| # taz.de -- Männerfußball-WM 2030 in Marokko: Viel Glitzer, viel Groll | |
| > Marokko investiert Milliarden für die WM. Es geht um wirtschaftliche | |
| > Transformation, Tourismus und Außendiplomatie. Im Land wächst der Unmut. | |
| Bild: Enorme Staatsausgaben für Fußballinfrastruktur: Stadionbau in Rabat 2021 | |
| Wie eine windumtoste Zeltstadt sieht es in den Projektionen aus, das bald | |
| größte Stadion der Welt. Das „Stade Hassan II“ bei Casablanca, dessen | |
| Dachform auf die Zelte der Amazigh-Volksgruppe anspielt, zeigt sich | |
| traditionsbewusst und mondän. Es ist mit 115.000 Plätzen und 500 Millionen | |
| Dollar Kosten der Kronjuwel des marokkanischen WM-Projekts, ein wohl | |
| kalkuliertes Bild, das das [1][marokkanische Königshaus zur Männer-WM 2030 | |
| transportieren will]: von einem visionären Land im Aufbruch. Einem | |
| selbstbewussten regionalen Player. Und glänzender Zukunft. | |
| Doch in den letzten zwei Wochen hat diese PR empfindliche Risse bekommen. | |
| [2][Die frustrierte Gen Z, die täglich in Marokko auf die Straßen geht] und | |
| deren gemeinsamer Nenner vor allem ein postideologischer Zorn ist, zeigt | |
| die Lebensrealität eines anderen Marokko, des Marokko der Mehrheit. | |
| Die Demonstrierenden fordern nicht nur Bildung, ein funktionierendes | |
| Gesundheitssystem, ein Ende der Massenarbeitslosigkeit und den Rücktritt | |
| der Regierung, sondern kritisieren auch die unverhältnismäßigen Ausgaben | |
| für die WM. „Wir wollen Krankenhäuser, keine Stadien“ oder: „Gesundheit | |
| zuerst, wir wollen die WM nicht.“ | |
| Europäische Medien machten daraus schnell einen Anti-WM-Protest. Es ist | |
| komplizierter. Viele Menschen im fußballverliebten Land äußern sich nicht | |
| per se gegen das Turnier. „Wir wollen die WM“, sagte etwa ein Demonstrant | |
| der BBC. „Aber wir wollen sie mit erhobenem Haupt und uns nicht hinter | |
| einer Fassade verstecken.“ Die fehlgeleiteten Megainvestitionen sind für | |
| viele nur Symptom eines korrupten Regimes, das mehr Wert auf | |
| Glitzerfassaden legt als auf die Lösung der Probleme im Bildungssektor, | |
| Jobmarkt und Gesundheitssystem. | |
| „Wir erleben etwas, das schon vor langer Zeit hätte passieren sollen“, | |
| erklärt Soumaya Regragui vom marokkanischen Menschenrechtszentrum AMDH der | |
| taz. „Für die WM werden Luxusstadien, Straßen und Bahnlinien gebaut. Die | |
| Marokkaner:innen fragen sich: Wenn all dieses Geld da ist, warum haben wir | |
| keinen Zugang zu grundlegenden Menschenrechten?“ | |
| ## Fehlende Vision für die Jugend | |
| Marokko ist mittlerweile führende afrikanische Tourismusdestination mit | |
| stark modernisierter Infrastruktur. Zugleich liegt die Arbeitslosigkeit der | |
| 15- bis 30-Jährigen in urbanen Gebieten bei fast 50 Prozent, die meisten | |
| Menschen haben keine Krankenversicherung und arbeiten in unqualifizierten | |
| Gelegenheitsjobs – ein Leben zwischen Stillstand, Frust und Flucht. Auch | |
| mehrere Nationalspieler haben sich mit den Aktivist:innen solidarisiert. | |
| „Es ist, als hätten wir zwei Nationen innerhalb eines Landes“, sagt | |
| Regragui. „Die WM-Nation mit Luxus und Infrastruktur, und eine zweite | |
| Nation, die arm ist und ohne die grundlegendsten Menschenrechte.“ Es sei | |
| Zeit, endlich eine Vision für die Jugend zu entwickeln. | |
| Tatsächlich ist die WM-Bewerbung nicht ohne Vision. Die Regierung hat etwa | |
| bewusst die Bauaufträge an marokkanische Unternehmen vergeben, um die | |
| heimische Industrie zu stärken. Regragui sagt, dass auch der Großteil der | |
| Bauarbeiter marokkanisch sei. Sie arbeiteten allerdings unter sehr | |
| schlechten Bedingungen. Außerdem sei die Frist für die vielen Projekte sehr | |
| kurz. | |
| ## Stopp von Krankenhausbau | |
| Wie schon in den Fällen Brasilien und Südafrika hat sich die WM-Vergabe an | |
| postkoloniale Staaten als zweischneidig erwiesen. Einerseits bedeutet sie | |
| überfällige Teilhabe und Umverteilung von Macht, endlich erstritten dort, | |
| wo Fußball so vielen (vor allem) Männern alles bedeutet. Großturniere | |
| bringen zudem oft einen tatsächlichen Schub für Infrastrukturprojekte und | |
| Innovation. Aber den prekären Massen kommen sie kaum zugute. Tickets für | |
| die geplanten neuen Züge kann sich hier kaum jemand leisten. | |
| Ein Krankenhausbauprojekt kam zum Stillstand, weil die Arbeiter zum | |
| Stadionbau gebraucht wurden. Turniere leisten der Gentrifizierung Vorschub. | |
| Und gerade in autokratischen Ländern mit großen sozialen Differenzen können | |
| Menschen sich noch schwerer zur Wehr setzen. Auch die Gen Z nimmt explizit | |
| König Mohammed VI. von ihrer Kritik aus – vorerst. | |
| Journalist und Forscher Yassine Ben Driss von der Zeitung Yabiladi, der die | |
| Proteste begleitet, glaubt dennoch, der Effekt der WM könne insgesamt | |
| positiv sein. „Sie wird Marokkos weltweites Image und den Tourismus | |
| fördern. Aber sie muss klug gemanagt werden.“ Vor allem Brasiliens | |
| Erfahrung zeige: „Ohne parallele Investitionen in Langzeitjobs ist der | |
| wirtschaftliche Effekt solcher Turniere kurzlebig.“ | |
| Fünf bis sechs Milliarden Dollar möchte Marokko für die WM 2030 | |
| investieren, vor allem in Stadien, Schienennetz, Hotels und Flughäfen. Das | |
| ist verschwindend gering im Vergleich zu den Turnieren in Russland, | |
| Brasilien [3][oder der 220-Milliarden-Dollar-WM in Katar], aber dennoch | |
| eine enorme Belastung. Seit Jahrzehnten schon steckt das Königreich viel | |
| Geld in Fußball, etwa mit dem hochmodernen Trainingszentrum Mohammed VI | |
| Football Academy für 13 Millionen Euro, der Austragung des Afrika-Cups der | |
| Frauen und Männer oder dem 2024 angekündigten nationalen Fonds für | |
| Fußballtraining. | |
| ## Tourismus ist fragil | |
| Das war sportlich enorm erfolgreich und auch dem Image dienlich. Nun sollen | |
| die wirtschaftlichen Profite folgen. Denn Sportgroßveranstaltungen gelten | |
| längst als Meilenstein für die Tourismusbranche. Die WM erzählen viele | |
| Medien in Marokko als Teil einer großen Transformation. Immer noch ist rund | |
| ein Drittel der Marokkaner:innen im Agrarsektor beschäftigt. Das | |
| Wirtschaftsministerium proklamiert 100.000 neue Vollzeitjobs pro Jahr dank | |
| Fußball-WM und ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent. | |
| Das ist ein Baustein für die von Mohammed VI. proklamierte Vision 2035, die | |
| etwa das Pro-Kopf-BIP verdoppeln soll. Mit Tourismus als Eckpfeiler: Bis | |
| 2030 soll sich die Zahl der Besucher:innen im Land verdoppeln, die | |
| Flughäfen sollen 80 Millionen Passagiere pro Jahr aufnehmen können statt | |
| bisher 38 Millionen, die Länge der Hochgeschwindigkeitsgleise wird | |
| landesweit verdreifacht. Doch Tourismus ist auch extrem fragil – und | |
| qualifizierte Jobs bringt er kaum. Zudem verschärfte er soziale Spannungen, | |
| weil dafür etwa Armenviertel abgerissen wurden. | |
| ## Unterstützung für Besatzung | |
| Neben den innenpolitischen Interessen dürfte es ein wichtiges | |
| außenpolitisches Motiv für die WM geben. Marokko hat sich jüngst stark | |
| bemüht, internationale Unterstützung für seine völkerrechtswidrige | |
| Besatzung der Westsahara zu bekommen. Lag man darüber 2021 noch mit dem | |
| jetzigen Co-Gastgeber Spanien im Clinch, ist die spanische Kritik wundersam | |
| verstummt. Das Königreich stützt Marokkos Ansprüche nun ebenso wie der | |
| andere Gastgeber Portugal. | |
| Die wirtschaftlichen Beziehungen vor allem zu Spanien wurden in den | |
| vergangenen Jahren intensiviert: Marokko ist größter Exporteur Afrikas nach | |
| Spanien und dessen größter afrikanischer Kunde; Spanien investiert auch | |
| etwa in Marokkos Straßen- und Schienennetz. | |
| Die Fifa indes eiert bei der Frage nach der illegalen Annexion: Eine Karte | |
| Marokkos, die auch die Westsahara als marokkanisches Gebiet zeigt, hat sie | |
| mehrfach abgelehnt. Gleichzeitig erkennt sie mit der Formulierung, Marokko | |
| habe 3.500 km Küstenlinie, implizit die Annexion an. All das bedeutet einen | |
| diplomatischen Erfolg. | |
| ## Machtkämpfe hinter den Kulissen | |
| Doch der könnte teuer erkauft sein. Denn nicht nur die Gen-Z-Proteste | |
| erschüttern derzeit das Land. Im Tausch für die US-Unterstützung in puncto | |
| Westsahara hat Marokko 2021 diplomatische Beziehungen zu Israel | |
| aufgenommen. Im traditionell palästinasolidarischen Marokko gibt es seitdem | |
| fast täglich Demos gegen den Deal, und noch mehr wuchs der Zorn seit den | |
| massiven Kriegsverbrechen Israels in Gaza. Bisher zeigt die Polizei sich | |
| aus taktischen Gründen kulanter als bei der Gen Z. | |
| Und dann sind da noch [4][die Erdbebenopfer von 2023,] die seit zwei Jahren | |
| ebenfalls fast täglich ihre Wut über die Ignoranz des Staates auf die | |
| Straße tragen. Es sind breite Gruppen, die sich von den Eliten entfremdet | |
| fühlen. Die heikle Situation trifft auf einen gesundheitlich angeschlagenen | |
| König und angebliche Machtkämpfe hinter den Kulissen. Vor der WM und dem | |
| Afrika-Cup im Dezember sitzt Marokko auf einem Pulverfass. | |
| ## Rücktritt als Lösung? | |
| Derzeit hat sich immerhin die Gewalt beruhigt. „Die Gen-Z-Proteste sind | |
| wieder weitgehend friedlich, nachdem die Behörden ihre anfänglich harten | |
| Sicherheitsmaßnahmen gelockert haben“, berichtet Journalist Yassine Ben | |
| Driss. „Die Protestierenden scheinen entschlossen, ihre Bewegung gewaltfrei | |
| zu halten.“ | |
| Die Mobilisierung sei geringer, die Atmosphäre ruhiger. Ben Driss hält | |
| Neutralität aus dem Ausland für sinnvoll. „Ausländische Unterstützung für | |
| die Demonstrierenden könnten die Behörden als Versuch interpretieren, das | |
| Land zu destabilisieren. | |
| Umgekehrt würden die Bürger:innen eine offene Unterstützung für die | |
| Regierung als westliche Mittäterschaft bei Korruption und Autoritarismus | |
| empfinden.“ Wie es weitergeht, hänge von der Regierung ab. „Wenn die | |
| Regierung zurücktritt, beruhigen sich die Dinge vermutlich. Aber wenn die | |
| Forderungen ignoriert werden, könnte die Unzufriedenheit später in neuer | |
| Form aufflammen.“ Ein Szenario, das Marokko für die WM vermutlich vermeiden | |
| will. | |
| 10 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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