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# taz.de -- Kunstszene in Warschau: Hoch ragen die Glastürme über schwelendem…
> Konservativer Kulturkampf, Braindrain, Krieg in der Ukraine: Warschaus
> auflebende Kunstszene spiegelt den Wandel im eigenen Land und in Europa.
Bild: Gekappte Bruderländer: Alina Szapocznikows Plastik „Przyjaźń“ im A…
Eine lebensgroße Barbie steht aufrecht auf einem rosa Holzsockel. Die
Plastikarme liegen eng am Körper. Ihr Kopf ist kahl, die nackte Haut
wellig. In ihrem Unterleib ist ein Monitor eingebaut. Er zeigt eine Frau,
die von einer anderen Barbiepuppe einen Gipsabdruck anfertigt. Es knistert
und flackert. „Die Technik ist uralt“, lacht Agnieszka Rayzacher und
fingert an den Reglern. „Aber lange Haare, Wespentaille, straffe Haut, das
sind Schönheitsbilder, die noch immer aktuell sind“ fasst die 56-Jährige
zusammen. „Sie haben mit der Realität nichts zu tun.“
Seit zwanzig Jahren leitet Agnieszka Rayzacher die [1][Galerie lokal_30]
für feministische Kunst in Warschau. Fast genauso lange kennt sie die
Künstlerin Monika Mamzeta, die die Barbie-Skulptur mit dem Titel
„Lebensborn“ bereits 1999 angefertigt hat. Beim Gallery Weekend, einem
konzertierten Eröffnungswochenende der Warschauer Galerien in diesem
Herbst, wurde „Lebensborn“ mit dem Hauptpreis der Polnischen Kunststiftung
ING ausgezeichnet.
Denn das Kunstwerk trifft auch heute einen sensiblen Nerv in Polen. Dessen
strenges, [2][polarisierendes Abtreibungsgesetz und über viele Jahre von
der PiS-Regierung propagierte konservative Familienpolitik] gerade auch die
Selbstbestimmung der Frau angreifen, auf die Mamzetas gequälte Barbie mit
dem Überwachungsmonitor im Unterleib anspielt.
## Kacheln, mit Lack bemalt
An die biologische Funktion der Frau erinnern auch die weißen
Keramikkacheln im Badezimmer der Galerie lokal_30 im fünften Stock eines
Altbau-Wohnhauses in einem Viertel hinter dem glitzernden Warschauer
Hauptbahnhof. Sie sind mit rotem und blauem Lack bemalt und zeigen Szenen
aus dem Menstruationsalltag. An den Wänden des Wohnzimmers hängen Dutzende
Vulva-Porträts von Anna Panek, mal fotografiert, mal designt in
psychedelischem Retro-Tapetenmuster.
Umso anzüglicher scheint der Blick zwischen den Kunstwerken raus aus dem
Fenster: Flachdächer mit Schornsteinen, dahinter gläserne Hochhäuser, die
hoch in den Himmel ragen. Die Skyline von Warschau erinnert an Frankfurt
oder London. Das internationale Kapital, so sagen es auch
Wirtschaftsberichte, ist in Warschau längst angekommen. „Zeichen der
Macht“, scherzt die Galeristen und taucht mit ihrem Fahrrad in den
Warschauer Nachmittagsverkehr ein.
„Die Leute haben großen Bedarf, sich auszutauschen und zu zeigen!“, strahlt
Tytus Klepacz in seiner [3][Galerie Lotna,] die sich an der Hauptstraße
Marszałkowska befindet. Von der Bar unten an der Straße schallt Limp Bizkit
aus den Boxen hoch ins Obergeschoss seiner Galerie, während Klepacz auf
Ölmalereien zeigt: Eine nackte Frau liegt auf dem Bett. Ihr Gesicht ist in
die Decke vergraben. Hunde, die auf Kopfkissen gestickt sind, lechzen
bedrohlich in ihre Richtung.
## Mit Tizian gegen Männergewalt
Mit diesem Rückenakt, dessen wellige Umrisse daherkommen, als würde die
Abgebildete schluchzen und zittern, greift die Malerin Helena Minginowicz
auf Tizians „Venus von Urbino“ zurück – auch, um auf die Gewalt aufmerks…
zu machen, der Frauen täglich begegnen: im Job, auf der Straße, im Bett.
Tatsächlich scheint sich die polnische Hauptstadt von den acht langen
Jahren rechtsextremen Kulturkampfs der PiS-Regierung erholt zu haben. Im
vergangenen Jahr wurde das erste Queer-Museum eröffnet. Das allgemeine
Interesse an Kunst wächst. „Allein der Herbst war ein Fest“, fasst Klepacz
zusammen und zählt auf „Avant Art Festival, Warszawa Hotel Art Fair,
Gallery-Weekend“. Über fünfzig Galerien und Kunstorte gibt es im Zentrum.
Er empfiehlt den Spaziergang zum nur einen Kilometer entfernten Museum für
Moderne Kunst, das vor einem Jahr eröffnet wurde.
Tatsächlich [4][ist der lange weiße Klotz aus Sichtbeton] nach einem
Entwurf des US-Architekten Thomas Phifer beeindruckend. Stark und
selbstbewusst liegt er am anderen Teil von Warschaus Hauptverkehrsstraße
Marszałkowska – zu Füßen des 237 Meter hohen Kulturpalasts, ein Geschenk
Stalins, das seit den 1950er Jahren die Skyline von Warschau prägt.
## Eine bittere Metapher einstiger Bruderländer
Im Innern des weißen Riegels sind Werke polnischer Künstler:innen zu
sehen, wie die Skulptur „Freundschaft“ von 1954 von Alina Szapocznikow:
zwei Arbeiter, die sich kameradschaftlich die Arme über die Schulter legen.
Den äußeren Gliedern fehlen die Unterarme. Das dekonstruierte
Doppelstandbild, das einst zur Innenausstattung des stalinistischen
Prunkturms gehörte, ist heute eine bittere Metapher auf einstige
[5][Bruderländer der Sowjetunion].
„Ich gehöre zur Generation Europa,“ sagt Chefkuratorin Natalia Sielewicz
und blickt entspannt durch die riesige Fensterfront des Museumsneubaus.
Nach dem Abitur habe sie Polen verlassen, um in London zu studieren – und
wurde mit dem Brexit wieder zurück in die Heimat gespült. Durch Reformen
der seit zwei Jahren amtierenden liberalen Tusk-Regierung kam die
Kunsthistorikerin, wie auch Dutzende weitere Frauen in leitende Positionen
von Polens Kulturinstitutionen.
Noch bis Januar beherbergt das Museum für Moderne Kunst [6][die 6. Kyiv
Biennial]. „Near East, Far West“, so der diesjährige Titel der
durchwachsenen [7][Exil-Kunstschau], erinnert an den Krieg im Nachbarland:
Ruinenfragmente von der ukrainischen Frontlinie, die Nikita Kadan unter dem
Titel „Ruhe im Klassenzimmer“ auf schlanke Gestelle filigran platziert hat,
oder die Installation [8][„Leak. Das Ende der Pipeline“ von Hito Steyerl,
Oleksiy Radynski] und Philipp Goll über die lang anhaltenden, aller Kritik
trotzenden deutsch-russischen Gasgeschäfte.
## Der Suprematismus wird falsch verortet
Auch Werke aus dem Museumsbestand des Kyjiwer Mysteckij-Arsenals sind zu
sehen. Allen voran diejenigen von Kasimir Malewitsch, Begründer des
Suprematismus, gebürtiger Ukrainer mit polnischen Wurzeln, [9][der bis
heute in der Kunstgeschichte als Hauptvertreter der russischen Avantgarde
gilt.] „Unser Museum ist die Schaltstelle zwischen Osteuropa und dem
Westen“, sagt Sielewicz. „Wir dürfen uns nicht auseinanderbringen lassen.�…
Dennoch: In den gigantischen weißen Räumen drohen all die Kunstwerke zu
verschwinden.
Um der Kunst aus dem Kriegsland einen dauerhaften Ort zu geben, hat Petro
Vladimirov vor einem Jahr die [10][Galerie TBA] eröffnet. Sanft zieht der
große schlaksige Mann das Eisengitter zur Seite. Früher war in dem winzigen
Laden auf der Wilcza-Straße eine Uhrmacherei. Heute hängen an den Wänden
verschwommene Ölporträts des jungen polnischen Malers Konrad Krzyżanowski,
die auf die Kollagen des 35-jährigen Künstlers Andriy Rachinskiy aus
Charkiw, der in diesem Jahr auch für den Pinchuk Art Prize nominiert wurde,
wohl die wichtigste Auszeichnung [11][für junge Gegenwartskunst in der
Ukraine.]
## Hase mit verbundenen Augen
Fotos eines Plattenbaus und verlassener Spielplätze überlagert Rachinskiy
mit den historischen Comicfiguren „Hase und Wolf“, die sowjetische Variante
von Tom & Jerry. Den Hintergrund bildet eine Baudecke. Er zeigt den Hasen
mit verbundenen Augen und montiert ukrainische Kinderabzählreime ins Bild.
Die sind düster: „Sunset slipped behind the town, on the pond the waves
rose brown / Water murmured, strange and deep / Night came down and shadows
creep.“
Eine Tragik liegt in dieser trüben Welt, die ursprünglich voller Farben war
– der Wolf, wie man aus den Comics weiß, wird nicht aufhören, den Hasen zu
jagen. Aber fangen wird er ihn nie. „Nu Pagadi!“, schreit er zum Ende jeder
Folge: „Jetzt reichts!“. Galerist Vladimirov, der bereits seit Russlands
Annexion der Krim 2014 in Warschau lebt, ist berührt: „Die zeitgenössische
Kunstszene in Polen und der Ukraine waren schon immer eng miteinander
verbunden. Sie bilden ein großartiges Ensemble.“
Gemeint ist damit auch die gemeinsame Erfahrung imperialistischer
Vergangenheit: Nazideutschland, Sowjetunion. Während Petro Vladimirov
weiter in die Parallelstraße in die Galerie Roster zieht, noch eine letzte
Frage: Aufbruchstimmung und künstlerische Freiheit auf der einen,
Militarisierung Polens und rechte Kräfte anderseits – wie geht das
zusammen? Er zieht die Augenbrauen hoch. „Es ist, wie es immer ist. Wir
leben auf einem Vulkan.“
3 Dec 2025
## LINKS
[1] https://lokal30.pl/
[2] /Jugendforscher-ueber-polnische-Identitaet/!6089804
[3] https://www.galerialotna.pl/
[4] /Gelungener-Museumsbau-in-Warschau/!6044715
[5] /Tourismus-zwischen-Bruderlaendern/!5863471
[6] https://2025.kyivbiennial.org/
[7] /Die-Schau-Kyiv-Perenniale-in-Berlin/!5996101
[8] /Filmemacher-Steyerl-und-Radynski/!6016739
[9] /Ukrainische-Kunst-in-Koeln/!5942136
[10] https://tbagallery.com/
[11] /Die-ideenreiche-Kunst-der-Ukraine/!6055079
## AUTOREN
Lena Reich
## TAGS
Polen
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