| # taz.de -- Sofi Oksanen über Kindesentführungen: Vor den Augen der Welt | |
| > Unzählige Satellitenaufnahmen zeigen, wie das russische Regime | |
| > ukrainische Kinder entführen lässt. Warum sind wir nicht in der Lage, | |
| > Verbrechen klar zu benennen? | |
| Bild: Die Autorin Sofi Oksanen Sofi Oksanen auf der Konferenz der Schwedischen … | |
| Als ich klein war, begannen meine estnischen Cousins und Cousinen, die ein | |
| wenig älter waren als ich, sich Sorgen um ihre Größe zu machen. Ihr Vater | |
| war klein für einen Mann, und seine Kinder fragten sich, ob sie ebenfalls | |
| so klein bleiben würden. Doch so kam es nicht – ihr Vater war einen Kopf | |
| kleiner als ich, doch seine Nachkommen wurden groß, viel größer als ich. | |
| Dass ihr Vater von kleiner Statur war, hatte einen Grund. Im März | |
| deportierte 1949 die Sowjetunion 20.073 Menschen aus dem von den Sowjets | |
| besetzten Estland, und er war mit vierzehn Jahren einer davon. In Sibirien | |
| überlebte er, indem er Kartoffelschalen aß, und verlor so einige Zentimeter | |
| Wachstum, kehrte aber im Gegensatz zu vielen anderen lebend zurück. Die | |
| Kindersterblichkeit unter den Deportierten war hoch. | |
| Das [1][als Gulag bekannt gewordene Lagersystem] sollte eigentlich ewig | |
| bestehen, wurde aber in den Jahren nach Stalins Tod 1953 abgebaut, worauf | |
| die Insassen nach jahrelanger Lagerhaft wieder in die Gesellschaft | |
| entlassen wurden. Die Mehrheit hatte kein Zuhause, in das sie zurückkehren | |
| konnten. Was sie besessen hatten, war konfisziert worden. In Estland waren | |
| russische Siedler in ihre Häuser gezogen. Mein Onkel hatte in Sibirien wie | |
| die anderen Deportierten fließend Russisch zu sprechen gelernt, doch das | |
| half ihm bei den Problemen nicht weiter, vor denen er nach seiner Rückkehr | |
| in die Heimat stand: Weil sein Schulbesuch mit der Verschleppung geendet | |
| hatte, besaß er kein Zeugnis über irgendeinen Schulabschluss, was er aber | |
| für jede Art der Weiterbildung benötigte. | |
| So wie auch für die Jobsuche. Schließlich gelang es ihm, einen Platz in | |
| einer Fahrschule zu ergattern, deren Leiter Mitleid [2][mit ehemaligen | |
| Lagerinsassen] hatte. Nicht alle zeigten so viel Verständnis – viele mieden | |
| den Kontakt mit Menschen, die das Stigma ehemaliger Volksfeinde trugen. | |
| Doch mit einem Führerschein konnte er sich Arbeit in einem Holzfällerlager | |
| besorgen, wo er den Holzlaster fuhr. | |
| ## Herkunft als einziges Verbrechen | |
| Mein Onkel war nicht deportiert worden, weil er irgendetwas GETAN hatte. | |
| Als Teenager hatte er sich nicht an antisowjetischen Aktivitäten beteiligt; | |
| er war kein „Waldbruder“ gewesen, kein Widerstandskämpfer wie mein | |
| Großvater. Er war nicht wie die Brüder meiner Großmutter, die gegen die | |
| Besatzer zu den Waffen gegriffen hatten und, gejagt vom sowjetischen | |
| Geheimdienst NKWD, ums Leben gekommen waren. Und er war auch nicht wie der | |
| Bruder meines Großvaters, der ebenfalls verschleppt wurde – allerdings als | |
| Erwachsener – und in dessen Akten sich immerhin der Vermerk befindet, dass | |
| er wegen Verbrechen gegen die Sowjetunion verurteilt worden war, mit dem | |
| Datum des Urteils daneben. Mein Onkel hingegen wurde in den sowjetischen | |
| Schauprozessen nie wegen irgendetwas verurteilt. | |
| Er wurde als Kind nur aus einem einzigen Grund verschleppt: Er war Este – | |
| Sohn estnischer Eltern, Kind eines Mannes, der bereits Jahre zuvor wegen | |
| Widerstands gegen die sowjetische Besatzung ins Lager gekommen war. | |
| Das Stigma der Deportation folgte meinem Onkel sein ganzes Leben, so wie | |
| allen Deportierten. Während der Perestroika wurden viele von ihnen | |
| rehabilitiert, doch zu dem Zeitpunkt war mein Onkel bereits Rentner. | |
| Immerhin konnte der sowjetische Terror jetzt öffentlich angesprochen | |
| werden. Vorher redete man nur in vertrauenswürdiger Gesellschaft darüber. | |
| Doch selbst diesen Menschen gegenüber verwendeten wir Euphemismen wie „das | |
| kalte Land“ statt Wörtern wie „Verschleppungen“. Wir sprachen über | |
| Menschen, die „geholt wurden“, und niemand musste aussprechen, wohin sie | |
| gebracht wurden, das wussten wir alle. | |
| Als während des russischen Überfalls auf die Ukraine die Verschleppung | |
| ukrainischer Kinder ans Licht kam, erregte das weltweit Aufmerksamkeit. Ich | |
| war jedoch erstaunt, wie schnell das Thema wieder aus der medialen | |
| Öffentlichkeit und der politischen Diskussion verschwand. Kürzlich traf ich | |
| eine Journalistin, die nach meiner Rede über die Deportationen überrascht | |
| war, weil sie dachte, das Problem müsse doch schon gelöst worden sein, und | |
| als ich sie fragte, wie sie denn darauf komme, antwortete sie, wenn so | |
| etwas geschehe, dann erwarten wir von den zuständigen Regierungen und | |
| Behörden, dass sie das Problem lösen, und wenn nicht mehr darüber berichtet | |
| werde, nehmen wir an, dass genau das geschehen sei, denn sonst bekämen wir | |
| ja ständig weitere Berichte, oder? | |
| ## Nur wenige Kinder kehrten zurück | |
| Seit Russland nach der Besetzung der Krim 2014 mit den Deportationen | |
| begann, habe ich zu begreifen versucht, wieso diesem Verbrechen so wenig | |
| Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bisher sind etwa 35.000 ukrainische Kinder | |
| nach Russland verschleppt worden, und nur wenige von ihnen konnten | |
| zurückkehren. | |
| Während der sowjetischen Besatzung der baltischen Staaten versuchten wir, | |
| uns mit Hilfe von Euphemismen und dem Schreiben und Lesen zwischen den | |
| Zeilen zu schützen. Darin mag aber vielleicht auch einer der Gründe liegen, | |
| warum die Reaktion der westlichen Staaten auf die Deportationen so | |
| schwammig ausfällt. Wegen des Eisernen Vorhangs haben wir fünfzig Jahre | |
| verloren, um unsere Geschichte, unsere großen Ereignisse, unsere großen | |
| Erzählungen im Bewusstsein des Westens zu verankern. | |
| Nachdem die Est:innen ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, begannen sie | |
| sofort, sich auch von der Sprache der Sowjetunion zu dekolonisieren, doch | |
| inzwischen ist deutlich geworden, dass es nicht gereicht hat, und wie | |
| sollte es auch? | |
| Die westlichen Länder haben den kolonialen russischen Blick bereits während | |
| der Zarenzeit übernommen, und die Sowjet-Ära hat daran nichts geändert. In | |
| den baltischen Staaten gehören Deportationsgeschichten zu den wichtigsten | |
| Identitätserzählungen, doch für den Westen existieren sie nicht oder | |
| gehören bloß zur Lokalgeschichte. Der frühere Ostblock – der die Hälfte v… | |
| Europa ausmacht – hat die Erfahrung zweier unterschiedlicher totalitärer | |
| Systeme gemacht, und trotzdem ist unsere Erfahrung immer noch nicht | |
| anerkannter Teil der gemeinsamen Erzählung des europäischen Kontinents | |
| geworden. Sie wurde nie zu einer historischen Erinnerung des gesamten | |
| Europas. | |
| ## Klare Wortwahl | |
| Die Ukrainer:innen bezeichneten die Deportationen, als sie begannen, zu | |
| Recht als Verschleppungen und Entführungen. Das sind klare, präzise und | |
| verständliche Wörter. Diese Wortwahl war klug, denn die Ukrainer:innen | |
| mussten die Information über das Geschehen in einer Weise verbreiten, die | |
| auch für Menschen verständlich war, die nichts über ukrainische Geschichte | |
| wussten oder über die vorherigen Deportationen, verständlich für Menschen, | |
| die den russischen Blick übernommen hatten, ohne sich darüber im Klaren zu | |
| sein, und hätte ich es besser gewusst, als ich vor über zwanzig Jahren über | |
| genau dieses Thema zu schreiben anfing, ich hätte genau diese Wörter | |
| gewählt. | |
| Aber das hätte ich gar nicht gekonnt, denn als meine ersten Bücher in den | |
| 2000er Jahren veröffentlicht wurden, hatte Russland den Kampf gegen die | |
| Geschichte und die Fakten bereits begonnen. Ich verwendete die Wörter aus | |
| Geschichtswissenschaft und Forschung, damit deutlich wurde, dass ich über | |
| Ereignisse schrieb, die im echten Leben passiert waren, über Verbrechen, | |
| die von internationalen, unabhängigen Forscher:innen untersucht worden | |
| waren. | |
| Zum russischen Vorgehen, das wahre Wesen der Deportationen zu leugnen, | |
| gehört auch das Verhöhnen der Opfer. Als die Prozesse gegen die Menschen | |
| begannen, die an den Deportationen in Estland beteiligt waren, verwandelten | |
| die russischen Medien die Gerichtsverhandlungen in eine Zirkusschau, in der | |
| russische Kinder den Tätern Nelken brachten und sie als Helden verehrten. | |
| Sie können sich sicher vorstellen, wie sich das anfühlte, wenn ich Ihnen | |
| sage, dass wir das Leugnen der Verschleppungen so ernst nehmen wie das | |
| Leugnen des Holocausts. | |
| Doch ich habe den Eindruck, dass niemand sonst diese russischen | |
| Desinformationskampagnen ernst nahm. Der Kreml wertete das als schweigende | |
| Zustimmung, was ihn im Glauben bestärkte, bei den nächsten Deportationen | |
| würde die Reaktion genauso ausfallen, und als sie dann in der Ukraine | |
| losgingen, verwendete Russland sogar die gleichen Formulierungen wie die | |
| putinistischen Aktivist:innen damals, als ich über die Deportationen | |
| der 1940er zu schreiben begann. Sie nannten die Lager zu der Zeit | |
| „Sommerlager“ und die Verschleppung „Sommerferien“. Jetzt stiehlt Russl… | |
| ukrainische Kinder unter dem Vorwand, sie in Ferien- und Sommerlager zu | |
| bringen, und das können sie tun, weil sich im internationalen Kontext | |
| niemand widersetzt hat, als sie historische Fakten verzerrten. | |
| ## Verfassungsänderungen von 2020 | |
| Das Wesen früherer Deportationen abzustreiten, ist für die Russische | |
| Föderation so wichtig, dass die Verbreitung von Informationen über diese | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Russland inzwischen eine Straftat | |
| ist. | |
| Als Russland 2014 die Halbinsel Krim annektierte, wurde die Glorifizierung | |
| der Sowjetunion ins Strafgesetzbuch der Russischen Föderation aufgenommen: | |
| Es ist eine Straftat, „Falschinformationen“ über das Vorgehen der | |
| Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu verbreiten. Aus unserer Perspektive | |
| bedeutet das zum Beispiel, dass wir gehindert werden, Informationen über | |
| unsere Deportationserfahrungen zu verbreiten. | |
| Die Verfassungsänderungen von 2020 waren ein Schlachtruf und hätten früher | |
| oder später unweigerlich zu einer Eskalation der Kämpfe in der Ukraine | |
| geführt, denn sie bestreiten die Unabhängigkeit der Ukraine. Artikel 67.1 | |
| gliederte die Verfassung der Russischen Föderation in die „tausendjährige | |
| Geschichte“ Russlands ein und nahm damit Bezug auf das Reich der Kiewer Rus | |
| (862-1242), das Vorläufer-Staatsgebilde des heutigen Russlands, von Belarus | |
| und der Ukraine. | |
| Nach der von Russland gefälschten Geschichte bedeutet diese Kiewer Rus, | |
| dass Russ:innen, Ukrainer:innen und Belaruss:innen zu einem | |
| vereinten Volk gehören. In dieser Geschichtsprojektion sind Russland, die | |
| Ukraine und Belarus keine eigenständigen Nationen, sondern eher | |
| Bevölkerungsgruppen der Kiewer Rus, die gemeinsam die Russische Föderation | |
| bilden. | |
| Artikel 67.3 der Verfassung der Russischen Föderation „ehrt die Erinnerung | |
| an die Verteidiger des Vaterlandes und sorgt für den Schutz der | |
| historischen Wahrheit.“ | |
| Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu den Jahren der Perestroika, als die | |
| Deportationen zu rechtswidrigen, kriminellen Handlungen des stalinistischen | |
| Regimes erklärt wurden, zum ersten Mal 1956, dann wieder von 1989 bis 1991. | |
| ## Den Weg geebnet für zukünftige Deportationen | |
| Doch Russlands älteste Menschenrechtsorganisation, die das Gedenken an die | |
| Opfer sowjetischer Verbrechen wachhält und Daten dazu sammelt – Memorial – | |
| wurde 2015 als „ausländischer Agent“ eingestuft, und 2021 [3][ordnete das | |
| Oberste Gericht Russlands die Auflösung der Organisation an.] Die Anklage | |
| behauptete, Memorial „erzeuge ein falsches Bild der Sowjetunion als | |
| terroristischer Staat“. | |
| All das ebnete den Weg für die zukünftigen Deportationen und die | |
| Umerziehung ukrainischer Kinder. Die Aktualisierung traditioneller | |
| Deportationspolitik geschieht nicht über Nacht. So etwas erfordert | |
| langfristige Planung, und als Russland mit der Invasion begann, war der | |
| Plan zur Entführung ukrainischer Kinder bereits vorhanden. | |
| Solche Taten brechen zwar das Völkerrecht, aber innerhalb der Russischen | |
| Föderation sind sie legalisiert worden. In den letzten beiden Jahren hat | |
| Putin persönlich Gesetzesänderungen in die Wege geleitet, welche die rasche | |
| Einbürgerung ukrainischer Kinder erleichtert, und hat staatliche Mittel zur | |
| Finanzierung dieser Initiativen bereitgestellt. Unter präsidialer | |
| Verwaltung stehende Einrichtungen haben diese Kinder beherbergt, und das | |
| Präsidialamt hat Adoptions-Datenbanken finanziert. Die Mitwirkung von | |
| Sicherheitsdiensten war integraler Bestandteil der Operation. | |
| ## Drei Wellen von Deportationen | |
| Nicht zum ersten Mal leidet die Ukraine durch solche Verbrechen, verübt | |
| durch denselben Aggressor. Zwischen 1925 und 1941 sah sich die Ukraine drei | |
| Wellen von Deportationen ausgesetzt, die alle eine „Ent-Ukrainisierung“ zum | |
| Ziel hatten und in deren Verlauf 10-20 Prozent der Bevölkerung verschleppt | |
| wurden. In Estland kam es im Juni 1941 zu den ersten massenhaften | |
| Deportationen, wobei etwa ein Drittel der Entführten Kinder und Jugendliche | |
| waren. Bei den März-Deportationen, denen mein Onkel zum Opfer fiel, war das | |
| Verhältnis das gleiche. Ähnliche Operationen wurden zeitgleich in den | |
| anderen sowjetisch besetzten baltischen Staaten durchgeführt, und auch vor | |
| der Gründung der Sowjetunion hatte das Russische Reich seine imperialen | |
| Ziele bereits mithilfe umfassender Deportationen verfolgt. | |
| Auch aus Finnland wurden Kinder gestohlen. Unsere Nationalerzählung „Die | |
| Birke und der Nordstern“, verfasst von Zacharias Topelius und 1852 | |
| veröffentlicht, beruht auf der wahren Geschichte von Kindern, die während | |
| der russischen Besatzung des Landes als Sklaven nach Russland verschleppt | |
| wurden. Doch damals gab es noch keine Eisenbahnen, die später für | |
| massenhafte Deportationen genutzt wurden. Und in den 1940er Jahren hatten | |
| sie nicht genug Flugzeuge, um Zehntausende Menschen zu deportieren, aber | |
| sie hatten Züge und Viehwaggons. Das System entwickelt sich weiter: | |
| Deportierte werden dorthin geschickt, wo sie gebraucht werden. In den | |
| 1940ern brauchte man Arbeiter für die Bergwerke und den Eisenbahnbau. Heute | |
| konzentriert man sich wegen der demografischen Probleme auf Kinder, und | |
| statt die Deportierten wie früher in Lagern oder Exilgemeinden zu | |
| isolieren, werden sie jetzt in die russische Gesellschaft assimiliert. Doch | |
| beide Methoden haben das gleiche Ziel – die nationale Identität der | |
| betroffenen Gruppen auszulöschen – und sind daher genozidale Praktiken. | |
| Auch heute sind erzwungene Umsiedlungen ein fundamentaler Bestandteil der | |
| imperialen Leitlinien Russlands. Nach der Beseitigung von | |
| Bevölkerungsgruppen, die für die Besatzungstruppen unerwünscht sind, folgt | |
| die nächste Phase, nämlich die Russifizierung der Verbliebenen. Russische | |
| Siedler:innen werden herbeigeschafft, um die deportierten Gemeinschaften | |
| zu ersetzen. Diese Methode wurde bei der Besetzung der baltischen Staaten | |
| angewandt, und diese Methode setzt Russland nun in den Territorien ein, die | |
| es der Ukraine gestohlen hat. | |
| Als die Welt 1945 das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte und Estlands | |
| zweite Besatzung durch die Sowjets begonnen hatte, bestand die Bevölkerung | |
| Estlands zu 97,3 Prozent aus Esten. 1989 war dieser Anteil auf 61,5 Prozent | |
| gesunken. Das zeigt, wie effektiv diese russische Kolonisierungsmethode | |
| ist, doch in meiner Schulzeit wurde überhaupt nicht darüber gesprochen. Als | |
| ich für meinen Debütroman recherchierte, fand ich bei meiner Google-Suche | |
| nichts über russischen Kolonialismus, von Dekolonisierung ganz zu | |
| schweigen. Während meines Studiums an der Universität Helsinki stand nichts | |
| über russischen Kolonialismus auf meinen Lektürelisten. Als ich mich mit | |
| Gender Studies beschäftigte, war Dekolonisierung der Begriff der Stunde, | |
| aber das bezog sich nicht auf Russland oder Osteuropa. Es ging nur um den | |
| westlichen Übersee-Imperialismus. Nicht um den östlichen | |
| Siedlerkolonialismus, der zu Pferd vorangetrieben wurde. | |
| ## Koloniale Assimilierungspolitik zeigt Wirkung | |
| Dank der Ukraine ist die Situation inzwischen besser, aber der russische | |
| Blick lässt sich nicht innerhalb weniger Jahre dekolonisieren. Als ich | |
| meine ukrainische Freundin fragte, warum ihrer Ansicht nach die westliche | |
| Reaktion auf die Deportationen so windelweich ausfällt, gab sie mir eine | |
| düstere Antwort: „Die halten uns immer noch für Russen.“ Wenn das stimmt, | |
| ist die koloniale Assimilierungspolitik Russlands wirksamer, als man | |
| glauben möchte, denn sie betrifft nicht nur die Menschen in den von | |
| Russland kontrollierten Gebieten, sondern auch Menschen, die außerhalb | |
| Russlands leben. Sie hat auch Ihr Denken, Ihre Weltsicht, Ihre Werte und | |
| moralischen Maßstäbe beeinflusst. | |
| Russlands Kolonialpolitik ist so effizient, dass das westliche Sprechen | |
| über den Krieg überhaupt nicht den zentralen Aspekt des Krieges betont, | |
| seine eigentliche Ursache, mit dem die Deportationen so unmittelbar | |
| verknüpft sind. Und genau darum kann die Friedensrhetorik, die sich nur auf | |
| Grenzverläufe fixiert, auch niemals zu einem nachhaltigen und gerechten | |
| Frieden führen. Im Herzen des Krieges liegt Identitätspolitik: | |
| Ukrainer:innen sind keine Russ:innen und wollen auch keine | |
| Russ:innen werden, während Russland die Ukrainer:innen um jeden Preis | |
| zwingen will, Russ:innen zu werden. Darum stehen diese Kindesentführungen | |
| auch im Zentrum des Konflikts: Russland stiehlt ukrainische Kinder, um sie | |
| zu Russ:innen umzuerziehen, und sie tun das ganz offen, ohne es zu | |
| verbergen. | |
| Das ist der Unterschied zu den Massendeportationen der 1940er. In der | |
| Sowjetunion ließen sich Deportationen leicht vor der Welt verbergen. Die | |
| Kommunikation mit er Außenwelt war unterbrochen, Briefe wurden zensiert, | |
| Deportationszügen durfte man sich weder zu Fuß noch auf dem Fahrrad nähern, | |
| es war unmöglich, an sie heranzutreten, geschweige denn Fotos von ihnen zu | |
| machen. Jetzt hingegen kann die ganze Welt Russlands Vorgehen beobachten; | |
| Satellitenaufnahmen zeigen Busse, die an Flughäfen auf die Kinder warten, | |
| die in Flugzeugen des Präsidenten hergebracht wurden. Das scheint Russland | |
| jedoch gar nichts auszumachen. | |
| Ganz im Gegenteil. Sie verdrehen die Sichtbarkeit ihrer Taten, indem sie | |
| die Deportationen als „Evakuierungen“ oder „Rettungsmaßnahmen“ | |
| verschleiern. Diese Taktik, Kindesentführungen als wohltätige Akte zu | |
| verkleiden, passt zur umfassenderen Erzählung des Kremls, die Russland als | |
| Retter darstellt. Das Narrativ von der Errettung dieser Kinder dient also | |
| auch innenpolitischen Zwecken, es soll Unterstützung für das generieren, | |
| was „militärische Spezialoperation“ genannt wird. | |
| ## Am hellichten Tage | |
| Diese Öffentlichkeitsarbeit könnte auch ein Grund für die schwache Reaktion | |
| der westlichen Staaten sein. Vielleicht ist ein Präsidialflugzeug ein zu | |
| eigenartiges Transportmittel für die Entführung von Kindern? Oder | |
| vielleicht liegt es einfach daran, dass diese Verbrechen am helllichten | |
| Tage begangen werden? Denn wer begeht schon schamlos ein Verbrechen vor | |
| aller Augen im hellen Tageslicht? | |
| Oder vielleicht nutzt Russland mit dieser ganzen Sichtbarkeit, den | |
| Hunderten von sogenannten „Freizeitlagern“ und den Präsidentenflugzeugen | |
| auch nur die Legende der „Großen Lüge“: Laut Adolf Hitler lassen sich | |
| Menschen dazu bringen, eine kolossale Lüge zu glauben, einfach weil sie | |
| nicht glauben können, dass jemand „die Unverfrorenheit besitze, die | |
| Wahrheit so ungeheuerlich zu verdrehen“. | |
| Vielleicht rührt die schwache Reaktion aber auch nur daher, dass die | |
| Menschen des Westens einfach das Verbrechen nicht erkennen. | |
| Und wer nicht in der Lage ist, das Verbrechen zu IDENTIFIZIEREN, wird auch | |
| nicht darauf reagieren können. | |
| ## Breites Wissen über NS-Verbrechen | |
| Wir haben eine ungeheure Menge von öffentlichen Erzählungen über | |
| Nazi-Verbrechen. | |
| Jedes Jahr erscheinen unzählige Bücher dazu überall auf der Welt – denn, | |
| wie ein Verleger es einmal ausdrückte, Nazis verkaufen sich immer. Die | |
| Streamingdienste bringen fast jeden Monat neue Filme und Serien über | |
| Deutschland unter Hitler heraus. Forscher:innen graben immer neue Daten | |
| und Perspektiven zum Thema aus – und offenbar werden sie in dieser Arbeit | |
| auch gefördert und finanziert, was ganz richtig so ist. | |
| Dank dieser kulturellen Aufmerksamkeit können wir die Gefahren des | |
| Nationalismus erkennen – solange es nicht um Russland geht. | |
| Weil Nazis faszinieren, können wir die Anzeichen ethnischer Verfolgung | |
| erkennen – solange der Verfolger nicht Russland heißt. | |
| Unsere Faszination mit dem Nationalsozialismus erlaubt es uns, | |
| Antisemitismus zu entdecken, auf Rassismus zu reagieren, und das können wir | |
| nur, weil wir gelernt haben, diese Übel offen und laut zu benennen, und | |
| weil wir eine moralische Einschätzung dieser Übel teilen – jedenfalls in | |
| der westlichen Welt. | |
| ## Wenig Wissen über Verbrechen des sowjetischen Regimes | |
| Im Gegensatz dazu ist die Anzahl der Bücher, die sich mit den Verbrechen | |
| des Kommunismus, der Sowjetunion oder Russlands beschäftigen, ungleich | |
| geringer. Der Unterschied ist gewaltig. Wollten wir diesen Abstand | |
| verringern, würde das nicht Jahre dauern, sondern Generationen. | |
| Wer an diesem Ungleichgewicht zweifelt, kann ja selbst nachzählen: | |
| Durchsuchen Sie alle Datenbasen und Streamingdienste und sehen Sie selbst, | |
| wie viele Arbeiten Sie über die Menschenrechtsverbrechen kommunistischer | |
| Regime finden – und wie viele über die der Nazis. | |
| Jeder Mensch weiß, wer Mengele ist, aber könnten Sie einen einzigen Namen | |
| der Ärzte nennen, die in der UdSSR in Giftlabors oder an Menschenversuchen | |
| arbeiteten? Wie viele Bücher über die Strahlentests an Gulag-Insassen in | |
| der Sowjetunion haben Sie gelesen? Wie viele Filme zu dem Thema haben Sie | |
| gesehen? Zu Recht kennt jeder Mensch den Namen Anne Frank, aber könnte | |
| irgendjemand den Namen eines Mädchens nennen, das nach Sibirien deportiert | |
| wurde und dort ums Leben gekommen ist? | |
| Unser moralischer Kompass richtet sich an öffentlichen Narrativen aus – an | |
| Büchern, Filmen, Fernsehserien, Nachrichten und Reportagen. An Kunst. | |
| Wenn es über ein bestimmtes Verbrechen nicht genug öffentliche Erzählungen | |
| gibt, können sich Politiker:innen, Journalist:innen und | |
| Entscheidungsträger:innen keine klare Meinung bilden. Ihre | |
| Entscheidungen fallen schwammig, zögerlich, schwach aus. Jeder | |
| veröffentlichte Titel ist ein Beweis für die Bedeutung des Themas. Ist die | |
| Liste der Titel kürzer, wirkt auch das Thema kleiner. Weniger wichtig. | |
| ## In einer Blase der Wissenschaft | |
| Natürlich gibt es akademische Forschung zu den Deportationen, und im Lauf | |
| der Jahre habe ich an zahlreichen Konferenzen zu den Verbrechen der | |
| Kommunisten teilgenommen, doch erst bei den jüngsten Deportationen und der | |
| schwächlichen Reaktion darauf ist mir klar geworden, dass ich mich in einer | |
| Blase bewegt habe, indem ich mich nur mit Kolleg:innen traf, die über | |
| das gleiche Thema schrieben. Forschungen auf einem bestimmten Gebiet | |
| verwandeln sich nicht notwendig in allgemeines Bewusstsein. Informationen | |
| sind kein Wissen. Wissen ist nicht gleich allgemeines Verständnis. | |
| Ohne ein Bewusstsein dieser Verbrechen können wir die Warnsignale nicht | |
| erkennen, und das geht auch nicht, wenn wir die historische Verbindung | |
| zwischen den gegenwärtigen Deportationen und den früheren nicht sehen. Wenn | |
| Sie nicht wissen, dass dies schon einmal geschehen ist, können Sie das | |
| Muster nicht erkennen, den Kontext nicht sehen, die Tradition nicht | |
| wahrnehmen, die solche Praktiken ermöglichen, und wenn Sie das nicht sehen, | |
| dann verstehen Sie auch nicht, dass wir nicht bloß die verschleppten | |
| Menschen aus Russland zurückholen müssen, sondern auch diese Praxis | |
| stoppen, die einen 80 Jahre alten Schutzschild zerstört, der Kinder bisher | |
| geschützt hat. | |
| Die Genfer Konventionen wurden geschaffen, um dafür zu sorgen, dass Kinder | |
| nicht wie Kriegsgefangene oder Agenten behandelt werden. Namentlich das | |
| vierte Genfer Abkommen IV enthält Vorschriften zum besonderen Schutz von | |
| Kindern. Wenn Putins Regierung solche internationalen Vereinbarungen zum | |
| Kinderschutz ignoriert, will der Kreml damit demonstrieren, dass Regeln und | |
| Vereinbarungen keine Rolle spielen, und wenn wir diese Verbrechen | |
| ignorieren, wird Russlands Beispiel einen Präzedenzfall schaffen, dem | |
| andere Länder nacheifern können. | |
| Wir alle haben politische Führungskräfte gehört, die Donald Trumps Worte | |
| „#Stop killing / Stoppt das Töten“ nachbeten wie ein Mantra. Aber haben Sie | |
| irgendjemanden sagen hören: „Stoppt die Deportationen“? Ich nicht. Das hat | |
| niemand gesagt. Die Massenverschleppungen, die meinen Onkel aus seiner | |
| Heimat rissen, fanden in den baltischen Staaten im Jahr 1949 statt – Jahre, | |
| nachdem der Westen das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert hatte. Auch | |
| sein Vater wurde nach Kriegsende deportiert. Ebenso der Bruder meines | |
| Großvaters. Ein Friedensschluss oder ein Waffenstillstand beendet nicht | |
| irgendwie automatisch die Verschleppung von Ukrainer:innen durch | |
| Russland. Die Besatzung ist eine Fortsetzung des Krieges, und auch wenn Sie | |
| glauben, eine Beendigung des „heißen“ Krieges könnte das Leiden beenden: … | |
| ist es nicht – es wird dadurch nur unsichtbar für Sie. | |
| ## Bevölkerungskontrolle | |
| Russland nutzt immer wieder dieses Instrument des „demographic | |
| engineering“, der Bevölkerungskontrolle und -manipulation, weil es das | |
| kann. Weil diese Verbrechen ungesühnt bleiben. Weil die demografische | |
| Situation Russlands sich nicht bessert und das Land Kinder braucht. Es | |
| braucht Kinder, die zu Männern heranwachsen, die Russlands Kriege führen, | |
| und zu Frauen, die zukünftige Soldaten gebären, und darum ist dies auch Ihr | |
| Problem. | |
| Selbst wenn Sie nicht in der Lage sind, das Verbrechen zu erkennen, | |
| bedeutet das nicht, dass es Sie nichts angeht, und genau das ist ein | |
| entscheidender Teil des Problems. Ihnen tun vielleicht die ukrainischen | |
| Eltern leid, die ihre Kinder verloren haben, aber Sie glauben nicht, dass | |
| es auch Ihnen passieren könnte. Sie sehen keine Masken tragenden russischen | |
| Soldaten, die Ihre Kinder mit vorgehaltener Waffe in einen Bus zwingen. Sie | |
| glauben, so etwas könne Ihnen in Mitteleuropa nicht zustoßen. Aber wenn Sie | |
| glauben, das ginge Sie nichts an, dann entgeht Ihnen Russlands Motivation | |
| für den Raub ukrainischer Kinder. | |
| Als der Winterkrieg im Jahr 1939 begann und die Sowjetunion in Finnland | |
| einzumarschieren versuchte, war die Mehrzahl der Soldaten der Roten Armee | |
| keine Russen. Oh nein, nein, sie kamen aus den Kolonien, viele waren | |
| Ukrainer, denn der Kreml schützt seine Zentralmacht, schützt seine Moskauer | |
| und will die Kolonien schwach halten, und darum schickt er die ethnischen | |
| Minderheiten des Reiches zum Kämpfen in seine Kriege. | |
| Sie benutzen die ukrainischen Kinder als Bauernopfer, sie wollen damit den | |
| Widerstand der Ukraine brechen, aber sie stehlen ukrainische Kinder auch, | |
| weil sie aus ihnen neue russische Soldaten formen wollen. Sie stehlen | |
| ukrainische Kinder, um eine neue Generation von Soldaten heranzuziehen, die | |
| gegen Sie, gegen euch kämpfen, gegen eure Kinder oder eure Enkel. Sie | |
| erziehen die entführten Kinder um, erziehen sie zum Hass auf den Westen. | |
| Zum Hass auf euch. | |
| Übersetzung: Ingo Herzke | |
| 9 Dec 2025 | |
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