| # taz.de -- Antifaschistische Bildungsstätte: Geschichte schlägt Ideologie | |
| > Ein Freilichtmuseum zeigt die Germanen ohne Mythos: als historisch | |
| > belegte Lebensweise. Warum ist die Entzauberung für Leiter Karl Banghard | |
| > zentral? | |
| Bild: Entwirft Gegenbilder zu tradierten Klischees über Germanen: Karl Banghard | |
| Das Archäologische Freilichtmuseum Oerlinghausen liegt auf einem sanften | |
| Hügel, eingebettet in eine hübsche, aus ostdeutscher Perspektive etwas | |
| zersiedelt anmutende Landschaft. Die Menschen hier orientieren sich | |
| Richtung Bielefeld, das es gesichert gibt, man wechselt hier den Zug. Bei | |
| [1][den Germanen] ist die Sache komplizierter. | |
| Trotzdem oder deswegen hat der Leiter des Museums, der Archäologe Karl | |
| Banghard, ein Buch über sie geschrieben. Es ist ein sehr gutes Buch, aber | |
| man muss das den Leuten, die einem skeptisch auf den Einband schauen, | |
| während man es in der Öffentlichkeit liest, erst erklären. | |
| Der Einband zeigt einen grimmigen, bärtigen Mann mit Schwert | |
| beziehungsweise mit Lanze, und der Titel ist „Die wahre Geschichte der | |
| Germanen“. In einer Zeit, in der Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, | |
| [2][eine ‚wahre Geschichte‘] zu erzählen, oft lächerlichen bis gefährlic… | |
| Unsinn verbreiten, tut es gut, dass man als Leser von Banghards Buch erst | |
| mal im Verdacht steht, eben das sich reinzuziehen: lächerlichen bis | |
| gefährlichen Unsinn. | |
| Die catchy Aufmachung des Buches, im Innenteil durch farbige | |
| Reenactment-Fotos ergänzt, könnten auf den ersten Blick auch von einem | |
| Mittelaltermarkt stammen. Doch sie haben einen anderen Sinn. Banghard und | |
| sein Team in Oerlinghausen wollen wissen und wollen dieses Wissen zeigen. | |
| In seiner Formel heißt das: „Bilder gegen Bilder antreten lassen“. | |
| Während er in einem riesigen nachgebauten Hallenhaus auf dem Gelände des | |
| Museums steht, kommt er ins Schwärmen. Das extra importierte mongolische | |
| Schilf auf dem Dach begeistert ihn: Es habe noch so harte Fröste erlebt – | |
| die es bei uns heute nicht mehr gibt -, dass es lang halte und man sich | |
| daran die Finger zerschneide. | |
| ## Wohnen, essen, sterben | |
| Banghard erklärt, dass sie den Stützbaum im Haus leider falsch eingesetzt | |
| hätten, nämlich so, wie er gewachsen sei. Auf Ausgrabungen findet man die | |
| Dachstützen aber meist gegen die Fließrichtung des Saftes im Bast gesetzt, | |
| also mit der Krone nach unten. Nun fault er halt schneller, als er müsste. | |
| Mehr als, wer diese Germanen nun waren, fasziniert Banghard die Frage, was | |
| diese Leute, die – von anderen, nicht von sich selbst – Germanen genannt | |
| wurden, nun eigentlich so konkret machten, wie sie wohnten, aßen, starben. | |
| Die zweite Frage, die Banghard vielleicht noch drängender beschäftigt: | |
| Warum wollen so viele Leute mit erheblichem Aufwand unbedingt [3][eine | |
| Traditionslinie] von diesen Germanen zu sich selber ziehen? „So viele | |
| Leute“ ließe sich hier leicht vereinfacht durch „so viele Nazis“ ersetze… | |
| Banghard ist genauso detailversessener Archäologe mit handwerklichem | |
| Zugriff wie engagierter Aufklärer, er weiß über Holzbearbeitung ebenso | |
| Bescheid wie über Treffen der germanophilen rechtsextremen Szene, denen er | |
| regelmäßig Besuche abstattet. Man kenne ihn dort schon, sagt er in | |
| entspanntem badischem Singsang. Und auch das Abkleben von rechten Symbolen | |
| auf der Kleidung von Besucher:innen übernehme er gern persönlich. | |
| Das Museum, das er leitet, ist eben tatsächlich im doppelten Sinn | |
| historisch, behandelt die vordeutsche Bronze-, Stein- und Eisenzeit genauso | |
| wie die „dunkelste“ Zeit deutscher Geschichte. | |
| ## Mehr Bildungsstätte als Museum | |
| Als außenpolitisches Prestigeobjekt im Olympiajahr 1936 auf dürftiger | |
| „germanischer“ Fundgrundlage aus dem Boden gestampft, wurde das Museum von | |
| verschiedenen Fraktionen im Chaosstaat der Nazis in Anspruch genommen – bis | |
| in den April 1945 hinein wurde es laut Besucherbuch insbesondere von | |
| SS-Besuchergruppen gut frequentiert. Nach dem Krieg wurde es von den | |
| Alliierten geschlossen und mit einer klaren Intention in der Bundesrepublik | |
| 1961 wieder eröffnet: | |
| „Als Platzhalter für das, worüber man nicht mehr schwärmen durfte: Den | |
| Nationalsozialismus“ wie es in der Broschüre des Museums „Nazis im | |
| Wolfspelz“ heißt. | |
| Änderungen mussten dafür nur im Detail vorgenommen werden: Das Hakenkreuz | |
| auf einer Truhe etwa wurde durch eine „Lebensrune“ ersetzt. Und bei | |
| Banghard im Büro unterm Holzdach hängt eine idyllische Germanenszene in Öl, | |
| der man die Übermalungen nach 1945 aus der Mode gekommener Symbole auch | |
| noch ansieht. | |
| Oerlinghausen ist also weniger ein Museum als eine Bildungsstätte. Hier | |
| geht es nicht darum – und ist bei der historischen Kontaminierung ohne | |
| Anleitung auch schwer vorstellbar –, von Hütte zu Hütte zu wandeln und sich | |
| Germanisches anzuschauen. So was, sagt Banghard, machten eh mehr die | |
| Gymnasiasten im Landesmuseum, zu ihnen käme man eher aus anderen | |
| Schultypen. | |
| Ziel sei nicht das Bestätigen von Gewohntem, sondern das sinnliche | |
| Vermitteln von Fremdheit; nicht, oh schau mal, die Germanen hatten auch | |
| schon Feuer, sondern eher: Macht mal Feuer wie die Germanen und erlebt | |
| dann, wie mühsam das eigentlich war. | |
| Wenn man es radikal ausdrücken will, geht es nicht um Geschichte als | |
| Sinnstiftung und Rechtfertigung für aktuelle politische Miesheiten und | |
| Verbrechen; sondern es geht um konkrete, wissenschaftlich saubere, valide | |
| Geschichten und Erfahrungsräume. | |
| ## Gemeinschaftlicher Grundbesitz | |
| Befriedigt das? Vielleicht nicht vollständig. Ein Freund, dem ich von | |
| meinem Ausflug erzähle, sagt vorab, da kommt bestimmt nur wieder raus, dass | |
| es die Germanen gar nicht gab, nur halt bei Cäsar und so (Ironie an). | |
| Im Buch wird Banghard aber doch erstaunlich konkret. Er schreibt, wenn man | |
| bei den Germanen „mehr an eine spezifische Wirtschaftsweise denke und | |
| weniger an eine ethnische Definition“, werde vieles einfacher. | |
| Dann springe einem auf der Grundlage der archäologischen Befunde – und wie | |
| viel hat sich da in den letzten Jahren allein getan! – „die nahezu manische | |
| Neigung zur Gleichheit ins Auge. Gemeinschaftlicher Grundbesitz, eine | |
| kooperative Weidenutzung und vielleicht auch die periodische Umverteilung | |
| von Flächen dürften hier alltäglich gewesen sein.“ | |
| Auf dieser Traditionslinie gehen wir doch gern in unsere Gegenwart, die | |
| sich mit absurder Energie dagegen wehrt, kooperativ zu handeln und | |
| wenigstens periodisch umzuverteilen, in eigentumsfanatischer römischer | |
| Rechtstradition. | |
| Sage also niemand, die Germanen seien zu gar nichts gut. Denn wie es zum | |
| Schluss in „Die wahre Geschichte der Germanen“ heißt: Zu zeigen war, „da… | |
| eine Geschichte nicht nur für ein Volk, sondern für alle da ist“. | |
| Die relevante Frage wäre dann wieder mal nicht, wer diese anderen waren, | |
| sondern: wer wir sein wollen. | |
| 19 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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