| # taz.de -- Abschied von Jogi Löw: Mit Stil gesiegt, mit Stil verloren | |
| > Joachim Löw hat sich zu spät vom Amt getrennt? Von wegen. Er ist eine | |
| > ganz zentrale Figur im bundesdeutschen Kulturwandel. | |
| Bild: Das „Wie“ im Fußball steht ganz oben bei Joachim Löw | |
| „Hat seine Verdienste, keine Frage, [1][aber er ging einfach zu spät]“ – | |
| wer das über den Bundestrainer Joachim Löw sagt, der kann sich sicher | |
| fühlen als Teil einer absoluten Mehrheit der konformistischen Checker. | |
| Glückwunsch dazu. Ich gebe zu: Es gibt gute Argumente und es klingt | |
| logisch. Aber hält es einem vertieften Nachdenken stand? | |
| Vielleicht sollte ich sicherheitshalber sagen, dass ich seit einigen Jahren | |
| bei manchen Leuten als Jogis letzter Fan verschrien war. Der eine, der | |
| einfach nicht kapierte, was alle anderen längst sahen, weil es ja ein | |
| Blinder sah. Dass es vorbei war. Mindestens seit 2018, im Grunde schon seit | |
| 2016 oder, seien wir ehrlich, eigentlich schon seit 2014. Hätte Löw direkt | |
| nach dem Gewinn des Weltmeistertitels aufgehört, dann wäre er sicherlich | |
| unsterblich geworden. | |
| Aber, Leute, werden wir mal existenziell: Hat schon mal einer einen | |
| Grabstein gesehen, auf dem stand: Er ging einfach zu spät? Sollte man denn | |
| nach der Abifeier seines Kindes gehen oder gleich nach der Geburt, weil es | |
| besser nicht mehr werden kann? Das ist doch scheiße. Unsere tiefste und | |
| schlimmste menschliche Angst ist nicht, dass jemand zu spät geht. Sondern, | |
| dass jemand zu früh geht, vor allem man selbst. | |
| Selbstverständlich wird der Fußball immer von hinten analysiert, wenn man | |
| das Ergebnis kennt, und dann fabriziert man eine stringente Logik. Aber wer | |
| selbst schon aus dem Stadion heraus Spielberichte geschrieben hat, der | |
| weiß, dass alles ganz anders aussieht, wenn in den letzten fünf Minuten | |
| noch ein Tor fällt, das das Spiel kippen lässt. Dann schreibt man das | |
| Gegenteil von dem, was gerade noch als supersolide Analyse galt. | |
| ## Es hätte alles anders kommen können | |
| Die deutsche Mannschaft, zuvor zu fragil in der Defensive, spielte im | |
| verlorenen Achtelfinale gegen England offensichtlich mit der Hauptprämisse, | |
| die Null und die Ordnung zu halten und aus dieser Ordnung und der | |
| Spielkontrolle heraus gegen selbst extrem vorsichtige Engländer hin und | |
| wieder Bälle durchs Zentrum durchzustecken, die den oder die entscheidenden | |
| Treffer bringen sollten. Zwei-, dreimal gelang das ideal, und hätten | |
| Werner, Havertz und Müller getroffen, wäre Löw ein weiteres Mal der Größte | |
| gewesen. | |
| So entschieden zwei handwerkliche Zuordnungsfehler vor den englischen | |
| Treffern, und am Ende wird dies alles eingepreist in das Geraune, dass es | |
| Kroos schon lange nicht mehr bringe und Sané entweder zu viel oder zu wenig | |
| spielte und es überhaupt ein Riesenfehler gewesen sei, Hummels und Müller | |
| zurückzuholen. Das sagen vor allem die, die zwei Jahre lang quakten, es sei | |
| ein Riesenfehler gewesen, Hummels und Müller nicht mehr zu nominieren. | |
| ## Das Gefühl war nie wirklich gut | |
| Stimmt schon, [2][das Gefühl war diesmal nie wirklich gut], was die Balance | |
| zwischen Defensive und Offensive angeht, aber glaubt denn wirklich jemand, | |
| dass der Bundestrainer in den letzten Wochen nicht tausendmal hin und her | |
| überlegt hat, warum er auf Dreierkette geht und ob sich Kroos und Gündoğan | |
| super ergänzen oder more of the same sind? Im Übrigen: Erinnert sich jemand | |
| an diverse Spiele bei der WM 2014: Ghana, USA, Algerien, Frankreich? | |
| Deutschland mit vier Innenverteidigern, alles auf Messers Schneide, hopp | |
| oder topp. | |
| So ist das bei solchen Turnieren, und alles ist so eng und von Zufällen | |
| abhängig, dass es auch die Besten erwischen kann. Frag mal Didier Deschamps | |
| oder die Brasilianer von 1982, die Holländer von 1974. Klar kann man mit | |
| Verweis auf die Statistik sagen: Hier, bitte, Löw war sechsmal nacheinander | |
| mindestens im Halbfinale und flog am Ende zweimal früh raus. Aber das ist | |
| eine Pseudo-Evidenz. Es war auch dieses Mal wieder alles möglich. Und es | |
| war erst vorbei, als es vorbei war. Also nach dem zweiten Tor der | |
| Engländer. | |
| ## Abschied mit Lächeln | |
| Dann stand er plötzlich als Ex-Bundestrainer auf dem Rasen des Londoner | |
| Wembley-Stadions vor der ARD-Kamera, sein alter Recke Schweini versuchte | |
| eine freundliche Grabrede, und man sah, dass Joachim Löw sehr, sehr | |
| angefasst war. Er wollte nicht zu den Standardsätzen greifen, er konnte | |
| aber auch nicht groß sprechen. So lächelte er vor sich hin, um seine | |
| Verlegenheit zu kaschieren, hielt dann wieder inne, als fiele ihm ein, dass | |
| man ja traditionell nach Niederlagen nicht lächeln durfte, weil das den | |
| Alttypus des deutschen Normal- und Gelegenheitsfans noch stinkiger machte. | |
| Aber dann lächelte er doch wieder. | |
| Was ich sagen will: Joachim Löw hat einen Unterschied gemacht. Selbst das | |
| ganze Gemaule ist geprägt von ihm. Wir maulen anders, wir maulen | |
| fachlicher, wir reden auch deshalb so über Fußball, weil es Joachim Löw | |
| gegeben hat. Wir denken über Fußball, wie wir es tun, weil Joachim Löw 15 | |
| Jahre lang Bundestrainer war. Viele Bundesdeutsche kennen gar keinen | |
| anderen mehr, allenfalls noch seinen Vorgänger und Wegbereiter [3][Jürgen | |
| Klinsmann]. | |
| ## Fußball zum Wegschauen | |
| Aber um mal vom Krieg zu erzählen: Vor Klinsmann und Löw war die | |
| Nationalmannschaft in der Hand der Bild-Zeitung. Von Helmut Schön mal | |
| abgesehen: Beckenbauer, Vogts, Ribbeck, Völler – Fußball zum Wegschauen. Da | |
| rannte der deutsche Manndecker seinen Gegenspielern noch bis aufs Klo nach, | |
| es wurde von „deutschen Tugenden“ gefaselt, und wir dachten wirklich, dass | |
| wir Fußballspiele und Titel gewinnen, weil wir zwar nicht spielen können, | |
| aber besser „kämpfen“ als alle anderen, vor allem, wenn es regnet (wie | |
| 1954). „Schönspieler“ war bei uns ganz selbstverständlich und kulturell | |
| verankert ein Schimpfwort. Wir waren reaktionär und fachlich ungebildet. | |
| Das änderte sich nicht nur, aber schon auch durch Löw, der mit seinen | |
| Leuten eine moderne, internationale Brand entwickelte und das schöne Spiel, | |
| das „Jogi Bonito“, einen dominanzorientierten Ballbesitzfußball mit | |
| unterschiedlichen Varianten. Bisweilen sehr pragmatisch, aber oft auch | |
| spektakulär für Fachleute und Gelegenheitsfans. Wie der Freiburger | |
| Fußballdenker Ulrich Fuchs zu Löws 60. Geburtstag schrieb: „Das ist sein | |
| historisches Verdienst: Auf Verbandsebene den Beweis erbracht zu haben, | |
| dass Fußball auf der Höhe der Zeit nicht nur erfolgreich gespielt, sondern | |
| auch ästhetisch begründet werden kann.“ Genau, wie es César Luis Menotti | |
| postuliert hat, der Trainergott der Linken. | |
| ## Bundesdeutscher Kulturwandel | |
| Also: Löw ist eine zentrale Figur im bundesdeutschen Kulturwandel, der die | |
| Sport- und Unterhaltungsbranche betrifft, das andere Sprechen und Denken | |
| über Fußball, und auch den – womöglich nur zwischenzeitlichen – | |
| emanzipatorischen Fortschritt des Deutschen Fußball-Bundes. Darüber hinaus | |
| hat Joachim Löw, ohne das zu wollen und vielleicht sogar ohne es zu wissen, | |
| mit seinem Jogi-Sein die Gesellschaft verändert. Er hat Leute aggressiv | |
| gemacht, vor allem konservative und reaktionäre, aber er hat damit in der | |
| Gesamtgesellschaft die Art verändert, wie wir deutsche Passbesitzer und | |
| Verfassungspatrioten uns sehen, und wie wir gerne wären, auch wenn wir es | |
| noch nicht sind. | |
| Wir wollen den Ball flach halten. Wir wollen gewinnen, möglichst oft, aber | |
| nicht mit nationalen „Tugenden“, sondern mit flachen Hierarchien, mit | |
| internationalem Know-how, in einer Allianz der Verschiedenen – und mit | |
| Stil. Wir wollen nicht verlieren, aber wenn es denn sein muss, dann auch | |
| mit Stil. Deshalb ist es eine angemessene Ikonografie, dass Joachim Löw das | |
| Wembley-Stadion nicht in Wut, Selbstmitleid oder Zerknirschung verließ, | |
| sondern mit einem Lächeln im Gesicht. | |
| 2 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://11freunde.de/artikel/das-unruehmliche-ende-einer-ruhmreichen-aera/4… | |
| [2] /Abgang-von-Bundestrainer-Joachim-Loew/!5779272 | |
| [3] /Turbulenzen-bei-Hertha-BSC/!5664018 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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