| # taz.de -- Notizen vom Jazzfest Berlin: Jazz lebt, obwohl die Welt in Flammen … | |
| > Improvisation, Verfremdung und Kollektivität: Konventionelle Besetzung | |
| > oder Solo-Auftritt; alte Themen und neue Thesen. Notizen vom Jazzfest | |
| > Berlin. | |
| Bild: Pat Thomas am Sonntagabend beim Berliner Jazzfest | |
| „Where will you run when the world’s on fire?“ Unter diesem apokalyptisch… | |
| Motto fand über Halloween und vergangenes Wochenende die 62. Ausgabe des | |
| Berliner Jazzfests statt. Den krisentauglichen Claim hatte sich die | |
| Festivalleitung unter Leitung von [1][Nadine Deventer] für 2025 von dem New | |
| Yorker Gitarristen Marc Ribot geliehen. Dieser hatte beim Festival einen | |
| denkwürdigen Auftritt. Ribot wiederum ließ sich für seine Version des | |
| besagten Lieds vom legendären US-Countryclan Carter Family inspirieren. Die | |
| erste Aufnahme ihres Songs „When the world’s on fire“ stammt allerdings a… | |
| einer anderen Krisenzeit – aus dem Jahre 1930, er wurde am Vorabend des | |
| Faschismus komponiert. | |
| Die Kölner Saxofonistin [2][Angelica Niescier], die am Donnerstagabend zur | |
| Eröffnung des Jazzfests auf der ehrwürdigen Bühne der Berliner Festspiele | |
| gastierte und genauso schnell Stakkato sprechen kann, wie sie ihr | |
| Instrument spielt, wollte in ihren Ansagen die vielen Krisen erst gar nicht | |
| weiter ausführen. | |
| Lieber nutzte die 55-jährige Künstlerin ihre knapp bemessene Bühnenzeit, um | |
| sich eindrucksvoll durch alle erdenklichen Skalen zu hangeln. An ihrer | |
| Seite spielte Eliza Salem angenehm zurückgenommen Schlagzeug und [3][die | |
| viel beschäftigte US-Cellistin Tomeka Reid] bearbeitete ihr Instrument in | |
| den Bassregionen mit Fingern und Bogen und jagte ihre Signale dabei oftmals | |
| durch ein Effektgerät. | |
| ## Verfremdungseffekte allenthalben | |
| Generell ließ sich bei der Festivalausgabe 2025 beobachten, dass in fast | |
| allen Ensembles inzwischen Musiker:In mitwirken, die konventionellen | |
| Instrumentenklang durch Effektgeräte verfremden. Klar, das alles ist nicht | |
| neu, schon Miles Davis jagte Ende der 1960er seine Trompete durch ein | |
| WahWah-Pedal und schickte den „natürlichen“ Blechblassound einmal quer | |
| durch die Echokammer. | |
| Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Effektmodulationen im | |
| zeitgenössischen Jazz zur Anwendung kommen, ohne Puristen zu empören, darf | |
| als epochemachend verstanden werden. Nur dass es für diese neue Ära noch | |
| keinen Namen gibt. Hatten wir uns nicht längst darauf geeinigt, dass Jazz | |
| die Klassik des 21. Jahrhunderts ist? Als negative Antwort auf diese Frage | |
| genügte das Ensemble Deranged Particles des Berliner Bassisten Felix | |
| Henkelhausen. Das Septett spielte in DSL-Geschwindigkeit. Digitale Glitches | |
| wurden dabei zu ASMR-Suiten! Neue Musik und experimentelle Elektronik sind | |
| in diesen Jazz eingewoben. | |
| Am Freitag erzählt d[4][er Chicagoer Drummer Makaya McCraven] beim Auftritt | |
| seines Fusionquartetts, dass im Zentrum ihres Schaffens nach wie vor die | |
| Improvisation stehe. Der Mensch sei nun mal ein improvisierendes Wesen. | |
| Sein Alltag sei durch unzählige improvisierte Tätigkeiten getaktet. Auf der | |
| aktuellen EP „Off The Record“ hören wir digital prozessierte Jamsessions, | |
| die seine Band am Ende als festgelegte Partituren auswendig lernt, um sie | |
| dann live zu reproduzieren – und doch entsteht in diesem Vorgang Raum für | |
| neue Improvisationen. | |
| Außerdem lobte McCraven das Festival als soziale Skulptur und verglich die | |
| freudige Begegnungswelt im Berliner Bezirk Wilmersdorf mit der angeblichen | |
| virtuellen Konnektivität von Tiktok & Co. Und er war sich sicher, dass | |
| keine KI jemals so einen Groove wie seine Band hinbekommen wird. Schon gar | |
| nicht live! Herausragend war auf jeden Fall der Gitarrist seines Quartetts, | |
| Matt Gold, der an den cremigen Sound von Wes Montgomery erinnerte, ihn aber | |
| radikal weiterführt. | |
| Erneuerungsgesten führen bei umsichtig kuratierten Festivals automatisch zu | |
| den Vertreter:Innen der Avantgarde, also zu jenen Musiker:innen, die | |
| weit vorne in der Jukebox der Ideen unterwegs waren – und es bis heute | |
| geblieben sind. So [5][wie der Auftritt des US-Freejazz-Trompeters Wadada | |
| Leo Smith] am Donnerstagabend, begleitet vom US-Pianisten Vijay Iyer. Ihr | |
| Duo führte uns zurück in die Glanzzeit der Chicagoer „Association For The | |
| Advancement of Creative Musicians“ (besser bekannt als AACM): Eine | |
| basisdemokratische Künstler-Vereinigung, gegründet im Chicago der mittleren | |
| 1960er Jahre. Dort hatte man sich früh Gedanken über neue Ideen des | |
| Zusammenspiels gemacht, von kollektiven Leitungsfunktionen bis zu | |
| alternativen Notationssytemen. | |
| Diese Ideen haben Jazzmusiker:Innen in aller Welt längst | |
| verinnerlicht. Trotzdem wirkte das traumwandlerische Duo von Wadada-Smith | |
| und Iyer jenseits jeder Zeit äußerst inspirierend. Musik, aus einer | |
| unglaublichen Ruhe entstehend. Im besten Sinne transzendental, mit dem | |
| Ergebnis: Standing Ovations! | |
| Aber nicht nur der ehrwürdige Theatersaal wurde bespielt, sondern auch in | |
| umliegenden Clubs wie A-Trane, Quasimodo und der | |
| Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fanden Konzerte statt. Außerdem gab es | |
| Workshops unter dem Motto „Jazzfest Community Week“ parallel im Stadtteil | |
| Moabit und im Martin-Gropius-Bau. Besonders stolz ist man dieses Jahr auf | |
| ein in Moabit entstandenes Jazz-Kunst-Filmprojekt, das die Festivalleitung | |
| bei der Berlinale einreichen möchte. | |
| ## Große Ensembles aus Skandinavien | |
| Während deutsche Kulturinstitutionen am permanenten Sparzwang laborieren, | |
| schickten die skandinavischen Länder in diesem Jahr fast ausschließlich | |
| große Ensembles nach Berlin. Von der dänischen Künstlerin Amalie Dahl und | |
| ihrer Bigband Dafnie bis zum schwedischen Fire Orchestra. Beneidenswert! So | |
| genannte Large Ensembles aus Deutschland schaffen es dieser Tage oft nicht | |
| einmal zum Konzert in die Nachbarstadt. | |
| Der britische Jazzpianist [6][Pat Thomas] hingegen spielte am Sonntagabend | |
| ganz allein im großen Saal. Sein Solokonzert am Flügel erinnerte daran, | |
| dass Ragtime und Zwölftonmusik der Wiener Schule einst zur gleichen Zeit an | |
| der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind. Einer Zeit, in | |
| der jeder Haushalt, der etwas auf sich hielt, ein Klavier im Wohnzimmer | |
| stehen hatte. | |
| Zurück zur Eingangsfrage und einer krisenhaften, in Flammen stehenden Welt, | |
| die während des Festivals leider unbeantwortet blieb. Umso heilsamer war | |
| es, am Sonntagabend zum krönenden Abschluss ins Quasimodo zu flüchten, wo | |
| das James Brandon Lewis Quartett konzertierte. | |
| Der US-Tenorsaxofonist und seine mit Bass, Schlagzeug und Klavier an sich | |
| konventionell besetzte Combo, ließen keinerlei Zweifel daran, dass der | |
| altbekannte Modern-Jazz-Sound für alle Ewigkeit bestimmt ist. Und daran, | |
| dass Jazz unbedingt in kleinere Clubs gehört – und nicht ins Staatstheater. | |
| Gegen die schleichende Musealisierung auf der großen Bühne hilft nämlich | |
| leider auch kein Effektgerät. | |
| 3 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Maurice Summen | |
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| Porträt. Beim Jazzfest Berlin wird sie in zwei Formationen zu hören sein. |