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# taz.de -- Die Wahrheit: Laberzölibat
> Wenn dank überschäumender Fantasie bei zwei ausgesprochenen Redefreunden
> dauernd alle Ideen mitgeteilt sein wollen, kommt das Schweigen etwas zu
> kurz.
Meinen Freund Robert habe ich in der ersten Klasse kennengelernt. Wir kamen
mit unseren riesigen Zuckertüten in den Klassenraum, in dem unsere
Klassenlehrerin, Frau Brückner, uns erwartete, grinsten uns an und setzten
uns nebeneinander. Seitdem sind wir nur durch Beziehungen zu Frauen
voneinander zu trennen, das passiert aber immer nur zeitweilig.
Die Lehrer hatten ihre liebe Not mit uns, denn wir sind dank unserer
überschäumenden Fantasie ausgesprochene Labertaschen. Es gibt einfach
ständig Ideen, die mitgeteilt sein wollen. So kam es, dass ich in der
zweiten Klasse als Strafe aufgebrummt bekam, hundert Mal zu schreiben: „Ich
darf nicht schwatzen.“ Einen ganzen Nachmittag lang malte ich diesen Satz
in meiner Schulanfängerschrift in ein Heft, während Robert draußen
Steinchen ans Fenster warf. Frau Brückner fragte am nächsten Tag: „Was ist
denn das?“, und ich musste noch mal von vorn anfangen. Ich hatte hundert
Mal geschrieben: „Ich darf nicht schwartzen.“
Es fällt mir noch heute schwer, mich zurückzuhalten, wenn ich mit Freunden
bei einer Veranstaltung bin, Laberabstinenz angesagt ist und mich ein
Geistesblitz ereilt. Einmal im Theater drehte sich eine Frau wütend um und
zischte mich an. Ich sagte: „Das ist Shakespeare, das können Sie
nachlesen.“
In anderen Situationen halte aber selbst ich die Klappe. Bei meiner
Vereidigung, bei der ich auch noch mit der Fahne im Stechschritt nach vorne
marschieren musste, sagte ich keinen Ton. Und war kreidebleich, weil meine
Blase kurz vorm Platzen war. Ich habe die Zeremonie mit Ach und Krach
überstanden und es im Laufschritt aufs Klo im Rathaus geschafft, wo ich am
Empfang beim General teilnehmen durfte.
Dort saß ich neben dem General, der einen Toast nach dem anderen ausbrachte
und mir zu meinem auch noch sein Schnapsglas dazustellte. Nach sechs Wochen
Alkoholabstinenz in der Grundausbildung war ich binnen kürzester Zeit
sturzbetrunken und nicht mehr in der Lage, mich zu artikulieren. Mein
Freund Robert behauptet, er habe bei seiner Vereidigung aus der dritten
Reihe laut „Ihr Nazis!“ gesagt, aber das gehört wie so vieles bei ihm wohl
ins Reich der Legenden.
Heute hat mich zum wiederholten Mal eine andere Form der Schwatz-Askese
heimgesucht, als der Zahnarzt mir nach der Behandlung riet, für den Rest
des Tages zu schweigen. So kann ich nicht einmal Robert, der mit seiner
jetzigen Frau in Hamburg wohnt, anrufen und ihn fragen, was er darüber
denkt, dass eine Maultasche so etwas ganz anderes ist als eine Labertasche.
Neulich hatte ich eine Mail mit der Einladung zum Schweige-Retreat in einem
Kloster. Ich werde Robert fragen, ob er mitkommt. Für uns ist das die
ultimative Herausforderung. Ich werde sämtliche Klosterwände vollschreiben
mit dem Satz: „Ich darf nicht schwarzten.“
22 Oct 2025
## AUTOREN
Gisbert Amm
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
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