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# taz.de -- 1. Mai in Berlin: Kampftag zwischen Sternis und Raketen
> Am Tag der Arbeit gleicht Berlin einem politischen Volksfest. Die taz
> rekonstruiert das Geschehen bis zur revolutionären Abenddemo.
Bild: Am Cape Gruneval werden Milliardäre und ihrer Stiefellecker zum Mars ges…
## Autonome Aktion, Grunewald
2 Tage zuvor: Die taz erhält ein Bekennerschreiben mit dem Betreff:
„Vorgezogener, kleiner militanter Nachtspaziergang durch’s Grunewaldviertel
mit anschließender Brandstiftung.“ Man habe ein „Trafohaus zur
Stromversorgung des Viertels in der Clayallee gegrillt“ sowie verschiedene
Funkmasten, auch für den Polizeifunk, in Brand gesteckt, heißt es.
Begründet wird die Tat in einem sehr, sehr langen Schreiben, bei dem es
insbesondere um im Grunewald ansässige russische Oligarchen und Botschaften
geht. Unterschrieben ist das ganze mit „Vulkangruppe Friede den Hütten …�…
und damit ganz bewusst in der Tradition jener anarchistischen Gruppen, die
in den vergangenen Jahren unter wechselnden Vulkan-Namen immer wieder für
Kabelbrände gesorgt haben.
## DGB-Demo, Friedrichshain
11 Uhr: Am Strausberger Platz, wo die Demo unter dem Motto „Mach dich stark
mit uns“ tatsächlich starten soll, haben sich derweil schon Blöcke
vorbildlich strukturiert. Ganz vorne: der DGB. Gewerkschaften, Parteien,
Sozialverbände und Organisationen folgen. Nur ein Redner von der IG Metall
will erst nicht auftauchen: „Lieber Raphael, solltest du hier sein – mach
doch mal die Fahne hoch“, ruft es durch den Lauti. Die Teilnehmer:innen
lachen. „Es geht langsam voran, aber es geht voran“, scherzt die Stimme aus
dem Lauti.
Dann setzt sich der Demozug in Bewegung. Immer wieder kritisieren
Redner:innen die Sparpolitik des schwarz-roten Senats, der mit seinen
Kürzungen Soziales und Bildung gegeneinander ausspiele: „Schulessen gegen
ÖPNV, Integration gegen Bildung.“ Dieser Weg führe in eine Sackgasse, heißt
es: „Herr Wegner, da machen wir nicht mit.“ Jubel, Klatschen und
Trillerpfeifen.
## My Gruni, Johannaplatz
Mittags: „Drei, zwei, eins, Umverteilung!“, rufen einige hundert Menschen
aus geeinter Kehle auf dem ehemaligen Johannaplatz, von [1][der
diesjährigen MyGruni-Demo] liebevoll in Cape Gruneval umbenannt. Dann schon
verdunkelt viel Rauch den Himmel, nur leicht flackert noch die Sonne im
weit entfernten All durch den Smog der Rakete mit der Aufschrift „MyAss“,
kurz für „Antinationales Space Shuttle“, das symbolisch die ersten
Superreichen auf ihrem One-Way-Flug zum Mars transportieren soll. Mit dem
Themesong von Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssey“ schallt angemessen
epochale Musik über den Platz im Villenviertel.
## Ganz Berlin
Vor allem in Kreuzberg sind sie schon seit Tagen sichtbar: mobile Poller,
die als Zufahrtsschutz all jene Straßen und Plätze schützen sollen, auf
denen die Massen unterwegs sind. Polizeisprecher Florian Nath hatte zuvor
vor einer abstrakten, aber weltumspannenden Gefahrenlage gesprochen, von
den Auto-Anschlägen in Magdeburg, München oder Kanada. Am Rande von Demos
sollten zumindest Polizeifahrzeuge für Abschirmung sorgen. Doch das klappt
nicht überall. Auf dem langen Anfahrtsweg in den Grunewald bleiben immer
wieder Seitenstraßen ungeschützt.
## Fest der Linken, Mariannenplatz
Mittags: Das Fest der Linken am Mariannenplatz steht – zumindest bei den
meisten – unter dem Stern der guten Laune. Familien schmieren sich
gegenseitig Sonnencreme ein, Kleinkinder schlecken Eis. Man könnte meinen,
die Leute hier lebten bereits in der befreiten Gesellschaft. Am
Luftballonstand fragt eine Frau mit Kind auf dem Arm: „Habt ihr noch ein
Polizeiauto?“ Daneben verkaufen zwei 30-Jährige Sekt. Sie haben darauf
verzichtet, an ihrem Stand politische Symbole anzubringen. „Ja, was soll
ich sagen? Wir stehen hier am 1. Mai und verkaufen Aperol. Wir wollen uns
die Mieten leisten können“, erzählt die junge Mutter Olivia. Sie und ihr
Partner mussten während ihrer Schwangerschaft bei den Eltern wohnen, da sie
„aus ihrer Wohnung gekickt worden sind“.
## My Gruni, Grunewald
Mittags: Die kleine Villen-Allee verbindet den Ort der Hauptkundgebung mit
dem Straßenfest von Extinction Rebellion. Polizeiwannen sichern den
Reichtum. Als ein kleiner Junge an den Mast einer historischen Laterne
einen MyAss-Sticker anbringt, springen zwei Polizisten heraus.
Der Junge muss die Laterne wieder ein Stück hochklettern, zieht den
Aufkleber ab und übergibt ihn. Dann rennt er davon. Die Umherschlendernden
reagieren höhnisch. „Ganz wichtige Polizeiarbeit“, ruft einer; ein anderer:
„Den an der Bullenwanne kannst du kleben lassen.“
## Nicht-mehr-Myfest, Kreuzberg
14.30 Uhr: Der Kiez ist erwacht. Aus den Wohnungen schallt Musik und
erfüllt die Straßen. Die Polizei hat sich am Kotti und an der Hasenheide in
Position gebracht. Ebenso Anwohner*innen und Gastro-Besitzer*innen mit
Caipi- und Mojito-Ständen. Vom Kotti findet eine Völkerwanderung in
Richtung Görli statt. Hier hatte ein breites Bündnis aus Kulturinitiativen,
Anwohner*innen und politischen Gruppen zum [2][„Rave against the Zaun“]
aufgerufen.
Auf dem Steinrondell steht ein DJ-Pult mit angebrachten Palästina- und
Kommunismus-Flaggen. „Kai Wegner lügt dich an!“, steht auf einem Transpi
dahinter. In silbernen Overalls und Sonnenbrillen stehen tanzen DJ Craft
auf den Boxen, singen und feuern die Meute an.
## My Gruni, Johannaplatz
15 Uhr: „Wir schicken die Milliardäre zum Mars, aber der Besitz bleibt
hier, ist ja klar!“, ruft eine Rednerin. Es sei ja ersichtlich, dass die
Milliardäre des Lebens auf der Erde überdrüssig seien – insofern sei dies
als ein Angebot einer „Politik der ausgestreckten Hand“ zu verstehen. „Und
Merz kann auch mit“, lacht die Rednerin.
„Er ist zwar kein Milliardär, aber er macht Politik für Milliardäre – und
vielleicht fühlt er sich ja auch wohl als Kanzler der Marskolonie
Neu-Grunewald.“ Die Menge lacht, großer Applaus. Viele haben sich als
Aliens verkleidet, haben sich etwa ein drittes Auge angeheftet oder
Lauscher auf den Kopf geklebt. 1.800 Menschen sollen laut Polizeiangaben
gekommen sein.
## DGB-Demo, Rotes Rathaus
Mittags: Kurzinterview mit Anne, 27. Sie arbeitet als Diätassistentin in
der Patientenverpflegung [3][bei der Charité-Tochter CFM]. „Ich arbeite
beim CFM, und wir kämpfen für unsere Arbeitsrechte. Der schwarz-rote Senat
unter Kai Wegner hat versprochen, uns wieder zurück zur Charité in den
öffentlichen Dienst zu führen. Dieses Versprechen muss eingehalten werden.
Es kann nicht sein, dass wir die gleiche Arbeit machen, aber
unterschiedlich bezahlt werden. Wir wollen ein Recht auf Vollzeit haben. Es
werden einfach neue Stellen besetzt, anstatt dass Kolleg:innen ihre
Stunden erhöhen können. So können wir aber nicht leben. Wenn die Bezahlung
besser wäre, würden wir das natürlich nicht fordern – aber weil sie so
schlecht ist, bestehen viele darauf, mehr arbeiten zu dürfen. Ich finde das
alles völlig absurd.“
## Nicht-mehr-Myfest, Kreuzberg
15.30 Uhr: Jugendliche leeren den Sekt aus Flaschen, Jungsgruppen trichtern
hemmungslos Sterni. An den zwei mobilen Toiletten haben sich – oh Wunder –
ewig lange Schlangen gebildet. Im vergangenen Jahr waren bei zwei ähnlichen
Demonstrationen im Görli jeweils zehntausende Menschen gekommen. Der Bezirk
war jedoch der Meinung, es werde ein Tag, „wie jeder andere Tag im Görli“.
Vor der Bühne zeigen die Caipis ihre Wirkung: Tausende tanzen ausgelassen
zu „Der Zaun ist Böse“ und „Fick den Zaun“.
Ein Redner erinnert sich an die alten Zeiten in Kreuzberg und die legendäre
Hiphop-Bühne während des 1. Mai in der Naunynstraße. Damit ist seit dem
Ende des MyFests Schluss. Er ärgert sich über die Gentrifizierung des
Kiezes: „Warum gehen diese Leute nicht nach Zehlendorf oder Grunewald und
zerlegen die Kieze dort?“
## Fest der Linken, Mariannenplatz
Beim Stand von [4][Deutsche Wohnen Enteignen], sagt Annalena, 32, sie sei
auf diesem angepassten Mainstreamfest, um Präsenz zu zeigen. „Wir wollen
die Leute über Stand unserer Kampagne informieren: Wir planen einen neuen
Gesetzesvolksentscheid, der dann direkt bindend ist.“
Das ist die neue Strategie der Initiative, nachdem der letzte gewonnene
Volksentscheid von Rot-Rot-Grün nicht umgesetzt wurde. Hat der neue Erfolg
der Linken eine Bedeutung für ihr Projekt? „Ja, definitiv. Die Linke
unterstützt das Anliegen von allen Parteien am stärksten“, sagt Annalena.
Sie hat die Hoffnung, dass der Mietenkampf, auch mit den neuen Leuten in
der Partei, ab jetzt erfolgreicher wird.
## Pressekonferenz, Feuerwache Urban
Früher Nachmittag: Auf einer Pressekonferenz zur aktuellen Lage kommen bei
der Neuköllner Feuerwehr der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU),
Innensenatorin Iris Spranger (SPD), Polizeipräsidentin Barbara Slowik
Meisel und Landesbranddirektor Karsten Homrighausen zusammen.
Die taz kann sich vorstellen, wie die Lobeshymnen auf die mehr als 6.000
eingesetzten Polizist:innen klingen, die an diesem Tag „den Rechtssaat
verteidigen“ sollen, und erwartet auch sonst wenig Erhellendes. Ergo: Wir
verzichten und begleiten stattdessen weiterhin die sozialen Bewegungen.
## Fest der Linken, Mariannenplatz
Nachmittags: „Wo issn hier der Teeechno?“, fragt ein betrunkener Mann
Mitte 40 eine Mietaktivistin. „Immer jeradeaus, hier runter“, antwortet die
schlagfertige Lichtenbergerin Annalena grinsend und deutet zum
Feuerwehrbrunnen, wo gerade ein Rockkonzert stattfindet. Er dankt
freundlich, reckt die Faust zum kämpferischen Gruß und stolpert den Hügel
hinunter.
Dann schlendert Kerstin Wolter vorbei. Sie ist Linken-Vorsitzende des
Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg und kandidiert für den Vorsitz des
Berliner Landesverbands. Sie erinnert daran: „Der 1. Mai ist aus den
Kämpfen für den Achtstunden-Tag entstanden und nächste Woche wählt [5][der
Bundestag einen Kanzler, der den Achtstunden-Tag abschaffen will.]“
Warum sind die Leute trotz der Verhältnisse hier so gut gelaunt? Wolter
vermutet, das liege „schon am Wetter“. Aber in einer Stadt wie Berlin, in
der die Linke bei der Bundestagswahl stärkste Kraft wurde, sei den Leuten
auch bewusst: Es gibt Alternativen zum Kürzungskahlschlag und das macht
Hoffnung. Wolter findet es „voll okay, dass man auch einfach mal rauskommen
will aus dem Malochen und eine gute Zeit haben“.
Sie verweist auf eine [6][neue Umfrage], der zufolge nur noch 50 Prozent
der Beschäftigten mit ihren Jobs zufrieden sind. Nur jeder Vierte gibt an,
vom Job noch abschalten können. „Deshalb fordert die Linke unter anderem,
[7][dass der 8. Mai zum Feiertag] gemacht wird“, sagt Wolter mit Blick auf
die nächste Woche, klopft sich das Gras von der Hose und macht sich für
ihre Rede auf den Weg zur Bühne.
## DGB-Demo, Rotes-Rathaus
Mittags: Am Ende der DGB-Demo wartet vor dem Roten Rathaus auch die
traditionelle Rote im Brötchen. Die Sonne knallt auf den Platz, viele
machen es sich deshalb zum Essen im Schatten der Bäume bequem. „Heute ist
kein Arbeitstag, heute ist Mampftag“, scherzt einer.
1 May 2025
## LINKS
[1] /1-Mai-in-Berlin/!6082048
[2] /Goerlitzer-Park/!6073391
[3] /Arbeitskampf-im-Krankenhaus/!6081897
[4] /Raed-Saleh-und-die-Vergesellschaftung/!6025453
[5] /Tag-der-Arbeit/!6085381
[6] https://www.thestepstonegroup.com/english/newsroom/press-releases/frustrati…
[7] /Berlin-sucht-einen-Feiertag/!5517689
## AUTOREN
Erik Peter
Timm Kühn
Lotte Laloire
Johanna Weinz
Lilly Schröder
## TAGS
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