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# taz.de -- Flucht aus Sudan: Nirgendwo Menschlichkeit
> Mazin hatte ein Visum für Saudi-Arabien, Mujtabas Pass lag in der
> deutschen Botschaft in Khartum. Dann brach Krieg aus. Geschichte zweier
> Fluchten.
Bild: Enttäuschte Hoffnung: Ein Demonstrant bei einem Protest gegen den Putsch…
Siracusa taz | Für irgendetwas war es gut. Es hat mich stärker gemacht“,
sagt Mazin*, nachdem er seine Geschichte fertig erzählt hat. Die Leitung
rauscht, im Hintergrund bellen Hunde. Es ist fast Mitternacht, als wir über
das Internet miteinander telefonieren. Erst jetzt ist er fertig mit seiner
12-Stunden-Schicht in der Ziegelfabrik in Libyens Hauptstadt Tripolis. Die
Arbeit ist anstrengend, aber ermöglicht ihm, monatlich Geld an seine
Familie in Ägyptens Hauptstadt Kairo zu senden.
Mazin kommt aus [1][Sudan, wo seit zweieinhalb Jahren Krieg zwischen der
Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) herrscht.] Nach
UN-Angaben sind etwa 12 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als 4
Millionen von ihnen über die Landesgrenzen hinweg.
Es gab eine Zeit, da hatte Mazin Hoffnung für sein Land. Er war Teil der
Massenproteste, die im April 2019 [2][Langzeitdiktator Omar al-Bashir]
stürzten. Beschwingt vom Geist des Neuanfangs, wollten die Menschen Sudans
damals ihr Land demokratisch neu aufbauen. Der Staatsstreich von Armee und
RSF gegen die zivile Übergangsregierung im Oktober 2021 zerstörte diesen
Traum. Gehen wollte dennoch kaum einer. Entschlossen stellte sich die
Zivilgesellschaft gegen den Putsch. Dann zerstritten sich die beiden
mächtigsten Generäle des Landes, de facto Staats- und Armeechef Abdelfattah
al-Burhan und sein Vize, RSF-Chef Dagalo. Es kam zum Krieg.
Als der Krieg am 15. April 2023 in Khartum ausbricht, ist Mazin gerade
dort. Seine Eltern und drei Geschwister befinden sich in ihrem Heimatort im
Bundesstaat Gezira, etwa 200 Kilometer entfernt. Drei Tage lang harrt er
allein in Khartum aus. Nachdem ein Schuss die Wand direkt neben ihm trifft,
begibt er sich auf den Weg nach Saudi-Arabien, für das er kurz zuvor ein
Arbeitsvisum erhalten hat.
Für Mujtaba* ist die Flucht schwieriger. Als der Krieg ausbricht, liegt der
Pass des heute 30-Jährigen gerade zur Bearbeitung seines
Schengen-Visum-Antrags bei der Deutschen Botschaft in Khartum. Wie rund 600
weitere Betroffene verliert er ihn, als die Botschaft kurz darauf evakuiert
wird. Mujtaba gehört zu den fünf Betroffenen, die einen Eilantrag beim
Verwaltungsgericht Berlin stellen, um das Auswärtige Amt zur Herausgabe
ihrer Dokumente zu verpflichten. Ihnen ist bewusst, dass eine physische
Passrückgabe nach Evakuierung der Botschaft kaum noch möglich ist, doch
hoffen sie auf eine Ersatzleistung, die eine Grenzpassage erlaubt.
Die Hoffnung wird enttäuscht – nach fast drei Monaten teilt die zuständige
Richterin dem Anwalt der Antragsstellenden, Alexander Gorski, mit, das
Auswärtige Amt habe glaubhaft dargelegt, dass eine Passrückgabe nicht
möglich sei, so Gorski. Für etwaige Ersatzleistungen sei das Amt nicht
zuständig, weshalb die Richterin die Klage am nächsten Tag für verloren
erklären würde. Für die Antragstellenden hätte dies bedeutet, die
Gerichtskosten zu tragen. Also ziehen sie die Klage zurück.
Mujtaba verbringt diese monatelange Wartezeit in seiner Heimat in Sennar,
einem Bundesstaat im Südosten Sudans an der Grenze zu Äthiopien. Gekämpft
wird dort noch nicht. Aber aufgrund seines Antikriegsaktivismus gerät der
Ölingenieur ins Visier der Armee. Mujtaba flieht mit einem Notfallausweis
nach Äthiopien.
Dieses Dokument gilt jedoch nur für einen Monat und genehmigt bloß eine
einzige Grenzüberquerung. Um sein Ziel Uganda zu erreichen, beantragt
Mujtaba bei der Sudanesischen Botschaft in Addis Abeba einen weiteren
Notfallausweis. „Weil ich mich nicht ausweisen konnte, haben sie zu mir
gesagt ‚Du bist nicht aus Sudan!‘“, berichtet er. Am Ende erhält er das
Dokument und reist nach Uganda. Dort erhält er endlich einen gültigen Pass
und registriert sich als Geflüchteter beim UNHCR.
Über ein Jahr bleibt er in Uganda. Doch im Sommer 2024 nehmen die RSF
Sennar ein, seine Familie muss fliehen. Mujtaba muss Geld verdienen und
seine Familie unterstützen. Uganda gilt als migrationsfreundlich. Es nimmt
viele Geflüchtete auf, aber staatliche Hilfe erhalten diese nicht,
berichten Betroffene. „Uganda ist ein sehr armes Land“, erklärt Mujtaba.
„Es ist schwierig, Arbeit zu finden.“ Nach über einem Jahr ohne Arbeit
entschließt er sich, abermals weiterzuziehen, und reist in die Türkei.
Auch Mazin muss von Saudi-Arabien aus verfolgen, wie seine Familie in
Gezira im Dezember 2023 vor der RSF flieht. Der Verdienst von Vater und
Bruder fällt weg. Gleichzeitig hat der Krieg die Lebenshaltungskosten
rasant in die Höhe getrieben. Eine Wohnung für die Familie anzumieten,
kostet Mazin umgerechnet 500 Dollar im Monat – bei einem Gesamteinkommen
von 650 Dollar.
Nach einigen Wochen gelingt es ihm, seine Familie von der Flucht nach
Ägypten zu überzeugen. Zwischen Ägypten und Sudan gilt eigentlich
Visafreiheit. Aber Ägypten hat zu diesem Zeitpunkt die Grenze zum südlichen
Nachbarn fast ganz geschlossen und Einreisevisa für Menschen aus Sudan hoch
bepreist. Aus Alternativlosigkeit begibt sich Mazins Familie mit
Schmugglern in die Wüste.
Drei Tage lang hört Mazin nichts von ihnen. Er erinnert sich an die Qual
des Wartens. Schlafen kann er nicht. Tagsüber arbeitet er in einem
Warenlager, nachts durchsucht er Nachrichten und soziale Medien nach
Neuigkeiten. Dazwischen betet er, weint und raucht viel. „Am dritten Tag
brach ich zusammen“, erzählt er. „Ich war der Grund dafür, dass sie dort
waren, weil ich nicht das Geld aufbringen konnte, sie in Sudan zu
unterstützen.“
Am vierten Tag kommt der erleichternde Anruf: Die Familie ist wohlbehalten
in Ägypten angekommen. Sie ziehen nach Kairo und melden sich beim UNHCR.
Sechs Monate dauert es, bis sie ihre Registrierung als Geflüchtete
erhalten. In dieser Zeit sind sie illegalisiert, können sich nicht
ausweisen und könnten jederzeit festgenommen und abgeschoben werden.
Zugleich nehmen in Ägypten staatliche Repression und antimigrantische
Propaganda gegen sudanesische Geflüchtete zu. Die Berichte von Verhaftungen
und Abschiebungen auch offiziell registrierter Geflüchteter häufen sich.
Im Frühling 2025 verliert Mazin in Saudi-Arabien nach einem Streit mit
seinem Vorgesetzten um Lohn seinen Job. Melden kann er den Vorfall nicht,
weil der Job informell war. Als sein Visum kurze Zeit später abläuft, wird
es daher nicht erneuert. Er muss das Land verlassen. Von Jeddah reist er
zurück nach Sudan und von dort nach Ägypten – ebenfalls mit Schmugglern.
Die Reise ist beschwerlich, doch letztlich schafft er es nach Kairo. Nach
zwei Jahren sieht er endlich seine Familie wieder.
„Wir haben so viel geweint“, erzählt er. „Für meine Familie war es, als
würden sie einen Geist sehen.“ Seine Mutter bereitet ihm Frühstück vor,
danach fällt Mazin in einen langen, festen Schlaf. „Es war das erste Mal in
zwei Jahren, dass ich schlafen konnte, ohne ein Desaster zu befürchten“,
erinnert er sich.
Auch Mujtabas Aufenthalt in der Türkei ist von Visums- und Arbeitsproblemen
geprägt. Für drei Monate arbeitet er in einer Fabrik in Istanbul. Das Geld
reicht zum Leben, sogar etwas ansparen kann er. Dann endet sein Visum – und
wird nicht erneuert. Jetzt trifft er die Entscheidung. Sein erspartes Geld
gibt er Bekannten, die alles arrangieren. Dann reist er an die türkische
Küste.
Am 1. August 2025 steigt Mujtaba mit 34 anderen Personen, darunter zwei
Kinder und drei schwangere Frauen, in ein Gummiboot. Gemeinsam überqueren
sie das Ägäische Meer Richtung Westen. Am nächsten Morgen erreichen sie die
griechische Insel Farmakonisi. 2014 ertranken hier bei einem ähnlichen
Überquerungsversuch acht Kinder und drei Frauen, während sie sich im
Schlepptau der griechischen Küstenwache befanden. Die Überlebenden hatten
angegeben, von der Küstenwache zurück in Richtung Türkei geschleppt worden
zu sein – ein illegaler „Pushback“. Die Vorwürfe solcher Pushbacks gegen
Griechenland halten bis heute an.
Für Mujtaba und seine Mitreisenden verläuft die Überfahrt glücklicherweise
ohne größere Zwischenfälle. In Farmakonisi angekommen, werden sie von den
griechischen Behörden auf die Insel Leros gebracht und als Geflüchtete
registriert.
Auch für Mazin in Ägypten wird schon kurz nach seiner Ankunft klar: Dort
bleiben kann er nicht. Er fährt zum UNHCR, um sich als Geflüchteter zu
registrieren. Nach sieben Stunden Wartezeit wird er zu einer Mitarbeiterin
durchgelassen. Er erzählt ihr von seiner Reise, seinem politischen
Aktivismus in seinem Heimatland und wie er dafür schon vor Kriegsbeginn
verfolgt wurde. Die Mitarbeiterin unterbricht ihn und erklärt, dies sei nur
das Erstgespräch für die Terminvergabe. Sein Registrierungstermin ist erst
in sechs Monaten.
Mazin widerspricht, wie er erzählt: „Ich sagte zu ihr: ‚Hören Sie, ich ka…
nicht so lange warten. Ich bin der alleinige Versorger meiner Familie. Ich
muss arbeiten. Geben Sie mir wenigstens ein Dokument, das bestätigt, dass
ich auf die Registrierung warte.‘“ Noch während Mazin spricht, verlässt d…
Mitarbeiterin den Raum. Ein Sicherheitsmitarbeiter gibt ihm zu verstehen,
dass seine Audienz zu Ende ist. „Es war ein niederschmetternder,
demütigender und absolut unmenschlicher Moment“, klagt er.
In den Wochen danach findet Mazin keine Arbeit. Dann trifft auch er eine
Entscheidung: Er ruft seine Familie zusammen und verkündet seine morgige
Abreise. Von Kairo reist er in die Küstenstadt Marsa Matruh. Für Ägypter
ist es ein Urlaubsort, bekannt für seine schönen Lagunen und Sandstrände.
Für Mazin ist es der Ort, an dem er sich erneut in die Hände von
Schmugglern begibt. 30 Personen fahren an einen ihm unbekannten Ort in die
Wüste. Von da geht es zu Fuß weiter. Nach einem Tag Wanderung erreichen sie
den Grenzübergang nach Libyen. Hier kommen sie mit anderen Gruppen
zusammen.
250 Personen sind sie nun, darunter auch Frauen und Kinder. Das Verhalten
der Schmuggler ändert sich: Sie werden aggressiver, holen Stöcke heraus und
schlagen damit auf Aufsässige ein. Mazin erinnert sich an die Worte der
Schmuggler: „Von hier an wird nicht mehr gegangen, nur noch gerannt.
Zurückfallen ist keine Option. Wer denkt, es nicht zu schaffen, sollte
lieber gleich hierbleiben – vielleicht überlebt ihr es.“ Dann rennen sie
los. Die anderen hinterher. Wer taumelt oder anhält, erhält Stockschläge
auf den Rücken.
Irgendwann gehen die Blendgranaten los, über die die Schmuggler sie zuvor
informiert hatten. Diese sogenannten nichttödlichen Sprengsätze machen
durch extremen Lichtblitz und Knall kurzzeitig orientierungslos. Nach einer
Weile halten die Schmuggler an. Mazin berichtet: „Ich hörte einen von ihnen
sagen ‚Jetzt kommt das Minenfeld. Oh Gott.‘“ Sie stellen sich
hintereinander in einer Reihe auf und schreiten vorsichtig voran. Am
Horizont erscheinen die Lichter einer Stadt. Endlich sind sie in Libyen.
Ein letztes Mal wird die Gruppe angehalten, für „den Teil mit dem Raub“,
sagt Mazin. Dass man am Ende sein gesamtes Hab und Gut den Schmugglern
übergeben muss, hatte er vorher schon gehört. „Sie haben alles genommen“,
erzählt er. „Es blieb niemandem auch nur ein einziger Cent in der Tasche.“
Die Verbliebenen werden nach Tobruk gebracht, einer Hafenstadt im Osten
Libyens. Dort werden sie entlassen. Wieder ist Mazin auf sich allein
gestellt, wieder in einem Kriegsland. Im Osten Libyens herrscht General
Khalifa Haftar, der seit 2014 gegen die international anerkannte libysche
Regierung im Westen des Landes kämpft.
Die Zahl sudanesischer Flüchtender, die sich von Libyen auf den Weg über
das Mittelmeer nach Europa begeben, steigt. Anfang September sanken hier
kurz vor der Küste zwei Boote mit sudanesischen Geflüchteten. Mindestens
111 Menschen kamen dabei ums Leben.
„Insgesamt sehen wir dieses Jahr einen Anstieg von knapp 20 Prozent in der
ersten Jahreshälfte auf der zentralen Mittelmeerroute“, sagt Lukas
Kaldenhoff von der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS Humanity der taz.
Die zentrale Mittelmeerroute beschreibt die Überseepassage von Libyen nach
Italien oder seltener nach Malta. Seit der Jahresmitte steigt diese Zahl
noch stärker an: „Wenn man sich die letzten zwei Monate anschaut, sieht
man, dass genauso viele Menschen aus dem Sudan geflohen sind wie in der
gesamten ersten Jahreshälfte“, sagt Kaldenhoff.
Werden also immer mehr Sudanes:innen künftig die Flucht über das
Mittelmeer antreten? Darüber wagt Kaldenhoff keine Prognose zu stellen.
Zeitlich verzögerte Migration nach Konfliktausbruch sei allerdings kein
neues Phänomen, da es eine Weile bräuchte, bis sich Fluchtrouten
etablierten und sich das Wissen um sie verbreite.
Auch in Griechenland steigen die Ankunftszahlen von Menschen aus Sudan
deutlich. In den vergangenen Jahren spielten sudanesische Staatsangehörige
laut Kaldenhoff statistisch kaum eine Rolle. Inzwischen stammt rund ein
Fünftel der Ankommenden aus dem Land. Nur vergleichsweise wenige davon, wie
Mujtaba, erreichen Griechenland über die Ägäis. Die meisten nutzen
Kaldenhoff zufolge die östliche Mittelmeerroute von Ostlibyen nach Kreta.
Dort registrierte der UNHCR 2025 fast 13.000 Menschen, also mehr als ein
Drittel aller Ankünfte landesweit. Griechenlands Regierung setzte daraufhin
im Juli das Recht auf Asyl für Menschen, die auf dem Seeweg aus Nordafrika
einreisen, für drei Monate aus.
Wieso es zu steigenden Ankunftszahlen in Kreta kommt, lässt sich nur
mutmaßen. Für Kaldenhoff liegt die Vermutung nahe, dass die hohe Aktivität
der libyschen Küstenwache im westlichen Landesteil Menschen auf der Flucht
zu neuen Routen zwinge. Statt direkter europäischer Pushbacks wendet die
EU-finanzierte libysche Küstenwache Pullbacks an, um Menschen von der
Überfahrt nach Europa abzuhalten: Boote Richtung Europa werden abgefangen
und zurück nach Libyen gebracht. Immer wieder berichten
Seenotrettungsschiffe, dass die Libyer Rettungsaktionen unterbrechen oder
verhindern.
Doch auch in Ostlibyen wird hart gegen sudanesische Migrant:innen
vorgegangen. So berichtete die Nachrichtenagentur AP im Juli, 700 Menschen
seien schutzlos zurück in das Kriegsland Sudan ausgeliefert worden. Für
Mehdi Ben Youssef von der NGO Lawyers for Justice in Libya schaffen die
Zahlungen aus Europa Anreize zu solcher Gewalt. „Die EU schließt Abkommen
mit bewaffneten Gruppen, die für die Rückführungen auf See zuständig sind.
Genau diese Gruppen sind auch in Schmuggel und Menschenhandel verwickelt.
Man unterstützt also nicht nur die Rückführungen, sondern auch den
Menschenhandel, weil alles in einem Geschäft miteinander verflochten ist“,
so Ben Youssef.
Dies erkläre, wieso es in Ostlibyen zugleich vermehrt zu Deportationen und
zur Entwicklung neuer Fluchtrouten über das Mittelmeer komme. „Bewaffnete
Gruppen sehen, dass Geld aus Europa fließt, wenn es einen Migrationsstrom
gibt. Es gibt also keinen Grund, warum sie nicht Teil des Geschäfts sein
sollten“, erklärt er.
Mazin im ostlibyschen Tobruk möchte nicht in ein Boot nach Europa steigen.
Er reist nach Tripolis, Libyens Hauptstadt im Westen, und registriert sich
beim UNHCR. Zunächst freut er sich über die respektvolle Behandlung dort
und hofft auf das UN-Umsiedlungsprogramm für besonders schutzbedürftige
Personen. Doch die Aussichten sind gering. Zwar gehört Sudan zu den wenigen
Staaten, dessen Bürger:innen sich überhaupt derzeit beim libyschen UNHCR
als geflüchtet registrieren können. Aber nur ein Bruchteil kann das auch in
Anspruch nehmen. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM)
befinden sich aktuell über 323.000 Menschen aus Sudan in Libyen.
Registriert sind laut UNHCR weniger als 82.000. Denn umgeben von
bewaffneten Gruppen und Konflikten, staatlichen und nichtstaatlichen
Inhaftierungsanstalten und Menschenhandel, schaffen es viele Menschen gar
nicht erst zum UNHCR. Und selbst wenn sie registriert sind, schützen die
erhaltenen Dokumente nicht vor Verfolgung durch libysche Akteure, Folter
und Verhaftung.
Fehlende Schutzmaßnahmen, unerreichbare Behörden – diese Erfahrung muss
auch Mazin machen. Nach seiner Registrierung passiert nichts mehr. Er
erhält keine Hilfe, und bei den zahlreichen Kontaktadressen erreicht er
über Wochen niemanden. Jurist Jürgen Schurr von Lawyers for Justice in
Libya schätzt die Chancen auf Umsiedlung durch den UNHCR als gering ein:
„Wenn man Libyen verlassen möchte, hat man entweder die Möglichkeit, mit
einem Boot zu fliehen, oder ‚freiwillig‘ in sein Herkunftsland
zurückzukehren. Eine Umsiedlung ist für die Mehrheit der Geflüchteten dort
keine realistische Option.“
Für Mazin ist aber auch eine „freiwillige“ Rückkehr nach Sudan derzeit
keine Option. Er ist sich über die Risiken, in Libyen zu bleiben, ebenso
bewusst wie über die Gefahr, die eine Überseeflucht mit sich bringt. Auf
beides könne er keine Rücksicht nehmen, erklärt er. Mit seinem derzeitigen
Job in der Ziegelfabrik kann er immerhin seine Familie in Ägypten
unterstützen. „Aber man weiß nie, wie sich die Dinge in Libyen entwickeln.
Es kann schnell eskalieren“, sagt er. Dann sei eine Bootsflucht womöglich
der einzige Ausweg.
Ende September kommt es zu mehreren solchen Eskalationen. Auf politische
Hassreden gegen migrantisierte Menschen in Libyen folgen gewaltsame
Übergriffe. Videos in den sozialen Medien zeigen Angriffe zivil gekleideter
Personen auf schwarze Personen auf Märkten und öffentlichen Plätzen.
[3][Parallel dazu starten die libyschen Behörden in mehreren Städten
Masseninhaftierungen. Hunderte von Sudanes:innen wurden verhaftet,
darunter etliche Frauen und Kinder, berichtet der sudanesische
Nachrichtensender Darfur24]. Mazin entgeht ihnen, doch ein Ende ist nicht
in Sicht.
Auch Mujtaba auf der griechischen Insel Leros steckt in einer Sackgasse.
Untergebracht ist er in einem sogenannten geschlossenen Kontrollzentrum
(CCAC) – abgelegen, streng überwacht und mit Stacheldraht gesichert.
Mujtaba bezeichnet den Zustand dort als nicht menschenwürdig. Toiletten und
Duschen seien defekt, die zwei Mahlzeiten am Tag reichten nicht aus, um
satt zu werden. Selbst kochen könne man nicht. Nicht mal Schneidemesser
dürften die Insassen besitzen, aus Angst, diese könnten als Waffe verwendet
werden. Beschwerden bei der Verwaltung bleiben wirkungslos. Eines Abends
wird er Zeuge, wie eine Frau mitten im Lager eine Fehlgeburt hat. Gerufene
Hilfe sei nicht gekommen. „Am Ende hatte sie ihre Geburt vor unseren Augen,
auf der Straße“, berichtet er. Erst danach sei der Krankenwagen
eingetroffen. Er hofft, Leros so schnell wie möglich verlassen zu können.
Die Geschichten von Mazin und Mujtaba stehen stellvertretend für eine nicht
enden wollende Flucht von Millionen von Menschen, nicht nur aus Sudan. Es
sind Geschichten ohne Ankommen, ohne Anerkennung. Auf der Suche nach
Frieden, nach einer Zukunft – und nach einem Ort der Menschlichkeit.
*Name von der Redaktion geändert
9 Oct 2025
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