| # taz.de -- Die Wahrheit: Dämmerstündchen mit Obstler | |
| > Plötzlich ist das Internet weg und Großmutter da, nicht virtuell, sondern | |
| > in der Erinnerung an sie und die Stromausfälle der Kindheit. | |
| Als ich von der Arbeit heimkam, hatte ich plötzlich kein Internet mehr. | |
| Mein Router blinkte in allen Farben des Regenbogens, und der Nachbar hatte | |
| sein Passwort geändert, so dass ich auch sein Internet nicht mehr mitnutzen | |
| konnte. | |
| Kein Internet! Ich erinnere mich noch an die Zeit, als das der | |
| Normalzustand der Welt war und wir das Internet nicht vermissten. Wir | |
| hatten nicht einmal Telefon. Dafür hing an jeder Wohnungstür ein kleiner | |
| Notizblock mit Stift, so dass man eine Nachricht hinterlassen konnte, wenn | |
| niemand da war. Oder man klapperte gleich die einschlägigen Kneipen ab, wo | |
| man mit großer Wahrscheinlichkeit die gesuchten Leute antraf, im angeregten | |
| Gespräch. | |
| Tief drinnen empfinde ich deshalb das Internet noch immer als etwas | |
| Ephemeres, etwas, das jeden Moment wieder aus meinem Leben verschwinden | |
| könnte, so wie an diesem Abend. Meine Großmutter hatte eine ähnliche | |
| Einstellung dem elektrischen Strom gegenüber, war sie doch in einer Zeit | |
| aufgewachsen, als es noch keinen gab und man ihn nicht vermisste. | |
| Unvorstellbar für uns mit unseren Kühl- und Waschaggregaten und dem ganzen | |
| anderen Plunder, der ohne Strom tot in der Ecke liegt. Wobei mein | |
| Staubsauger in der Regel auch tot herumliegt, wenn Strom verfügbar ist, | |
| aber das hat andere Gründe. | |
| Meine Großmutter besaß bis zuletzt weder Kühlschrank noch Waschmaschine. | |
| Zum Fernsehen stand sie bei uns im Wohnzimmer an der Tür, die Klinke in der | |
| Hand, und schlug alle Angebote, sich zu setzen, aus. Oft strafte sie das | |
| Programm ohnehin mit Nichtachtung, ging nach oben in ihre Küche und schaute | |
| aus ihrem Fenster dem Dunkelwerden der Welt zu. „Dämmerstündchen“, nannte | |
| sie das. | |
| Die einzige Abhängigkeit vom elektrischen Strom, die sie akzeptierte, | |
| bestand in den nackten Glühbirnen, die über ihrem Küchentisch und in der | |
| Schlafkammer hingen, denen sie aber einen erheblichen Vorrat an | |
| Stearinkerzen zugesellte. Außerdem ging sie abends oft zu Freundinnen, um | |
| Strom zu sparen. Ab und an kamen sie zu ihr. Alkohol gab es in Form von | |
| Hustensaft und Melissengeist. | |
| Wenn dann tatsächlich einmal der Strom ausfiel, was in meiner Jugend gar | |
| nicht so selten vorkam, stand Großmutter triumphierend in der Tür, eine | |
| Kerze in der Hand, und schaute auf den Fernseher, der jetzt die Welt beim | |
| Dämmerstündchen zeigte, während sie sich mit meinen Eltern unterhielt. | |
| Eigentlich könnte ich den Regenbogen am Router ignorieren, ich habe ja noch | |
| das Handy. Doch da ich genauso sparsam bin wie meine Großmutter und mein | |
| Datenvolumen nicht vor Monatsende aufbrauchen will, werde ich beim Nachbarn | |
| klingeln und ihn fragen, ob er noch Internet hat. Falls es nur an meinem | |
| Router liegt, kann ich ihm vielleicht entlocken, was sein neues Passwort | |
| sein könnte. Außerdem ist er im Grunde ein netter Kerl und lädt mich | |
| bestimmt auf einen Obstler ein. | |
| 2 Apr 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Gisbert Amm | |
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