# taz.de -- Die Wahrheit: Bücher für das Sterbebett | |
> Der Punkt, an dem man alle Bände, die man sich je angeschafft hat, | |
> innerhalb der Lebenszeit noch lesen kann, ist längst überschritten, aber | |
> … | |
Soll man noch Bücher kaufen? Wer sich angesichts überfüllter Bücherregale | |
und Büchertelefonzellen, abnehmender Aufmerksamkeitsspannen und von | |
Bildschirmzeit aufgefressener Tage diese Frage stellt, dem möchte ich sie | |
mit einem Bekenntnis beantworten: Den Punkt, an dem ich alle Bücher, die | |
ich mir angeschafft habe, innerhalb meiner Lebenszeit noch hätte lesen | |
können, habe ich schon mit sechzehn überschritten. | |
Habe ich aber aufgehört, Bücher zu kaufen? Mitnichten! Glaube ich, die | |
Tausenden Bände, die mich umgeben, in diesem Leben noch zu lesen? Eher | |
nicht. Kein Wunder, ist doch ausgemachter Schruz dabei – wie die kleine | |
Enzyklopädie „Die Frau“, in der von Kleidung über Klitoris bis Klimakteri… | |
alles auf sozialistisch erklärt wird, oder Jean Henry Fabres zehnbändiges | |
Protokoll zur Insektenverhaltensforschung, in dem die mit einem Besen | |
weggefegten Ameisen ihren Weg unbeirrt wiederfinden. | |
„Das werde ich alles auf dem Sterbebett lesen“, pflege ich zu sagen, „denn | |
so wird der Tod warten müssen, wie in der Geschichte mit dem Schachspiel, | |
wo er nicht mal ein Remis schafft und dann auch noch verliert. Schwach! Ich | |
werde dem Tod vorlesen, dann wird er einnicken, irgendwann aufwachen, | |
hektisch aufspringen und weiterrennen, ohne mich mitzunehmen.“ Ja, so rede | |
ich, ohne das „bebe“ in dem Wort Sterbebett zu bemerken, was immer das auch | |
bedeutet. | |
Das erste Mal, dass ich mit der Frage konfrontiert wurde, ob man noch | |
Bücher kaufen soll, war im Herbst 1989, kurz nach Öffnung der Mauer. Die | |
Älteren unter uns erinnern sich, dass vorher, als Ergebnis des von | |
Deutschland mit dem Überfall auf Polen angefangenen Zweiten Weltkriegs, | |
auch das muss man heutzutage schon wieder extra betonen, dass am Ende des | |
Kriegs also das massenmörderische deutsche Regime bedingungslos | |
kapitulieren musste und von den Siegermächten aufgeteilt wurde in zwei | |
Staaten, zwischen denen eine Mauer errichtet wurde, eine Idee, die derzeit | |
wieder en vogue ist, eine Mauer, die 28 Jahre stand und deren Ende ich in | |
jenem Herbst 1989 erleben durfte. | |
Als wir Habenichtse – unser Autokennzeichen wurde später HBN, das von den | |
Westdeutschen als Abkürzung für „Habenichts“ gelesen wurde – in den Wes… | |
kamen, kriegten wir 100 Mark „Begrüßungsgeld“. Ich ging damit in eine | |
Buchhandlung, in Westberlin war das, und lief stundenlang rechnend mit | |
wechselnden Bücherstapeln auf dem Arm hin und her, bis ich mich kurz vor | |
Ladenschluss entscheiden musste. Ich erstand Blochs „Prinzip Hoffnung“ und | |
Peter Weiß’ „Ästhetik des Widerstands“. | |
Auf dem Rückweg traf ich am Grenzübergang einen westdeutschen | |
BWL-Studenten, der mir erklärte, dass ich mindestens die Hälfte hätte | |
sparen können, wenn ich die Bücher ausgeliehen und kopiert hätte. Ich | |
verstand, was er mir sagen wollte, begreife es aber bis heute nicht. Und | |
kaufe weiterhin Bücher. | |
27 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Gisbert Amm | |
## TAGS | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Bücher | |
Lesen | |
Tod | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Gedicht | |
Die Wahrheit | |
Die Wahrheit | |
Handarbeit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Dämmerstündchen mit Obstler | |
Plötzlich ist das Internet weg und Großmutter da, nicht virtuell, sondern | |
in der Erinnerung an sie und die Stromausfälle der Kindheit. | |
Die Wahrheit: Wievielter März? | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute darf sich die geneigte | |
Leserschaft an einem Poem über dieses eine Dings da im Frühling erfreuen. | |
Die Wahrheit: Sitzen ist das neue Rauchen | |
Donnerstag ist Gedichtetag. Heute darf sich die Leserschaft erfreuen an | |
einer poetischen Eloge auf das Sitzen allerorten. | |
Die Wahrheit: Der Aufräumgeist | |
Donnerstag ist Gedichtetag: Heute darf sich die halloweensche Leserschaft | |
an einem Gedicht delektieren über einen Geist, der nicht aufgibt. | |
Die Wahrheit: Hand statt Fuß | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit – heute darf sich die | |
Leserschaft an einem Poem über Szenen aus dem Leben eines Greiforgans | |
erfreuen. |