| # taz.de -- Cognitive Offloading: Automatisierte Vergesslichkeit | |
| > Wir nutzen Navis und fragen ChatGPT nach Rezepten. Das kann zu weniger | |
| > kognitiver Leistung führen. Doch wie können wir die Helfer produktiv | |
| > einsetzen? | |
| Bild: Digitale Anwendungen helfen beim Cognitive Offloading genauso wie analoge… | |
| Eine vorveröffentlichte Studie des Massachusetts Institute of Technology | |
| (MIT) sorgte kürzlich für Schlagzeilen: „Wer mit ChatGPT arbeitet, häuft | |
| kognitive Schulden an.“ Für das Experiment schrieben Versuchspersonen über | |
| mehrere Sitzungen Essays. Ein Teil von ihnen arbeitete eigenständig, ein | |
| zweiter mithilfe von Suchmaschinen und der dritte durfte ChatGPT einsetzen. | |
| Letzteren bescheinigten die Forschenden weniger vernetzte Gehirnaktivierung | |
| und einen schwächeren Lerneffekt. Außerdem fiel es ihnen schwerer, korrekt | |
| aus ihren eigenen Essays zu zitieren. | |
| Seitdem gab es viel Kritik an der Studie, unter anderem wegen der zu | |
| kleinen Versuchspersonenanzahl für robuste neurowissenschaftliche | |
| Erkenntnisse. Doch wenn eine wackelige Studie noch vor der Veröffentlichung | |
| solche Wellen schlägt, dann trifft sie offensichtlich einen Nerv. In diesem | |
| Fall zahlt sie auf eine weit verbreitete Befürchtung ein: Macht die Technik | |
| uns alle blöd? Oder, etwas zurückhaltender gefragt: Was macht das mit | |
| unserem Denken, wenn wir immer mehr davon an digitale Begleiter abgeben? | |
| Und wie sollten wir damit umgehen? | |
| Tatsächlich ist die MIT-Studie nicht die Einzige, die sich kritisch mit den | |
| Effekten von KI-Nutzung beschäftigt. So berichteten etwa polnische | |
| Forschende in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet gerade, dass | |
| Ärzt*innen, die Darmkrebs-Screenings über drei Monate mit KI-Unterstützung | |
| absolvierten, danach [1][in ihrer eigenständigen Arbeit weniger aufmerksam | |
| und engagiert waren]. Ohne Hilfe der Bilderkennung erkannten sie | |
| Krebserkrankungen jetzt nur noch in 22 Prozent der Fälle – vorher waren es | |
| noch 27 Prozent. | |
| Mindestens eine weitere Studie befindet, dass Studierende, die | |
| [2][besonders viel KI einsetzen, selbst weniger kritisch denken] (was | |
| allerdings auch der Grund für den KI-Einsatz sein könnte). Und selbst | |
| Studierende, die KI grundsätzlich als hilfreiches Werkzeug bewerten, äußern | |
| sich [3][langfristig besorgt um ihre Denkfähigkeit.] | |
| ## Sorgen gab es schon vor der KI | |
| Inzwischen hat sich sogar der Papst in die Debatte eingeschaltet, mit dem | |
| Rat, die Hausaufgaben nicht ChatGPT zu überlassen und KI im Allgemeinen nur | |
| so einzusetzen, dass sie „[4][dein wahres menschliches Wachstum nicht | |
| begrenzt]“. | |
| Dabei ist die Sorge um unsere kognitiven Fähigkeiten weitaus älter als | |
| künstliche Intelligenz. Sie beschäftigt uns bei fast allen Technologien, | |
| die in der Lage sind, uns Denkarbeit abzunehmen. | |
| So zum Beispiel auch bei Navigationssystemen. Denn die Beeinflussbarkeit | |
| unserer räumlichen Fähigkeiten ist legendär. Spätestens, seit die Forschung | |
| erstmals feststellte, dass Londons Taxifahrern beim Navigieren durch die | |
| örtlichen 26.000 Straßen buchstäblich [5][neue Nervenzellen im Hippocampus] | |
| sprossen. Heute, 25 Jahre später, [6][sorgt sie sich] nicht nur bei | |
| Taxifahrern, dass genau diese Fähigkeit mit dem Gebrauch von | |
| Navigationssoftware nachlässt. Wahrscheinlich, weil wir dank Navi bestimmte | |
| räumliche Fähigkeiten seltener gebrauchen. Etwa uns [7][eine Karte | |
| einzuprägen oder sie in unserem Kopf zu rotieren]. „Use it or lose it“ – | |
| nutze es oder verliere es – so lautet das Arbeitsprinzip unseres Gehirns. | |
| Auch das automatisierte Fliegen kann solche Gewöhnungseffekte auslösen, | |
| sodass Pilot*innen im Experiment [8][ohne die Unterstützung des | |
| Autopiloten plötzlich sehr viel ungelenker] sind. Beides sind Folgen des | |
| sogenannten „Cognitive Offloading“, bei dem wir Denkarbeit an Technologie | |
| abgeben. | |
| Aber ist das überhaupt ein Problem? Schließlich soll uns die Technik das | |
| Leben ja erleichtern. Ist es nicht praktisch, wenn irgendwann niemand mehr | |
| wissen muss, wie man einen Doppeldecker startet, eine Pferdekutsche | |
| einparkt oder eine Kupplung kommen lässt? | |
| Um zu unterscheiden, an welche Fähigkeiten wir uns klammern sollten und | |
| welche wir getrost ausrangieren können, lohnt es sich zu verstehen, was im | |
| Gehirn passiert, wenn wir entsprechende Technologien einsetzen – als | |
| Gedächtnisstütze oder als automatisierte Helfer – und inwiefern sich der | |
| bisherige Einsatz von KI davon unterscheidet. | |
| Dabei gilt zunächst einmal festzuhalten, dass Cognitive Offloading keine | |
| neumodische Angewohnheit unseres Gehirns, sondern eine bekannte und | |
| bewährte Strategie ist. Immerhin ist diese Welt groß und detailreich und | |
| unser mentaler Arbeitsspeicher stark begrenzt. Darum ziehen wir beim Zählen | |
| unsere Finger hinzu, notieren Termine im Kalender und verkünden unseren | |
| Partner*innen, dass wir beim Einkaufen die Spülmaschinentabs nicht | |
| vergessen dürfen. | |
| Dieses Abladen schafft Platz im Kopf. Besonders dann, wenn wir viel zu tun | |
| haben, gestresst sind oder unser Arbeitsspeicher mit dem Alter nachlässt. | |
| Wer Informationen im Experiment abspeichern darf, kann danach | |
| [9][beispielsweise schneller wieder neue lernen]. Und wer neben den | |
| Spülmaschinentabs auch noch den Rest des haushaltstechnischen Mental Load | |
| an die Partnerin auslagert, hat mehr Kapazitäten für Selbstfindung und | |
| Filme von Quentin Tarantino. | |
| Seit es Smartphones gibt, tragen wir allerdings schier unbegrenzte Mengen | |
| an Information in unserer Jackentasche herum. Eine Möglichkeit, die wir | |
| inzwischen so intensiv nutzen, dass die Forschung von einer Verlagerung der | |
| Kompetenzen spricht – weg von der Information, hin zur | |
| Informationsgewinnung. Anders gesagt: Junge Leute wissen aus dem Kopf zwar | |
| weniger Jahreszahlen, Flussläufe oder Baumarten als frühere Generationen, | |
| aber sie wissen ausgezeichnet, wie man alles davon online nachschlägt. | |
| Unser Wissen und Können ist dank Internet quasi unbegrenzt und genauso | |
| scheinen wir uns auch zu fühlen. Denn wenn wir etwas erfolgreich gegoogelt | |
| haben, halten wir uns danach für klüger und [10][versprühen selbst offline | |
| mehr Selbstvertrauen bei der nächsten Frage]. | |
| ## Auf der Festplatte, aus dem Sinn | |
| Auf der Ebene des Gedächtnisses macht es allerdings durchaus einen | |
| Unterschied, [11][ob wir uns an ein Konzept erinnern oder nur daran, wie | |
| man es googelt]. Rufen wir etwa die Erinnerung an ein beliebtes Kochrezept | |
| wach, dann aktiviert das nicht nur die Webadresse irgendeiner Rezeptseite, | |
| sondern ein ganzes Netzwerk an Nervenzellen, weckt Assoziationen zu | |
| Zutaten, Texturen und Gerüchen. Nach dem Gebrauch bleiben diese neuronalen | |
| Bahnen noch eine ganze Weile sensibilisiert, was uns hilft, neue | |
| Informationen dazuzulernen oder bekannte zu konsolidieren. | |
| Wenn wir dagegen Informationen nur kurz nachschlagen, um gleich darauf die | |
| nächste Frage ins Handy zu tippen, bleibt das Wissen um die erste Antwort | |
| im Kopf wahrscheinlich ungefähr so tief verankert, wie die Backanleitung | |
| auf dem Pizzakarton (die wir jetzt wieder aus dem Müll fischen müssen, um | |
| noch mal nach der Minutenzahl zu gucken). | |
| Tatsächlich erscheint schon die Erwartung, dass Informationen uns später | |
| zur Verfügung stehen, dafür zu sorgen, dass wir sie [12][von Anfang an | |
| schwächer aufnehmen]. Wer etwa im Museum fotografiert, [13][kann die | |
| Artefakte danach schlechter beschreiben]. Und wer weiß, dass er eine | |
| Merkliste später abspeichern kann, erinnert sich vor allem, wo sie | |
| gespeichert ist. | |
| Damit neue Informationen in unserem Gehirn nicht lose verpuffen, ist es | |
| also wichtig, hin und wieder gegenzusteuern und sie ganz bewusst | |
| aufzunehmen. Dabei kann es helfen, sie mit allen Sinnen zu erleben, oder | |
| einfach, sich danach Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, zu sprechen oder | |
| zu schlafen. Auch die Verknüpfung mit vorhandenem Wissen lässt sich | |
| fördern, indem wir neuen Lernstoff bewusst in unterschiedlichen Kontexten | |
| wiederholen, in der Schule auch bekannt als fächerübergreifendes Lernen. | |
| Wie wichtig es ist, eine Wissensbasis zu schaffen, in die sich neues Wissen | |
| integrieren lässt, sehen wir auch bei der Automatisierung. Zum Beispiel bei | |
| unseren Pilot*innen vom Anfang, die ohne Autopiloten erwartbar in | |
| Schwierigkeiten gerieten. Unerwartet war dagegen, dass diese | |
| Schwierigkeiten weniger in den routinierten, sonst automatisierten Abläufen | |
| auftraten als in den komplexen Entscheidungen, dem Ändern von Routen etwa. | |
| Als Erklärung gilt, dass routinierte Abläufe erst dadurch zur Routine | |
| werden, dass wir sie regelmäßig durchführen. So lange, bis sie ins | |
| sogenannte prozedurale Gedächtnis übergehen, dessen Inhalt wir | |
| automatisiert abspulen können. Wie ein Klavierstück, das die Finger nach | |
| langem Üben wie von selbst spielen. | |
| Zum Problem wird Übungsmangel auch, wenn die Technik nicht ordnungsgemäß | |
| funktioniert – das erkennen wir am besten mit Erfahrung. So wie eine geübte | |
| Pflegekraft aufmerkt, wenn ein Computerprogramm ihr plötzlich das | |
| Hundertfache einer üblichen Medikamentendosis vorschlägt. Oder wir selbst | |
| bei „14 mal 12“ den Taschenrechner zu Rate ziehen, aber zucken, wenn er | |
| dann 17.328 ausspuckt. Dass wir unseren Tippfehler bemerken, liegt vor | |
| allem daran, dass wir diese Rechnung irgendwann oft genug ohne technische | |
| Hilfe vollbracht haben. | |
| Auch wenn sich ein Prozess vollständig automatisieren lässt, ergibt es oft | |
| Sinn, ihn zunächst eigenständig zu lernen.Für unser logisches Denken könnte | |
| dieser Lernprozess wichtiger sein als lange angenommen. Während wir neue | |
| Abläufe speichern, sucht unser Gehirn unentwegt nach Parallelen und | |
| Mustern. Die zuständigen Hirnregionen, Basalganglien genannt, die unser | |
| prozedurales Gedächtnis verwalten, speichern grammatikalische Regeln | |
| unabhängig von ihrer Sprache. Sie sorgen dafür, dass wir auch im Arabischen | |
| nicht erst neu lernen müssen, was Subjekt, Prädikat und Objekt sind. Oder | |
| dass wir exponentielles Wachstum bei Algenpopulationen ähnlich gut | |
| verstehen wie bei Viren. Je mehr wir wissen, desto leichter fällt es uns, | |
| neue Informationen in solche Schemata zu integrieren, oder dabei sogar neue | |
| Erkenntnisse zu generieren. | |
| Wer sich dagegen nur flüchtig mit Informationen auseinandersetzt, dem fehlt | |
| später nicht nur das Gelernte, sondern auch die Struktur, um neues Wissen | |
| daran anzuknüpfen. | |
| Das heißt, gerade da, wo es (Sprach-)Regeln und Logik zu durchdringen gibt, | |
| kommen wir um Eigenarbeit nicht herum. Der Verzicht darauf bedeutet | |
| wahrscheinlich auch einen deutlichen Preis für die Qualität unseres | |
| Denkens. Das gilt besonders für Kinder, deren Superkraft das intuitive, | |
| prozedurale Lernen ist, weshalb sie Sprachen auch einfach aufschnappen | |
| können, während Erwachsene Vokabeln büffeln. | |
| Macht uns die Technik also eher inkompetent und lässt sich der Schaden | |
| durch sparsamen Einsatz gerade so begrenzen? Wo sind die Vorteile des | |
| Informationszeitalters hin? Immerhin gehört es zu unseren großartigsten | |
| menschlichen Fähigkeiten, dass wir auch auf das Wissen anderer zählen | |
| können, die besser verstanden haben, wie man Bücher druckt, Krankheiten | |
| heilt oder Spülmaschinen repariert. | |
| Wie ein gewinnbringender Umgang mit Technologie aussehen kann, hat | |
| [14][eine US-amerikanische Studie] mit Blick auf politische Entscheidungen | |
| untersucht. Dafür ließen die Forschenden Hunderte Freiwillige über Monate | |
| einen fiktiven Vorwahlkampf verfolgen. Ein Teil von ihnen konnte sich dafür | |
| in einer digitalen Umgebung informieren, in der sie bei jeder Sitzung, wie | |
| im Netz, alte und neue Nachrichtenartikel auswählen, speichern und | |
| jederzeit wieder abrufen konnten. Die anderen wurden bei jeder Sitzung mit | |
| neuen Informationen konfrontiert, die sie nur einmal zu sehen bekamen, | |
| ähnlich einer Tageszeitung oder der Abendnachrichten. Das Ergebnis: | |
| Diejenigen in der digitalen Speicherumgebung konsumierten insgesamt weniger | |
| Informationen, die aber intensiver. Am Ende trafen sie fundiertere | |
| Wahlentscheidungen, die mehr im Einklang mit ihren politischen Interessen | |
| standen. | |
| „Die Versuchspersonen nutzen den digitalen Raum als eine Erweiterung ihres | |
| Gehirns“, sagten die Forschenden. Die Teilnehmenden luden Informationen | |
| nicht einfach im digitalen Raum ab, sondern machten davon Gebrauch, Artikel | |
| wieder aufzurufen und noch mal in einem neuen Kontext zu lesen. Sie wussten | |
| auch mehr über ihre Kandidat*innen, wenn man den Zugang zum Intranet | |
| abstellte. | |
| Digitale Technik kann also sehr wohl unser Denken und sogar unser | |
| Gedächtnis beflügeln. Aber nur in dem Ausmaß, in dem wir mitdenken. | |
| Auch andere Erkenntnisse zeigen, dass diese Art hybrider Arbeit mit | |
| technischen Hilfsmitteln am besten funktioniert. Den Pilot*innen | |
| empfiehlt die amerikanische Flugaufsicht, halbautomatisch zu steuern. Auch | |
| beim Navigieren mit GPS können wir unser Gedächtnis auf Trab halten, wenn | |
| wir uns [15][nicht nur durch Pfeile lenken lassen, sondern uns | |
| Wegbeschreibungen anhand von Bauwerken und anderen Merkmalen ausgeben | |
| lassen]. Beim Fotografieren im Museum sorgt das Heranzoomen an spezifische | |
| Elemente dafür, dass wir uns an das Gesamtobjekt wieder besser erinnern. | |
| Und selbst in der MIT-Studie vom Anfang dieses Textes konnten am Ende die | |
| Studierenden am besten aus ihren Essays zitieren, die selbst schreiben | |
| mussten, aber dabei Suchmaschinen nutzen durften. | |
| ## Arbeit abzuladen ist verführerisch | |
| Womit wir wieder bei den KIs wären. Denn die laden ja gerade dazu ein, uns | |
| die komplette Arbeit abzunehmen. Warum ein spezifisches Problem | |
| nachschlagen, wenn mir ChatGPT auf Mausklick ein fertiges Computerscript, | |
| eine komplette Recherche oder eine E-Mail in fließendem Französisch | |
| generiert? Warum mich verbessern, wenn ich das vorgefertigte Ergebnis | |
| vielleicht erst in Jahren erreiche? | |
| Für den Lerneffekt. Auch wenn ich online zum zigsten Mal das gleiche Verb | |
| nachschlage, habe ich dabei immerhin große Chancen, dass die | |
| Konjugationsregeln irgendwann hängen bleiben. Wenn ich Texte per Copy and | |
| Paste einfach übersetze, nicht. Auch wer selbst keine Zeit mit dem | |
| Schreiben von Texten verbracht hat, wird Schwierigkeiten haben | |
| einzuschätzen, ob ChatGPTs Essay wirklich besser ist. | |
| Der Verführung, Arbeit abzugeben, werden wir wohl trotzdem des Öfteren | |
| erliegen. Die Offloading-Forschung zeigt, dass wir im Zweifel fast immer | |
| zum Abladen tendieren, sodass Versuchspersonen sich [16][selbst zwei Wörter | |
| zur Sicherheit lieber aufschreiben]. | |
| Ein zweiter Knackpunkt in der digitalen Erweiterung unseres Gehirns liegt | |
| darin, dass Wissen, das wir auf externen Datenträgern speichern, natürlich | |
| auch externen Risiken unterliegt. So reicht schon die Verschlechterung der | |
| Google-Suchfunktion, damit Informationen, die wir jederzeit abrufbar | |
| glaubten, auf einmal schwer zugänglich sind. Wir sollten uns also da, wo es | |
| drauf ankommt, nie ganz auf die Dienste großer Technikkonzerne verlassen. | |
| Eine Lektion, die auch Millennials kennen, die sich früher von Facebook an | |
| Geburtstage erinnern ließen und nach ihrem Ausstieg dort jedes Jahr neu | |
| austüfteln müssen, wann es Zeit ist, ihren engsten Freund*innen zu | |
| gratulieren. | |
| Noch weitaus gezielter hat zuletzt die US-amerikanische Regierung | |
| Informationen aus digitalen Archiven gelöscht – zu Schwarzen oder queeren | |
| Menschen, Klimawandel oder epidemiologischer Forschung. Eine Sorge, die | |
| Forschende dazu brachte, nächtelang Daten zu kopieren, um ihr | |
| externalisiertes Menschheitswissen zu retten, wie aus Alexandrias | |
| brennender Bibliothek. | |
| Auch in Zeiten allseits verfügbarer Information kann Wissen also | |
| unwiederbringlich verloren gehen, wenn sich Leute nicht persönlich | |
| verpflichtet fühlen, es zu bewahren. Die Datengrundlage der gängigen | |
| Chatbots ist jedoch so undurchsichtig, dass sich solche Verantwortung kaum | |
| übernehmen lässt. Bei der Nutzung gilt daher, was Papst Leo rät: Arbeite | |
| so, dass du noch genauso kompetent wärst, wenn die KI heute verschwände. | |
| ## Wenn das Werkzeug lügt | |
| Es gibt noch eine dritte Krux beim Balanceakt, unsere Denkleistung digital | |
| zu optimieren. Dass die Menschen in der Wahlkampfstudie bessere | |
| Entscheidungen treffen konnten, lag daran, dass sie Zugang zu korrekten | |
| Informationen hatten. Wenn wir das Gehirn als offenes System begreifen, | |
| müssen wir allerdings auch anerkennen, dass es sehr anfällig ist. Etwa für | |
| Fehlinformationen, Propaganda und Geschichtsfälschung. | |
| Die Qualität der Information ist noch schwerer abzuschätzen, wenn KIs ohne | |
| Quellenangaben arbeiten oder ihre Arbeitsweise sprunghaft verändern. Wer | |
| den Chatbot von X/Twitter um Antworten bittet, erhält je nach Version mal | |
| akkurate Informationen, mal antisemitische Verschwörungstheorien oder den | |
| Hinweis, Michelle Obama wäre ein Mann. Selbst bei weniger offensichtlich | |
| gesteuerten KIs fand eine von der BBC veranlasste Studie [17][gravierende | |
| Fehler in 45 Prozent der Zusammenfassung journalistischer Artikel]. | |
| Ein großes Problem, wenn man bedenkt, dass weltweit bereits jetzt [18][15 | |
| Prozent der 25-Jährigen angeben, dass sie Nachrichten von KI-Assistenten] | |
| beziehen. Und was ist, wenn die Informationen, die eine KI ausgibt, immer | |
| schlechter werden?Diese sogenannte Enshittification ist für unsere Tendenz | |
| zum Cognitive Offloading ein Problem, weil wir es gewohnt sind, dass unsere | |
| externen Hilfsmittel in ihrer Leistung stabil bleiben. Unsere Finger, | |
| Rechenmaschinen und Notizbücher können nicht alles, aber das, was sie | |
| können, ist sehr verlässlich. Auch unsere Interaktionspartner*innen | |
| und ihre Kompetenz können wir mit der Zeit einschätzen. Dagegen steht das | |
| selbstbewusste Auftreten der Chatbots oft im Widerspruch zur Entwicklung | |
| ihrer Kompetenz. Wo sie vor einem Jahr beispielsweise noch in 30 Prozent | |
| der Fälle angaben, Fragen nicht beantworten zu können, sank diese Zahl | |
| inzwischen nahe null. Im gleichen Zeitraum hat sich die [19][Anzahl | |
| halluzinierter Antworten auf 35 Prozent verdoppelt]. | |
| Ob uns solche qualitativen Unterschiede auffallen, ist fraglich. Eine | |
| [20][aktuelle Untersuchung zur Arbeit mit KIs] bestätigt: Menschen | |
| überschätzen systematisch, wie stark künstliche Intelligenz ihre Arbeit | |
| verbessert. Ironischerweise betraf das vor allem diejenigen, die besonders | |
| viel mit KI arbeiten, also am ehesten über deren Beschränkungen informiert | |
| sein müssten. | |
| Wahrscheinlich liegt hier die größte Herausforderung für unser kritisches | |
| Denken: mit technischen Hilfsmitteln mindestens genauso kritisch umzugehen | |
| wie mit dem Output unseres Gehirns. | |
| 15 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://doi.org/10.1016/S2468-1253(25)00133-5 | |
| [2] https://dx.doi.org/10.2139/ssrn.5082524 | |
| [3] https://ideas.repec.org/a/ers/journl/vxxviiy2024i2p1022-1039.html | |
| [4] https://www.vulture.com/article/pope-leo-ai-homework.html | |
| [5] https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.070039597 | |
| [6] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11346390/ | |
| [7] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0272494418308211 | |
| [8] https://link.springer.com/content/pdf/10.1186/s41235-024-00572-8.pdf | |
| [9] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25491269/ | |
| [10] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34686595/ | |
| [11] https://www.biorxiv.org/content/10.1101/789529v3.abstract | |
| [12] https://www.science.org/doi/10.1126/science.1207745 | |
| [13] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24311477/ | |
| [14] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/pops.12689 | |
| [15] https://www.biorxiv.org/content/10.1101/789529v3.abstract | |
| [16] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1053810015001221 | |
| [17] https://www.bbc.com/mediacentre/2025/new-ebu-research-ai-assistants-news-c… | |
| [18] https://www.odg.it/wp-content/uploads/2025/06/REUTERS-Digital_News-Report_… | |
| [19] https://www.newsguardtech.com/press/newsguard-one-year-ai-audit-progress-r… | |
| [20] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0747563225002262?via%3D… | |
| ## AUTOREN | |
| Franca Parianen | |
| ## TAGS | |
| wochentaz | |
| Zukunft | |
| Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
| Neurologie | |
| Automatisierung | |
| Reden wir darüber | |
| Social-Auswahl | |
| Wissenschaft | |
| wochentaz | |
| wochentaz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Studie zu Kognition: Warum Denken anstrengend ist | |
| Wenn Menschen gedanklich gefordert sind, fühlen sie sich oft angestrengt. | |
| Aber wieso machen wir dann trotzdem so gerne Sudoku und Kreuzworträtsel? | |
| Menschliche Denkfalle: Darf’s ein bisschen weniger sein? | |
| Stützräder, Ampeln, Kisten für noch mehr Zeug – um Probleme zu lösen, fü… | |
| wir Situationen intuitiv Dinge hinzu. Weglassen wäre aber oft hilfreicher. | |
| Künstliche Intelligenz erzählt Quatsch: Keine Halluzination, sondern Bullshit | |
| Wenn KI-Chatbots falsche Dinge erzählen, sagt man, dass sie halluzinieren. | |
| Eine neue Studie untersucht, warum dieser Begriff das Problem verfehlt. |