Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Literaturgeschichte von Steffen Martus: In postheroischer Gesellsch…
> Steffen Martus hat eine umfangreiche Literaturgeschichte der Gegenwart
> geschrieben. Was ist los zwischen Christa Wolf und New Adult?
Bild: Kim de l'Horizon bei der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis in Fran…
Allein das Literaturverzeichnis umfasst siebzig Seiten, von A wie
Achtermeier bis Z wie Zylka. Man könnte den gesamten Besprechungsplatz hier
damit füllen, die in dieser „Literaturgeschichte der Gegenwart“, so der
Untertitel, behandelten Namen, Buchtitel, Themen und Debatten aufzuzählen.
Auf 700 Seiten, aufgeteilt in 52 thematischen Kapiteln, breitet Steffen
Martus das ganze Panorama dessen aus, was in der literarischen
Öffentlichkeit in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten folgenreich
diskutiert worden ist.
Er muss nicht nur unendlich viele Romane gelesen haben, sondern auch über
ein sorgfältig geführtes Archiv der einschlägigen Literaturkritiken und
Debattentexte verfügen.
Der Untertitel mag dabei zunächst irritieren. Ja, was denn nun? Geschichte
oder Gegenwart? Doch Steffen Martus holt das in diesem Buch gut ein. Er
scheint sich eh für beides zu interessieren. Hervorgetreten ist der
Literaturprofessor an der Berliner Humboldt-Uni, Jahrgang 1968, mit einer
[1][sorgfältigen Epochenschilderung] der historischen deutschen Aufklärung
(auch bei Rowohlt Berlin) und, zusammen mit dem Literaturprofessor in
Bielefeld Carlos Spoerhase, mit einer innovativen Darstellung der
gegenwärtigen [2][Praxis der Geisteswissenschaften] („Geistesarbeit“ heißt
die, ein ziegeldicker stw-Band).
Seine nun erschienene Literaturgeschichte lässt er am 4. November 1989
beginnen. An diesem Tag läutete am Berliner Alexanderplatz eine
unübersehbare Menschenmenge endgültig den Zusammenbruch der DDR ein, dabei
traten Schriftsteller wie selbstverständlich als Repräsentanten des Volkes
auf („Geschichte“).
Und enden lässt Martus das Buch beim Deutschen Buchpreis 2022 für Kim de
l’Horizons „Blutbuch“ und schließlich in jenen riesigen Messehallen, die…
den darauf folgenden Jahren die Buchmessen extra einrichten mussten, um der
Massen Herr zu werden, die eine Signatur und ein Selfie von den
Autorinnenstars des New Adult abholen wollten („Gegenwart“).
## Bocksgesang und Tschick
Manches ist inzwischen ein Stück weit historisch geworden, die großen
Literaturdebatten um Botho Strauß („Bocksgesang“), Peter Handke (Serbien)
und Martin Walser (Friedenspreisrede) etwa genauso wie die großen Erfolge
von Judith Hermann („Sommerhaus, später“), Daniel Kehlmann („Vermessung …
Welt“) und Wolfgang Herrndorf („Tschick“). Manches hatte man auch zu
Unrecht etwas vergessen, etwa Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“ und die
komplexe Art und Weise, wie [3][Kathrin Röggla] und Ulrich Peltzer
literarisch auf den 11. September 2001 reagierten. Einiges hatte man auch
erfolgreich verdrängt, etwa Charlotte Roches „Feuchtgebiete“.
Bei Martus begegnet man, wenn man Zeitzeuge ist, dem allem wieder – das
waren die Jahre und ihre Romane; es ist viel passiert – oder kann es als
Nachgeborener nachlesen. In der zweiten Hälfte landet diese Reise bei den
zuletzt omnipräsenten Themen Klassismus, Autofiktion und Diversität. Aber
auch die historisch entfernteren Debatten gehören noch zur Gegenwart. In
Selbstverständnisdebatten über die Rolle der Literatur blitzen auch sie
immer mal wieder auf.
Dabei zielt dieses Buch auf mehr als auf einen Überblick.
Gegenwartsliteratur gebe es „nicht im Singular, sondern nur als
Zusammenhang von unterschiedlichen Schreibweisen und Haltungen“, heißt es
an einer Stelle. Die Entwicklung dieser Schreibweisen und Haltungen
beschreibt Martus nun nicht etwa als Abfolge von Autor*innen,
Schreibansätzen und Buchtiteln auf einem darüber hinaus im Prinzip
strukturell gleichbleibenden literarischen Feld. Sondern er reflektiert
stets dabei mit, dass sich dieses Feld, oder, wenn einem das lieber ist,
der Literaturbetrieb auch selbst gehörig verändert hat.
Mit der recht übersichtlich geordneten Literaturwelt von vor 1989 mit ihren
Gatekeepern und Konsensen, was zur Hochliteratur zählt und was nicht, hat
die Gegenwart, so wie Martus sie fasst, kaum noch etwas zu tun. Die
Gatekeeper wurden relativiert, die Konsense lösten sich auf. Was in der
Perspektive dieses Buches keine Verfallsgeschichte darstellt, wie man
dankbar registriert. Hier zahlt sich der Abstand zum engeren
Literaturbetrieb, den Martus einhält, aus.
## Brussig und Grass
Martus bietet auch sonst keineswegs die eine These, den einen Ansatz an,
auf die sich das Wimmelbild seiner Gegenstände bringen ließe. Vielmehr
schälen sich im Verlauf dieses erfreulich lesbaren Buch anhand von mal
lockeren, mal eingehenderen Einzelanalysen allmählich wiederkehrende Motive
heraus, die sich teilweise entfalten, teilweise auch untergründig
mitlaufen.
Folgenreich in seiner Darstellung ist etwa die Unterscheidung
heroisch/postheroisch, die von Anfang an präsent ist. Der Anspruch von
Christa Wolf, sich im November 1989 vor Hunderttausenden aufs Podium zu
stellen und stellvertretend für sie zu sprechen, folgt in dieser
Unterscheidung einem heroischen Autorenverständnis – genauso wie die
aufgeregten Debatten der Literaturkritik, die sich nach 1989 gerade an
Christa Wolf stark abgearbeitet hat, allen voran FAZ-Herausgeber [4][Frank
Schirrmacher.]
Auch für Martus ist in den 90er Jahren die Epoche der
Schriftsteller*innen als politische Gegeninstanzen und Repräsentanten –
unbemerkt von solchen Autoren wie Günter Grass, die sich unbeirrt weiter
einmischen wollten – zu Ende gegangen. Bezeichnend für seinen literarischen
Zugang ist allerdings, dass er zugleich ein Licht auf die postheroische
Seite wirft.
Noch bevor er Ingo Schulzes „Simple Storys“ ein Stück weit zum
Kulminationspunkt der Wendeliteratur erklärt, hat er Thomas Brussigs
Schelmenroman „Helden wie wir“ als das Buch interpretiert, das die
offiziellen Deutungsmuster und heroischen Zeiten der Literatur endgültig
verabschiedet. Mit Brussig gelten nun die Fragen einer postheroischen
Gesellschaft. Martus: „Wie sollen wir von uns erzählen, wenn wir einmal als
der Held der Geschichte auftreten und uns im nächsten Moment nur noch
irgendwie durchwursteln?“
## Kracht und Aydemir
Mit solchen vorsichtigen Parallelisierungen von Literatur- und
Gesellschaftsgeschichte pointiert Steffen Martus immer mal wieder seine
Analysen. Das Aufkommen der Popliteratur bringt er – luzide bei
[5][Christian Kracht,] etwas handfester bei Benjamin von Stuckrad-Barre –
mit einer Gesellschaft zusammen, die Jungsein altersmäßig entgrenzte:
„Popliteratur empfahl Jugendlichkeit als Lebensprinzip und vermittelte
deswegen den Eindruck einer auf Dauer gestellten Pubertät – mit all ihrer
Rotzigkeit und Vitalität, die dazugehört.“
Auch das Phänomen der New-Adult-Genres nimmt Martus
gesellschaftstheoretisch ernst. Er liest es vor dem Hintergrund einer
kompliziert gewordenen „postnormalen“ Gesellschaft, die ständig
Entscheidungen von ihren Mitgliedern verlangt. „Die Erweiterung von
Spielräumen bedeutet einen Zugewinn an Freiheit, steigert aber auch den
Reflexions- und Entscheidungsdruck“, schreibt Martus. New Adult spiegelt
das in seiner Sicht. Auf Gefühligkeit allein ist für ihn dieses Genre nicht
zu bringen. Vielmehr handelt es in seiner Sicht von „Menschen, die die
Entscheidung treffen müssen, ob sie ihren Gefühlen folgen wollen, sollen
und können“.
Berührungsängste mit U-Literatur gibt es, wie solche Punkte zeigen, keine.
Das Buch enthält aber auch viele einleuchtende und teilweise schillernde
Analysen heroischer Literatur. So erinnert Steffen Martus an Reinhard Jirgl
und Georg Klein. Er zerlegt ganz unaufgeregt Botho Strauß und Uwe Tellkamp.
Bei Rainald Goetz analysiert er, wie in den nuller Jahren die Unsicherheit
in sein Schreibprogramm eingezogen ist; die Welt, so Martus, sei für Goetz
in der Zeit auf eine so fundamentale Weise kaputt, dass es die
Oppositionsfähigkeit der Literatur in Frage stelle. Wieder eher auf
postheroischer Seite stehen die Analysen von Wolfgang Herrndorf, Katrin
Passig, Juli Zeh und Leif Randt. Die neurechte Literaturpolitik wird
dargestellt. In Kapiteln wie „Migrationsvordergrund“ und „Ästhetische
Grenzöffnung“ fließen Analysen der Romane von Fatma Aydemir und Ronya
Othmann ein.
## Prinzip der kreativen Zerstörung
Um das Jahr 2010 herum registriert Steffen Martus einen fundamentalen
Bruch. Das Prinzip der kreativen Zerstörung, neben der Unterscheidung von
heroisch und postheroisch einer der Leitansätze dieser Darstellung, hatte
sich bis dahin innerhalb des literarischen Feldes abgespielt, als
Verdrängungswettbewerb zwischen literarischen Ansätzen. Ab 2010 aber
betrifft die kreative Zerstörung das literarische Feld selbst. Amazon tritt
auf und führt den Verkaufsrang ins Herz des literarischen Feldes ein. Im
Ikea-Katalog fehlen mit einem Mal die Bücher in den abgebildeten
Billy-Regalen.
Interessant ist das Tastende, mit dem Martus die Auswirkungen der
Digitalisierung und der Zunahme von Sprecher*innenpositionen
beschreibt. Er registriert eine schleichende Umschichtung der literarischen
Autoritätsverhältnisse, nimmt aber auch wahr, dass in den sozialen Medien
die Aura des Buches mit neuer Energie aufgeladen wird; es sind schließlich
gedruckte Exemplare, die die Buchtokerinnen vor die Handykamera halten.
Ebenso differenziert sind seine Darstellungen von [6][identitätspolitischen
Ansätzen.] Statt Triggerpunkten gibt es hier gelassene Analysen von
Literatur in einer nicht mehr homogenen Gesellschaft.
Ohne es zu verbrämen, ist für Martus die Unsicherheit auf dem literarischen
Feld die Rückseite von – allerdings stets gefährdeten – Emanzipations- und
Gleichheitsgewinnen. „Literarischer Wandel ist Gesellschaftswandel“,
schreibt er, und weiter: „Die Einbuße literarischer Autorität mag in
vielerlei Hinsicht bedauerlich sein, aber sie hängt mit anderen
Entwicklungen zusammen, auf die ‚wir‘ nicht verzichten mögen.“
Vielleicht kommt diese Literaturgeschichte der Gegenwart gerade jetzt zur
richtigen Zeit. Schließlich kann man derzeit den Eindruck haben, dass es
hilfreich sein kann, einmal ein Stück weit zurückzutreten und sich mit
etwas Abstand in der Gegenwart der Literatur umzusehen. Auf jeden Fall
funktioniert diese Literaturgeschichte als Erinnerung daran, was für
Reflexionsleistungen in der Literatur, aber auch in der Literaturkritik
vorhanden waren. Und sie vermittelt zudem den Ansporn, diese Traditionen
fortzusetzen.
22 Nov 2025
## LINKS
[1] /Buch-ueber-das-Zeitalter-der-Aufklaerung/!5256395
[2] /Buch-ueber-Geisteswissenschaften/!5920803
[3] /Neue-Leitung-fuer-Akademie-der-Kuenste/!5201839
[4] /Nachruf-auf-Frank-Schirrmacher/!5040099
[5] /Neuer-Roman-Air-von-Christian-Kracht/!6071798
[6] /Identitaetspolitik-Wie-woke-soll-es-sein/!6097135
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Literatur
Literaturbetrieb
Gegenwart
Gegenwartsroman
Schriftsteller
Geisteswissenschaften
Aufklärung
DFG
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch über Geisteswissenschaften: Prozeduren verstehen
Stecken die Geisteswissenschaften in der Krise? Steffen Martus und Carlos
Spoerhase fragen grundlegend, was Geisteswissenschaften eigentlich
ausmacht.
Buch über das Zeitalter der Aufklärung: Habe Mut zu wissen
Mündigkeit, gute Politik und vor allem Vernunft: Steffen Martus erzählt von
der Aufklärung und einem großem deutschen 18. Jahrhundert.
Ausgezeichnet mit dem Leibniz-Preis: Eine reine Männerrunde
Der Leibniz-Preis gilt als Deutschlands inoffizieller Nobelpreis. Acht
Forscher wurden dieses Jahr dafür auserwählt. Frauen waren nicht dabei.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.