| # taz.de -- 13. documenta Kunstausstellung in Kassel: Toter Hirsch am Weinberg | |
| > Die 13. documenta will Mensch und Kunst Demut lehren. Sie gleicht einem | |
| > Ritt durch Naturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik - und landet bei | |
| > der Naturreligion. | |
| Bild: Zivilisation nach dem Ökozid:Adrián Villar Rojas, Return the World, 201… | |
| KASSEL taz | „Die Natur soll wohl gebremst werden.“ Ganz hat das Paar, das | |
| zu Beginn der Woche in der Kasseler Karlsaue steht, den Sinn von Giuseppe | |
| Penones Skulptur nicht verstanden. Denn der Baumstamm, der gar kein | |
| Baumstamm, sondern eine Skulptur ist und einen Stein in der entlaubten | |
| Krone trägt, symbolisiert eher die Balance zwischen Natur und Kultur. Aber | |
| die Szene ist ein schönes Beispiel für das produktive Missverständnis, das | |
| nur die Kunst auslösen kann. Wichtiger als eine letztgültige Bedeutung ist | |
| der Diskurs über Kunst. | |
| Carolyn Christov-Bakargiev hätte die Szene sicher gut gefallen. Denn | |
| produktive Missverständnisse sind das Lebenselixier der 55-jährigen | |
| Italoamerikanerin, die die 13. documenta leitet, die am Samstag in Kassel | |
| eröffnet wird. Kaum eine documenta-Chefin hat im Vorfeld so sehr für | |
| Missverständnisse gesorgt, wie sie, als sie Hunde und Tomaten zu Künstlern, | |
| dem Menschen ebenbürtig, erklärte. | |
| Das Beste, was man über ihre documenta sagen kann, ist, dass sie diese | |
| Missverständnisse nicht ausgeräumt und in ein leicht konsumierbares Konzept | |
| gegossen hat. Die Schau bildet das wilde Denken ihrer Urheberin gleichsam | |
| ab. Vom antiken Arzt Sextus Empiricus bis zur Technofeministin Donna | |
| Haraway mixt Bakargiev gern alles verfügbare Weltwissen zu aufregenden | |
| Ideenskizzen. | |
| Kein Wunder also, dass die 13. Ausgabe des Kasseler Kunstolymps einem | |
| essayistischen Parforceritt durch Naturwissenschaft, Philosophie und | |
| Ästhetik gleicht, bei dem vorsätzlich Äpfel mit Birnen verglichen werden. | |
| Sonst hätte Bakargiev den Philosophen Christoph Menke und den | |
| Quantenphysiker Anton Zeilinger nicht gleichberechtigt neben Salvador Dalí | |
| und Lawrence Weiner platziert. | |
| ## Zustand permanenter Krisen | |
| Über einen Moment der Irritation führt diese Nivellierung aber letztlich | |
| nicht hinaus. Die Experimente mit Quantenpartikeln des österreichischen | |
| Physikers Anton Zeilinger sind zwar ebenso ein Beispiel für eine reizvolle | |
| Zufallsästhetik wie der wunderbare Haufen ausrangierter Schrottteile, den | |
| die italienische Künstlerin Lara Favaretto am alten Kasseler Hauptbahnhof | |
| wild aufeinandergetürmt hat; doch welchen Vorteil könnte die Kunst aus der | |
| Kreuzung mit der Wissenschaft ziehen? Welchen, bizarren Abfall zu Ikonen zu | |
| nobilitieren? Viel Interesse an der besonderen Kraft der Kunst in einem | |
| Welt-„Zustand permanenter Krisen“ (Bakargiev) scheinen die | |
| documenta-Macherinnen nicht zu haben, wenn sie ihr die bewusst gestaltete | |
| Form derart ausreden wollen. | |
| Dennoch entfaltet die Idee, den Menschen mit der Kunst seines | |
| Alleinstellungsmerkmals zu berauben, natürlich eine provozierende Kraft. | |
| Statt eines zentralen Leitwerks empfängt die Besucher im Foyer ein sanfter | |
| Luftzug des amerikanischen Künstlers Ryan Gander. Und in der Rotunde des | |
| Fridericianums steht ein Parfumflakon aus dem Bad von Adolf Hitlers | |
| Münchener Wohnung neben der Kultfigur einer 4.000 Jahre alten "Baktrischen | |
| Prinzessin" aus Zentralasien. Neben den Flaschen, nach deren Vorbild | |
| Giorgio Morandi seine Bilder malte, liegt ein Funktionsmodell von Konrad | |
| Zuses ersten Computern vom Ende der dreißiger Jahre. | |
| Und wenn es Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg tatsächlich gelungen | |
| wäre, den 37 Tonnen schweren Meteoriten El Chaco aus der argentinischen | |
| Wüste in die Karlsaue zu transportieren, hätten die documenta-Besucher die | |
| Frage, was eine Form ist und wer ihr Schöpfer, an einem erratischen Objekt | |
| studieren können, das älter ist als die Erde und der Mensch. | |
| So wenig Pop, so viel Ernst war auf einer documenta nie. Gegen digitale | |
| Leichtigkeit setzt Bakargiev Masse und Geschichte, beschwört die „Zeit der | |
| Materialien“. Doch würde die Welt besser, wenn die Kunst aufs Gestalten | |
| verzichtete? Was wäre gewonnen, wenn der Mensch „demütig“ (Bakargiev) | |
| würde, weil er das Wunder der vom Himmel gefallen Form erkennt? Von der | |
| guten alten Kunst- zur schönen neuen Naturreligion ist es auf Bakargievs | |
| documenta nur ein kleiner Schritt. | |
| ## Jede Menge progressive Politkunst | |
| Und diese Gefahr wird nicht geringer, nur weil in Kassel jede Menge | |
| progressiver Politkunst zu sehen ist. Zu ihren Highlights zählt die Arbeit | |
| des Ägypters Wael Shawky, der in seinem Film „Paths to Crusades“ die | |
| Geschichte der Kreuzzüge mit Marionetten nachspielt. | |
| Ausgerechnet mit der documenta den Anthropozentrismus zu Grabe zu tragen | |
| ist natürlich eine faszinierende Idee. Doch die narzisstische Kränkung für | |
| den Menschen hielt sich in Grenzen. Ob es tatsächlich „nichtmenschliche | |
| Produzenten“ von Kunst gibt, lässt sich auch nach Kassel nicht sagen. Ob | |
| die Schmetterlinge in Kristina Buchs Blumeninsel vor der documenta-Halle | |
| ihren Flattertanz zwischen Brennnesseln und Disteln selbst als Kunst | |
| empfinden, wird der Homo sapiens, der davor staunt, nie erfahren. Auch als | |
| Sinnbild einer verlorenen Vielfalt ist die bunte Blumeninsel ästhetisch | |
| etwas einfach gestrickt. Und Vielfalt ist mehr als Artenvielfalt. | |
| Kein Zweifel: Die „ökologische Frage“ ist die eigentliche Kernkompetenz von | |
| Bakargievs Schau. Deswegen wird sie im Gedächtnis bleiben. Und zum Glück | |
| setzen nicht allzu viel Künstler auf die ästhetische Schwundform einer | |
| selbsttätigen Organik. So wie der chinesische Künstler Song Dong mit seinem | |
| wild vor sich hin wuchernden "Doing Nothing Garden" aus organischem Abfall. | |
| ## Ein zeitgenössischer Gänsegeier | |
| Adrián Villar Rojas oder Claire Pentecost beweisen, dass Kunst mehr | |
| vermitteln kann, als die Unterwerfung unter die Ökodiktatur des | |
| Komposthaufens. Der tote Hirsch aus Ton des Argentiniers in den Terrassen | |
| des Kasseler Weinbergs erinnert an die geborstenen Relikte einer | |
| untergegangenen Zivilisation. Mit ihren Barren aus Erde hat die | |
| Amerikanerin eine Alternativwährung zum Petrodollar namens „Soil-erg“ | |
| erfunden. | |
| Vollends heraus aus dem Reich der unbelebten Produzenten führt „Raptors | |
| Rapture“, der Film des puerto-ricanischen Künstlerpaars Allora und | |
| Calzadilla - vorgeführt in einem unterirdischen Bunker des Weinbergs. Denn | |
| die pfeifende Melodie, die eine Flötistin einer hauchdünnen, 35.000 Jahre | |
| alten, aus dem Knochen eines Gänsegeiers geschnitzten Flöte entlockt, | |
| klingt wie ein Hochamt auf den Menschen und die Kunst. So wie sie hier der | |
| Natur begegnet, kommt es noch nicht einmal zu einem Missverständnis. Ein | |
| zeitgenössischer Gänsegeier, das älteste Tier der Welt und vom Aussterben | |
| bedroht, beäugt mit schief gelegtem Kopf das Konzert und schweigt. | |
| 12 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
| ## TAGS | |
| Documenta | |
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