| # taz.de -- Grüne Neuausrichtung: Friede den Autos, Krieg den Privatjets | |
| > Die Grünen schärfen beim Parteitag in Hannover ihr klimapolitisches | |
| > Profil. Stahlarbeiter und Kassiererinnen sollen sich bei ihnen heimisch | |
| > fühlen. | |
| Bild: Sagt fossilen Lobbyisten den Kampf an: der Co-Vorsitzende der Grünen Fel… | |
| Als der grüne [1][Co-Vorsitzende Felix Banaszak] Kind war, musste er mit | |
| seiner Familie von Duisburg mit der Straßenbahn 901 nach Mülheim und von | |
| dort mit der U18 bis Essen zu Ikea fahren, wenn sein Zimmer renoviert wurde | |
| – und mit den Regalen unter dem Arm zurück. Denn sie hatten kein Auto. Für | |
| ihn war völlig klar, dass er zum 18. Geburtstag den Führerschein machen und | |
| eines kaufen würde. „Das war Leben, das war Freiheit“, sagt er begeistert | |
| beim Parteitag der Grünen am Samstag in Hannover – und erntete viel Applaus | |
| von den Delegierten der Ökopartei. Das ist beim Thema Auto alles andere als | |
| selbstverständlich. | |
| Die Grünen sind [2][zu ihrem ersten Parteitag nach der Bundestagswahl] | |
| zusammengekommen. Bei der Wahl im Februar haben sie nach drei Jahren Ampel | |
| 3,1 Prozentpunkte verloren, sie landeten bei 11,6 Prozent. Das schlechte | |
| Wahlergebnis steckt den Delegierten noch in den Knochen. Viele grüne | |
| Funktionär:innen haben sich die Kritik zu eigen gemacht, die Grünen | |
| seien nicht nah genug bei den „normalen“ Menschen, zu bevormundend und | |
| abgehoben – und eine Partei für die Wohlhabenden. | |
| Solche Zuschreibungen wollen die Grünen in Hannover hinter sich lassen. | |
| Banszaks Bericht von seinem ersten Auto und der damit verbundenen | |
| Freiheitsanmutung – bislang war diese Verbindung eine Spezialität der FDP – | |
| ist einer der Schritte zu auf die „normalen Menschen“. Die Grünen sollten | |
| „emotionale Heimat“ sein für den Stahlkocher, die Rossmann-Kassiererin, den | |
| Daimer-Arbeiter am Band und den Paketboten, sagt Banaszak. Flugscham war | |
| gestern. Heute haben die Grünen Empathie für die, die von ihrem | |
| zusammengesparten Geld einmal im Jahr nach Mallorca fliegen oder Angehörige | |
| in der Türkei besuchen. | |
| Flankiert wird diese neue Ausrichtung – von einem „Paradigmenwechsel“ | |
| spricht Banaszak – von einer Neujustierung der grünen [3][Klimapolitik]. | |
| Die wird im grünen Wording nun um das Wort „sozial“ ergänzt. „Links ist… | |
| mich kein Schimpfwort, sondern Auftrag“, betont er. Geht es nach dem grünen | |
| Co-Parteivorsitzenden, bedeutet soziale Klimapolitik, fossilen Konzernen in | |
| die Parade zu fahren. Er will fossile Geschäftsmodelle stärker belasten. | |
| „Dieser wirkmächtige Lobbyismus hat sich gezeigt auf der | |
| Weltklimakonferenz“, sagte Banaszak. „Diesem fossilen Lobbyismus sagen wir | |
| heute den Kampf an.“ | |
| ## Ehrgeizig und sozial | |
| Mögliche Maßnahmen, die die neue Erzählung untermauern sollen, hatte der | |
| Bundesvorstand in einem Leitantrag zum Thema vorgelegt. Von einer Rückkehr | |
| zum 49-Euro-Ticket war in der ursprünglichen Fassung zum Beispiel die Rede | |
| und von neuen Abgaben, die fossile Konzerne auf ihre Gewinne zahlen | |
| sollten. Bei letzterem blieb aber die konkrete Ausgestaltung bewusst vage: | |
| „Dazu erarbeiten wir verschiedene Optionen“, hieß es in der Vorlage. | |
| Zugespitztere Vorschläge dazu, was es denn heißt, die Klimapolitik | |
| einerseits ehrgeizig und andererseits sozial zu gestalten, lieferten erst | |
| Änderungsanträge aus der Partei. Für einen davon wirbt am Samstagmorgen vor | |
| der Parteitagshalle eine kleine Delegation von Fridays For Future: Ein | |
| Dutzend Aktivist:innen protestiert gegen geplante Gasbohrungen vor der | |
| Insel Borkum. „Stimme für Glaubwürdigkeit und gegen Gasrausch!“, | |
| appellieren sie auf den Flyern, die sie an die Delegierten verteilen. Der | |
| Bundesrat muss der Gasförderung noch zustimmen und auf die Bundesländer mit | |
| grüner Regierungsbeteiligung kommt es bei der Entscheidung mit an. Der | |
| Parteitag soll ihnen auftragen – so steht es in einem Antrag des ehemaligen | |
| Bundestagsabgeordneten Sven-Christian Kindler – die Pläne abzulehnen. | |
| Vom Bruch zwischen Bewegung und Partei, der in der Ampel-Zeit zu beobachten | |
| war, ist am Morgen vor der Halle nichts zu spüren. „Schön, dass ihr da | |
| seid!“, ruft einer der Delegierten in Richtung der kleinen Kundgebung. | |
| „Borkum ist mein Urlaubsparadies!“, der nächste. Auch Felix Banaszak geht | |
| auf dem Weg in die Halle einen Umweg, um kurz mit den Aktivist:innen zu | |
| sprechen. Im Wortlaut werde der Antrag wohl nicht durchgehen, sagt er, | |
| alles nicht so einfach, aber in Kern seien sich alle einig – auch die | |
| grünen Landesregierungen. „Wir arbeiten an einem Signal“, sagt er noch, | |
| dann muss er weiter. Die Fridays schauen zufrieden. | |
| Ein paar Stunden später, am frühen Nachmittag, stehen sie in der Halle und | |
| schauen ungläubig. Gerade haben sie die Nachricht bekommen, dass der | |
| Bundesvorstand den Änderungsantrag leicht verändert akzeptiert hat. | |
| Gleichzeitig geben die sieben Landesumweltminister:innen der Grünen | |
| ein öffentliches Bekenntnis ab. Über die DPA verbreiten sie einen | |
| gemeinsamen Antrag für den Bundesrat, in dem es sinngemäß heißt: Wir lehnen | |
| die Gasbohrung ab. | |
| ## Wiederauflage des 9-Euro-Tickets | |
| Auch andere Änderungsanträge gehen auf dem Parteitag durch: Vorschläge für | |
| eine höhere Besteuerung von Privatjets akzeptiert der Bundesvorstand ohne | |
| Abstriche. Einen Antrag der Grünen Jugend, den Preis für das | |
| Deutschland-Ticket nicht nur auf 49 Euro zu senken, sondern auf 9 Euro, | |
| lehnt die Parteispitze zwar ab. Bei der Abstimmung, zu der es dadurch | |
| kommt, setzt sich der Nachwuchs aber durch. | |
| Auch in einer zweiten Abstimmung unterliegt der Vorstand, aber das wird er | |
| verkraften können: Die Basis streicht zwar den Vorschlag der Spitze, ein | |
| mögliches Klimageld regional auszudifferenzieren und auf dem Land mit | |
| schlechtem ÖPNV-Angebot mehr zu zahlen als in der Stadt. Die Delegierten | |
| stellen aber nicht die Forderung infrage, das Klimageld sozial zu staffeln | |
| und schnell einzuführen. | |
| Die Botschaften, die sich Parteichef Banaszak gewünscht hat, sendet der | |
| Parteitag am Samstag also tatsächlich. Welchen Weg die Grünen in Zukunft | |
| wirklich gehen, ist damit aber noch lange nicht gesagt. Während die | |
| Bundespolitiker:innen auf Konfrontation zur fossilen Industrie | |
| gehen, ist die Lage in mehreren Ländern, abgesehen von der Borkum-Frage, | |
| anders. | |
| ## Nicht alle wollen Konfrontation | |
| Die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin und stellvertretende | |
| Ministerpräsidentin Mona Neubaur setzt beim Klimaschutz nicht auf | |
| Konfrontation, sondern ein Miteinander mit der Industrie. „Wir werden das | |
| nicht gegen die Industrie schaffen, wir brauchen die Mehrheiten in der | |
| Gesellschaft“, sagt sie in Hannover. Die Grünen müssten breite Bündnisse | |
| schließen, von Naturschutzverbänden über „Oma Erna“ bis zur Wirtschaft. | |
| „Das ist unsere Super-Power“, sagt sie. Neubaur steht in der Partei in der | |
| Kritik, weil sie mit der Chemie-Industrie einen Pakt geschlossen hat, bei | |
| dem ihren Kritiker:innen zufolge die Klimaziele nicht ausreichend | |
| berücksichtigt werden. „Es ist in NRW gelungen, einen Weg zu finden, wie | |
| die Transformation weitergeht“, verteidigt sie den Pakt mit der Branche. | |
| Die Industrie hätte zugesagt, auf dem Pfad der Co2-Minderung zu bleiben. | |
| Ähnlich hält es Cem Özdemir, der im März grüner Ministerpräsident in | |
| Baden-Württemberg werden will, im Umgang mit der Wirtschaft. Er hat sich | |
| mit Blick auf die Autoindustrie im Ländle schon vor Wochen für eine | |
| Aufweichung des Verbrenner-Aus ab 2035 ausgesprochen – entgegen der Linie | |
| der Bundespartei. Am Sonntag wird er auf dem Parteitag in Hannover | |
| sprechen. Dass er sich dort hinter den Beschluss stellen wird, den die | |
| Delegierten am Samstag zu diesem Thema getroffen haben, ist nicht zu | |
| erwarten: Es sei gefährlich, heißt es darin, dass „rückwärtsgewandte | |
| Politiker*innen, insbesondere von Union und SPD, die europäische Einigung | |
| zum Verbrenner-Aus infrage stellen“. | |
| ## Salbe fürs angeschlagene Selbstbewusstsein | |
| Neben der inhaltlichen Neuausrichtung geht es in Hannover auch um das | |
| Regenerieren des angeschlagenen Selbstbewusstseins der Partei. Viele | |
| Redner:innen bemühen sich nun, Zuversicht zu verbreiten. „Der Wind bläst | |
| uns ganz schön ins Gesicht“, sagt etwa die Co-Vorsitzende der grünen | |
| Bundestagsfraktion, Britta Hasselmann. „Lasst Euch nicht beirren.“ Wenn | |
| Bundeskanzler Friedrich Merz durch Unfähigkeit und Rückschritt glaube, sich | |
| aus der Verantwortung stehlen zu können, brauche es die Grünen „, die | |
| sagen: nein.“ „Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen“, sagt sie. „Ich… | |
| überzeugt, dass Bündnis 90/ Die Grünen den Menschen Mut und Kraft geben.“ | |
| Die frühere grüne Umweltministerin Steffi Lemke ruft ihre | |
| Parteifreund:innen auf, mehr über die Erfolge in der Bundesregierung zu | |
| sprechen. „Nach meinem Geschmack reden wir zu wenig darüber“, sagt sie. Der | |
| Ausbau der Erneuerbaren Energien, das Programm Natürlicher Klimaschutz, die | |
| Wasserstrategie und die Kreislaufwirtschaft nennt sie als Beispiele – und | |
| lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Auflistung noch eine ganze Weile | |
| fortsetzen könnte. „Lasst Euch nichts einreden“, ruft sie. „Grün wirkt | |
| sogar noch weiter, wenn wir nicht mehr in Regierungsverantwortung sind.“ | |
| 29 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
| Anja Krüger | |
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