner | |
chinesischen Frau wegen, die möglicherweise zurückbleiben müsste. | |
Alltag sei trotz der angespannten Lage weiter möglich, sagt Balz. Zumindest | |
einmal am Tag versuche er mit seiner Familie an die frische Luft zu kommen. | |
Man müsse dabei ein paar Grundregeln beachten: Menschenmassen vermeiden, | |
möglichst oft die Hände waschen, genügend Gesichtsmasken vorrätig halten. | |
Am Mittwoch vergangener Woche jedoch teilt die Wohnverwaltung mit, dass das | |
Coronavirus nun auch in der eigenen Apartmentsiedlung Einzug gehalten hat: | |
Vier Bewohner sollen sich infiziert haben, einer sei verstorben. „Für uns | |
bedeutet das, erst einmal zu Hause bleiben zu müssen und auf die | |
Spaziergänge zu verzichten“, sagt Balz, der zwei Kinder im schulpflichtigen | |
Alter hat: „Denen dürfte schon bald die Decke auf den Kopf fallen.“ | |
4 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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