| # taz.de -- Pandemie-Gesetz gekippt: Der Tod ist Ländersache | |
| > Das Bundesverfassungsgericht gibt Ärzten wieder mehr Spielraum bei der | |
| > Triage. Das Parlament habe zu Corona-Zeiten seine Kompetenz | |
| > überschritten. | |
| Bild: Triage: Wer bekommt im Fall einer Überlastung des Gesundheitssystems leb… | |
| Der Bundestag hat keine Kompetenz, die Auswahl – die sogenannte Triage – | |
| von Patient:innen bei einer Überlastung des Gesundheitssystems zu | |
| regeln. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss, der | |
| am heutigen Dienstag veröffentlicht wurde. Jetzt müssen die Landtage 16 | |
| Landesgesetze beschließen. | |
| Von einer Triage spricht man, wenn die Möglichkeiten des Gesundheitswesens | |
| nicht ausreichen, um alle Patient:innen ausreichend zu versorgen. Dann | |
| müssen die Ärzte auswählen, wem sie helfen und wem nicht. In den | |
| Diskussionen während der Covid-Pandemie ging es vor allem um die begrenzten | |
| Kapazitäten der Intensivstationen der Krankenhäuser, wobei es letztlich | |
| keine praktischen Anwendungsfälle gab. | |
| Eine Gruppe von neun Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen | |
| erhob 2020 Verfassungsklage, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage | |
| benachteiligt zu werden. Die Ärzteverbände hielten die Befürchtungen jedoch | |
| für unnötig, weil Ärzt:innen schon aus berufsrechtlichen Gründen niemand | |
| diskriminieren dürfen. | |
| Das Bundesverfassungsgericht gab der Klage 2021 aber statt. Der | |
| „Gesetzgeber“ müsse „unverzüglich“ eine gesetzliche Regelung schaffen… | |
| eine Diskriminierung Behinderter bei der Triage ausschließe. Es dürfe zwar | |
| auf die Wahrscheinlichkeit geachtet werden, dass der Patient die konkrete | |
| Krankheit überlebt. Unzulässig sei aber eine Differenzierung nach | |
| Lebenserwartung oder vermeintlicher Lebensqualität. Im Übrigen habe der | |
| „Gesetzgeber“ einen weiten Spielraum. | |
| ## Streitpunkt Ex-Post-Triage | |
| Damals gingen alle Beteiligten davon aus, dass der Bundestag hier der | |
| richtige „Gesetzgeber“ ist. Der Bundestag beschloss die Neuregelung im | |
| Dezember 2022 als neuen Paragrafen 5c im Infektionsschutzgesetz. | |
| Im Vorfeld der Neuregelung war vor allem über die sogenannte Ex-post-Triage | |
| gestritten worden, die die Bundesregierung in einem ersten Entwurf | |
| vorgeschlagen hatte. Damit war gemeint: Wenn alle Beatmungsgeräte besetzt | |
| sind und ein neuer Patient mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit | |
| hinzukommt, dann muss ein bereits angeschlossener Patient mit geringer | |
| Überlebenswahrscheinlichkeit sein Gerät abgeben. Das führte zu großer | |
| Empörung. Beschlossen wurde dann das Gegenteil: Eine solche Ex-post-Triage | |
| war nun sogar verboten. | |
| Das aber empörte die Ärzteschaft. 14 Fachärzt:innen erhoben mit | |
| Unterstützung der Ärztegewerkschaft Marburger Bund nun ihrerseits gegen die | |
| Neuregelung Verfassungsbeschwerde. Es sei ein unverhältnismäßiger Eingriff | |
| in ihre Berufs- und Gewissensfreiheit, wenn sie Menschen mit geringer | |
| Überlebenswahrscheinlichkeit versorgen müssen, während später eingelieferte | |
| Patienten mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit leer ausgehen und sterben | |
| müssen. | |
| Diese inhaltlich zentrale Frage hat das Bundesverfassungsgericht nun aber | |
| nicht entschieden. Das Gericht erklärte den Triage-Paragrafen vielmehr nur | |
| deshalb für verfassungswidrig und nichtig, weil der Bundestag keine | |
| Kompetenz habe, ein derartiges Gesetz zu beschließen. | |
| ## Infektionsschutz ja, Triage nein | |
| Der Bundestag hatte sich auf seine Kompetenz für „Maßnahmen gegen | |
| gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“ | |
| berufen. Das ließen die Richter:innen aber nicht gelten. Dort gehe es um | |
| Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Krankheit, weshalb der Bundestag ein | |
| Infektionsschutzgesetz beschließen durfte. Es gebe aber keine | |
| Bundeskompetenz für die Folgen einer Pandemie, etwa die Überlastung des | |
| Gesundheitswesens. Die Entscheidung fiel mit 6 zu 2 Richterstimmen. | |
| Nun gibt es also zunächst keine gesetzliche Triage-Regelung. Paragraf 5c | |
| ist nichtig und wurde auch nicht bis zu einer bestimmten Frist | |
| aufrechterhalten. Das ist auch nicht schlimm, da wir derzeit keine Pandemie | |
| haben und die Ärzt:innen ohnehin versichern, dass sie niemand | |
| diskriminieren. | |
| Es gilt aber noch der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts von 2021, dass | |
| der „Gesetzgeber“ unverzüglich einen gesetzlichen Schutz gegen | |
| Diskriminierung bei der Triage schaffen muss. Nun ist also klar, dass damit | |
| die Landtage am Zug sind. | |
| Da sie hierbei viel Gestaltungsfreiheit haben, könnte es am Ende 16 | |
| unterschiedliche Landesgesetze geben. Falls es wieder Verbote der | |
| Ex-post-Triage gibt, dürften die Ärzte des Marburger Bunds wieder | |
| Verfassungsklage erheben. Und dann müsste das Bundesverfassungsgericht | |
| erneut entscheiden. | |
| 4 Nov 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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