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# taz.de -- Abgehängt in Frankreich: Frustriert auch ohne gelbe Weste
> Fünf Millionen Franzosen leben in sogenannten Problemvierteln. Ihr Alltag
> ist geprägt von Armut, Kriminalität und Polizeigewalt.
Bild: Die Bilder aus Mantes-la-Jolie wurden von Protestierenden wiederholt symb…
Mantes-la-Jolie taz | „Shalkce“. Eigentlich dreht sich dieser Text im Kern
darum, warum die Menschen der französischen Vorstädte sich der aktuellen
Gelbwesten-Bewegung nicht zugehörig fühlen. In der Bar „Le Lutetia“ in
Mantes-la-Jolie nicht weit von Paris geht es aber erst mal um „Shalkce“. So
kündigt es zumindest der Untertitel für Gehörlose im Fernsehen an. Statt
gegen Präsident Macron auf die Straße zu gehen, wird hier deutscher Fußball
geguckt. In der Bar „Le Lutetia“ ist es laut. Und der Tresenmann? Er kennt
den TSV 1860 München, als der vor Urzeiten mal Erstligist war. „Madame,
nehmen Sie noch ein Bierchen?“
Es verhält sich bodenständig und freundlich hier rund um den Bahnhof.
Mantes, wie die Einheimischen sagen, hat rund 45.000 Einwohner, die
Arbeitslosenquote liegt je nach Viertel teilweise bei fast 25 Prozent. Die
Kleinstadt direkt an der Seine ist 50 Kilometer von Paris entfernt und noch
auf der Île-de-France. So heißt der Großraum der Hauptstadt: In ihm leben
zirka 12,2 Millionen Menschen – fast 20 Prozent der Französ*innen leben
also auf nur 2,2 Prozent der gesamten Landesfläche.
„Das stresst“, sagt Hassan, Mitte vierzig und Tresengast. Er macht
technische Gemeindedienste und er ist zu Hause im Viertel Val Fourré, einer
Trabantensiedlung am Rande von Mantes, die von 1959 bis 1977 entstand.
Heute leben dort nur noch rund 7.000 Menschen von einst über 20.000 – schon
ab Anfang der 1990er Jahre wurden immer wieder Hochhäuser in der extrem
verdichteten problematischen Zone gesprengt.
Hassan will nicht seinen ganzen Namen preisgeben, er fürchtet Jobprobleme.
Der gebürtige Marokkaner, der wie die meisten Bewohner*innen der
sogenannten Cités (siehe Kasten) einen französischen Pass hat, bestellt
noch einen Espresso. Im Val Fourré, einem der vielen „quartiers sensibles“
des Landes, sei man unter sich. „Wir sind schon seit mindestens 20 Jahren
kein gemischtes Viertel mehr. Von den ‚echten‘ Franzosen setzt hier fast
niemand einen Fuß rein.“
## Nur für „echte“ Franzosen
Und die Gilets jaunes? Die Bewegung, die mit ihren Aktionen so viele
Verletzte und vorübergehende Festnahmen ausgelöst hat, wie seit dem
tumultartigen Mai 1968 nicht mehr? „Die Gelbwesten“, sagt Hassan, „na ja
,das sind eben ‚les français‘, die sich jetzt gegen ihren ‚roi‘, gegen
ihren König Macron, stellen. Die Leute, die da aufbegehren, das sind nicht
wir, das ist nicht die Banlieue.“ Die Probleme, etwa das fehlende
Haushaltseinkommen oder die schlechten Jobs, die seien zwar teilweise in
den oft armen, migrantischen Problembezirken innerhalb und außerhalb der
Städte die gleichen. „Aber die allermeisten von uns hier haben sich längst
damit abgefunden, dass, egal welche Regierung und welcher Präsident dran
sind, sich an unserer Misere nichts ändert.“ Den Gelbwesten wünscht Hassan
„viel Glück, zumindest denen, die keine Rechten sind.“ Es sei schon
erstaunlich, wie schnell „der weiße Durchschnittsfranzose“ zumindest
monetäre Verbesserungen erzwingen könne. „So ein Einlenken, das gibt es für
die Banlieue nicht.“
Auf das Gemeindeamt von Val Fourré scheint am nächsten Morgen, an einem
belebten, leicht rumpeligen Marktplatz mit Geschäften und Straßencafés, die
Sonne. Ihre Strahlen, sie verschieben im Eingang der Gemeinde den
Schattenwurf des dort angebrachten Mottos „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit“ stetig nach rechts. Hassan, zuverlässiger, sympathischer
Blick, wohnt hier nahbei. Und er hat einen 16-jährigen Sohn Ali.
Am 6. Dezember, knapp drei Wochen ist es her, rät er ihm, nicht zur Schule
zu gehen. Er macht sich Sorgen, er hat gehört, dass es erneut zu
Demonstrationen rund um das Lycée von Ali, das Saint-Exupéry, kommt. Die
„Saint-Ex“ genannte Schule, ein großer und gesichtsloser Bau, hat ein
weites Einzugsgebiet – hier funktioniert, am Cité-Rand gelegen, zumindest
die soziale Mischung.
Schüler*innen dort zwischen 15 und 18 Jahren protestieren, wie vielerorts
in Frankreich dieser Tage, unter anderem gegen eine Abiturneuordnung und
eine aus ihrer Sicht ungerechte Neuregelung des Hochschulzugangs. Sie sind
nicht Teil der Gelbwesten, sie haben sich aber angehängt an den hohen
Mobilisierungsgrad der Bewegung. Seit dem 4. Dezember mischten sich auch in
Mantes Leute unter die allermeist friedlichen Demonstrant*innen, die auf
Krawall und Sachbeschädigung aus waren. Mülltonnen brennen, auch zwei
geparkte Autos. Zunehmend wird es gewalttätiger, die Polizei setzt
Tränengas ein und die in Deutschland verbotenen Hartgummigeschosse.
Am 6. Dezember verpasst dann ein [1][um die Welt gehendes Video] der
tatsächlich hübschen Kleinstadt Mantes-la-Jolie (joli/e heißt hübsch auf
Französisch, Anm. der Red.) ein gravierendes Imageproblem. [2][Es zeigt,
wie rund 150 junge Menschen] zwischen 12 und 19 Jahren am abrupten Ende
einer Demonstration des „Saint-Ex“ und umliegender anderer Schulen in einem
Hof kollektiv niederknien. Die meisten tragen Handschellen oder Kabelbinder
um die Hände. Alle haben die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie starren
gegen Wände oder sie starren auf die Rucksäcke der anderen. Manche Augen
sind aufgerissen, andere geschlossen.
Einige Schüler*innen haben in dieser martialisch anmutenden Aktion solche
Angst, dass sie später berichten, sich in die Hose gemacht zu haben und so
stundenlang eingenässt blieben. Vor Ort ist die Police Nationale und die zu
ihr gehörende CSI, eine spezielle regionale Schutzpolizei. Ein schwer
bewaffneter CSI-Polizist filmt die letztlich stundenlang andauernde Szene.
Dessen Autorenschaft ist mittlerweise eindeutig bewiesen; das Video
erscheint am selben Tag auf Twitter. Aus dem Video-Off kommt die Stimme:
„Da haben wir aber mal eine brave Klasse.“ Eine Demütigung wie aus dem
Lehrbuch.
Yasser Sriti, 17, ist einer der 151 Festgesetzten von Anfang Dezember. Er
kommt in einer Schulpause mit seiner Mutter Rachida in das kleine
marokkanische Imbisslokal „Délices de Fez“. Schräg gegenüber liegt es vom
„Saint-Ex“ und Yasser zieht sich erst mal einen „gateau“ rein, ein
Küchlein, verziert mit Smarties. Er wirkt besonnen und offen, „ich hatte
bis zu diesem Tag nichts mit der Polizei am Start.“ Das ist in einem
schwierigen Bezirk wie Val Fourré und gerade bei jungen Männern eher eine
Seltenheit. Personenkontrollen durch die patrouillierende Polizei kommen
hier wie überall im Land sehr häufig und oft völlig anhaltslos vor. Sie
betreffen fast nur arabische oder nichtweiße Männer, besonders jüngere.
Immer wieder gibt es Berichte von rassistischen Sprüchen und zum Teil
brutal auftretender Polizei.
Yassers Mutter Rachida, 39, die auf Lehramt studiert, hat kurz nach der
Festsetzung und den vorübergehenden Festnahmen der 151 jungen Leute, das
„C.D.J.M“ mitbegründet, das [3][„Kollektiv zur Verteidigung junger Mensc…
aus dem Raum Mantes“]. Mittlerweile gibt es über 30 Betroffene und
Unterstützer*innen, die aktiv im Kollektiv sind. Unterstützt von drei
gratis arbeitenden Pariser Anwälten, hat es bis jetzt bereits mehr als 30
Strafanzeigen und ebenso viele Zivilklagen bei der Staatsanwaltschaft von
Versailles gestellt. Außerdem hat die Schülergewekschaft UNL-SD Anzeige
erstattet.
## 15 in einer Zelle
Gegen unbekannt hat der Jurist Arié Alimi im Auftrag des Kollektivs jeweils
einen „Akt der Folter- und Barbarei“ angezeigt sowie „illegale Verbreitung
von Videos gefesselter Personen“. Die Ermittlungen laufen. Und „wir
fordern“, so Rachida, „im neuen Jahr offene Gespräche mit der Schule, dem
Bürgermeister – und der Polizei.“ Von diesen Seiten sei bis jetzt nichts
gekommen.
Yasser schildert im Imbiss noch mal seine Erlebnisse, er bleibt ruhig,
redet sanft. Er berichtet, wie die Polizei die Jugendlichen eingekesselt,
zusammengetrieben habe in einem schulnahen Hof und mit Ausdrücken wie „der
Araber da, der Bimbo da“. Manche Mitschüler hätten auf Knien und mit
gefesselten Händen über drei Stunden warten müssen, bis ihre Personalien
ermittelt und sie zu einer Wache gefahren wurden. Yasser hatte „Glück“, wie
er es nennt – nach 35 Minuten brachten sie ihn zum „Hôtel de Police“ von
Mantes. „Wir waren über Nacht 15 Schüler in einer Zelle für fünf. Ich habe
mich wie ein Tier gefühlt. Wasser wurde uns nur selten gegeben.“
Irgendwann, Yasser nahm kein Essen zu sich, sei ihm ein Beamter mit einem
Wattestäbchen im Mund herumgefahren. „Er wollte durch eine Speichelprobe
herauskriegen, ob ich jemand vergewaltigt hatte. Es war einfach eklig.“ Für
Yasser, der 2020 sein Abitur macht, steht fest: „Nach der Aktion
verabscheue ich die Flics“, wie Polizisten in Frankreich genannt werden.
„So was schürt Hass.“
## „Unnötig brutal“
Sebastian Roché ist Soziologe, er forscht am weltbekannten Institut CNRS in
Grenoble. Roché ist ein präziser, umgänglicher Mann, er unterrichtet auch
an der renommierten nationalen Polizeischule in Lyon. Am Telefon spricht er
von einem „Totalversagen“ der Einsatzkräfte in Mantes. Rochés Botschaft
schon seit geraumer Zeit: „Unsere Polizei leidet. Und deshalb leidet die
Banlieue an der Polizei.“ Es fehle der organisatorisch höchst kompliziert
aufgestellten Behörde an einer grundlegenden, wertschätzenden und
kommunikativen Strategie im Umgang mit der Bevölkerung. Auch unter Macron
werde sich da nichts ändern: „Es wird weiterhin nur aus den
Einsatzsituationen heraus entschieden werden und deshalb meist unnötig
brutal.“
Am Bahnhof von Mantes ist in der Bar „Le Lutetia“ die
TV-Fußballberichterstattung über „Shalkce“ zu Ende. Am Tresen steht immer
noch Hassan, er trinkt einen letzten Espresso. Dann macht er sich auf den
Weg nach Hause ins Val Fourré. „In unserem Viertel kommt die Religion
zurück.
Das ist nicht gut. Religion ist Privatsache. Aber wenn sich der Staat nicht
um seine schwierigen Ecken kümmert, muss er sich nicht wundern.“ Hassan
geht hinaus in die Dunkelheit. Eine gelbe Warnweste hat er nicht dabei.
23 Dec 2018
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=TnOwLMdYBDs
[2] /SchuelerInnen-Proteste-in-Frankreich/!5557284
[3] https://www.facebook.com/Collectif-de-D%C3%A9fense-des-Jeunes-du-Mantois-22…
## AUTOREN
Harriet Wolff
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