| # taz.de -- Flucht aus Sudan: Nirgendwo Menschlichkeit | |
| > Mazin hatte ein Visum für Saudi-Arabien, Mujtabas Pass lag in der | |
| > deutschen Botschaft in Khartum. Dann brach Krieg aus. Geschichte zweier | |
| > Fluchten. | |
| Bild: Enttäuschte Hoffnung: Ein Demonstrant bei einem Protest gegen den Putsch… | |
| Siracusa taz | Für irgendetwas war es gut. Es hat mich stärker gemacht“, | |
| sagt Mazin*, nachdem er seine Geschichte fertig erzählt hat. Die Leitung | |
| rauscht, im Hintergrund bellen Hunde. Es ist fast Mitternacht, als wir über | |
| das Internet miteinander telefonieren. Erst jetzt ist er fertig mit seiner | |
| 12-Stunden-Schicht in der Ziegelfabrik in Libyens Hauptstadt Tripolis. Die | |
| Arbeit ist anstrengend, aber ermöglicht ihm, monatlich Geld an seine | |
| Familie in Ägyptens Hauptstadt Kairo zu senden. | |
| Mazin kommt aus [1][Sudan, wo seit zweieinhalb Jahren Krieg zwischen der | |
| Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) herrscht.] Nach | |
| UN-Angaben sind etwa 12 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als 4 | |
| Millionen von ihnen über die Landesgrenzen hinweg. | |
| Es gab eine Zeit, da hatte Mazin Hoffnung für sein Land. Er war Teil der | |
| Massenproteste, die im April 2019 [2][Langzeitdiktator Omar al-Bashir] | |
| stürzten. Beschwingt vom Geist des Neuanfangs, wollten die Menschen Sudans | |
| damals ihr Land demokratisch neu aufbauen. Der Staatsstreich von Armee und | |
| RSF gegen die zivile Übergangsregierung im Oktober 2021 zerstörte diesen | |
| Traum. Gehen wollte dennoch kaum einer. Entschlossen stellte sich die | |
| Zivilgesellschaft gegen den Putsch. Dann zerstritten sich die beiden | |
| mächtigsten Generäle des Landes, de facto Staats- und Armeechef Abdelfattah | |
| al-Burhan und sein Vize, RSF-Chef Dagalo. Es kam zum Krieg. | |
| Als der Krieg am 15. April 2023 in Khartum ausbricht, ist Mazin gerade | |
| dort. Seine Eltern und drei Geschwister befinden sich in ihrem Heimatort im | |
| Bundesstaat Gezira, etwa 200 Kilometer entfernt. Drei Tage lang harrt er | |
| allein in Khartum aus. Nachdem ein Schuss die Wand direkt neben ihm trifft, | |
| begibt er sich auf den Weg nach Saudi-Arabien, für das er kurz zuvor ein | |
| Arbeitsvisum erhalten hat. | |
| Für Mujtaba* ist die Flucht schwieriger. Als der Krieg ausbricht, liegt der | |
| Pass des heute 30-Jährigen gerade zur Bearbeitung seines | |
| Schengen-Visum-Antrags bei der Deutschen Botschaft in Khartum. Wie rund 600 | |
| weitere Betroffene verliert er ihn, als die Botschaft kurz darauf evakuiert | |
| wird. Mujtaba gehört zu den fünf Betroffenen, die einen Eilantrag beim | |
| Verwaltungsgericht Berlin stellen, um das Auswärtige Amt zur Herausgabe | |
| ihrer Dokumente zu verpflichten. Ihnen ist bewusst, dass eine physische | |
| Passrückgabe nach Evakuierung der Botschaft kaum noch möglich ist, doch | |
| hoffen sie auf eine Ersatzleistung, die eine Grenzpassage erlaubt. | |
| Die Hoffnung wird enttäuscht – nach fast drei Monaten teilt die zuständige | |
| Richterin dem Anwalt der Antragsstellenden, Alexander Gorski, mit, das | |
| Auswärtige Amt habe glaubhaft dargelegt, dass eine Passrückgabe nicht | |
| möglich sei, so Gorski. Für etwaige Ersatzleistungen sei das Amt nicht | |
| zuständig, weshalb die Richterin die Klage am nächsten Tag für verloren | |
| erklären würde. Für die Antragstellenden hätte dies bedeutet, die | |
| Gerichtskosten zu tragen. Also ziehen sie die Klage zurück. | |
| Mujtaba verbringt diese monatelange Wartezeit in seiner Heimat in Sennar, | |
| einem Bundesstaat im Südosten Sudans an der Grenze zu Äthiopien. Gekämpft | |
| wird dort noch nicht. Aber aufgrund seines Antikriegsaktivismus gerät der | |
| Ölingenieur ins Visier der Armee. Mujtaba flieht mit einem Notfallausweis | |
| nach Äthiopien. | |
| Dieses Dokument gilt jedoch nur für einen Monat und genehmigt bloß eine | |
| einzige Grenzüberquerung. Um sein Ziel Uganda zu erreichen, beantragt | |
| Mujtaba bei der Sudanesischen Botschaft in Addis Abeba einen weiteren | |
| Notfallausweis. „Weil ich mich nicht ausweisen konnte, haben sie zu mir | |
| gesagt ‚Du bist nicht aus Sudan!‘“, berichtet er. Am Ende erhält er das | |
| Dokument und reist nach Uganda. Dort erhält er endlich einen gültigen Pass | |
| und registriert sich als Geflüchteter beim UNHCR. | |
| Über ein Jahr bleibt er in Uganda. Doch im Sommer 2024 nehmen die RSF | |
| Sennar ein, seine Familie muss fliehen. Mujtaba muss Geld verdienen und | |
| seine Familie unterstützen. Uganda gilt als migrationsfreundlich. Es nimmt | |
| viele Geflüchtete auf, aber staatliche Hilfe erhalten diese nicht, | |
| berichten Betroffene. „Uganda ist ein sehr armes Land“, erklärt Mujtaba. | |
| „Es ist schwierig, Arbeit zu finden.“ Nach über einem Jahr ohne Arbeit | |
| entschließt er sich, abermals weiterzuziehen, und reist in die Türkei. | |
| Auch Mazin muss von Saudi-Arabien aus verfolgen, wie seine Familie in | |
| Gezira im Dezember 2023 vor der RSF flieht. Der Verdienst von Vater und | |
| Bruder fällt weg. Gleichzeitig hat der Krieg die Lebenshaltungskosten | |
| rasant in die Höhe getrieben. Eine Wohnung für die Familie anzumieten, | |
| kostet Mazin umgerechnet 500 Dollar im Monat – bei einem Gesamteinkommen | |
| von 650 Dollar. | |
| Nach einigen Wochen gelingt es ihm, seine Familie von der Flucht nach | |
| Ägypten zu überzeugen. Zwischen Ägypten und Sudan gilt eigentlich | |
| Visafreiheit. Aber Ägypten hat zu diesem Zeitpunkt die Grenze zum südlichen | |
| Nachbarn fast ganz geschlossen und Einreisevisa für Menschen aus Sudan hoch | |
| bepreist. Aus Alternativlosigkeit begibt sich Mazins Familie mit | |
| Schmugglern in die Wüste. | |
| Drei Tage lang hört Mazin nichts von ihnen. Er erinnert sich an die Qual | |
| des Wartens. Schlafen kann er nicht. Tagsüber arbeitet er in einem | |
| Warenlager, nachts durchsucht er Nachrichten und soziale Medien nach | |
| Neuigkeiten. Dazwischen betet er, weint und raucht viel. „Am dritten Tag | |
| brach ich zusammen“, erzählt er. „Ich war der Grund dafür, dass sie dort | |
| waren, weil ich nicht das Geld aufbringen konnte, sie in Sudan zu | |
| unterstützen.“ | |
| Am vierten Tag kommt der erleichternde Anruf: Die Familie ist wohlbehalten | |
| in Ägypten angekommen. Sie ziehen nach Kairo und melden sich beim UNHCR. | |
| Sechs Monate dauert es, bis sie ihre Registrierung als Geflüchtete | |
| erhalten. In dieser Zeit sind sie illegalisiert, können sich nicht | |
| ausweisen und könnten jederzeit festgenommen und abgeschoben werden. | |
| Zugleich nehmen in Ägypten staatliche Repression und antimigrantische | |
| Propaganda gegen sudanesische Geflüchtete zu. Die Berichte von Verhaftungen | |
| und Abschiebungen auch offiziell registrierter Geflüchteter häufen sich. | |
| Im Frühling 2025 verliert Mazin in Saudi-Arabien nach einem Streit mit | |
| seinem Vorgesetzten um Lohn seinen Job. Melden kann er den Vorfall nicht, | |
| weil der Job informell war. Als sein Visum kurze Zeit später abläuft, wird | |
| es daher nicht erneuert. Er muss das Land verlassen. Von Jeddah reist er | |
| zurück nach Sudan und von dort nach Ägypten – ebenfalls mit Schmugglern. | |
| Die Reise ist beschwerlich, doch letztlich schafft er es nach Kairo. Nach | |
| zwei Jahren sieht er endlich seine Familie wieder. | |
| „Wir haben so viel geweint“, erzählt er. „Für meine Familie war es, als | |
| würden sie einen Geist sehen.“ Seine Mutter bereitet ihm Frühstück vor, | |
| danach fällt Mazin in einen langen, festen Schlaf. „Es war das erste Mal in | |
| zwei Jahren, dass ich schlafen konnte, ohne ein Desaster zu befürchten“, | |
| erinnert er sich. | |
| Auch Mujtabas Aufenthalt in der Türkei ist von Visums- und Arbeitsproblemen | |
| geprägt. Für drei Monate arbeitet er in einer Fabrik in Istanbul. Das Geld | |
| reicht zum Leben, sogar etwas ansparen kann er. Dann endet sein Visum – und | |
| wird nicht erneuert. Jetzt trifft er die Entscheidung. Sein erspartes Geld | |
| gibt er Bekannten, die alles arrangieren. Dann reist er an die türkische | |
| Küste. | |
| Am 1. August 2025 steigt Mujtaba mit 34 anderen Personen, darunter zwei | |
| Kinder und drei schwangere Frauen, in ein Gummiboot. Gemeinsam überqueren | |
| sie das Ägäische Meer Richtung Westen. Am nächsten Morgen erreichen sie die | |
| griechische Insel Farmakonisi. 2014 ertranken hier bei einem ähnlichen | |
| Überquerungsversuch acht Kinder und drei Frauen, während sie sich im | |
| Schlepptau der griechischen Küstenwache befanden. Die Überlebenden hatten | |
| angegeben, von der Küstenwache zurück in Richtung Türkei geschleppt worden | |
| zu sein – ein illegaler „Pushback“. Die Vorwürfe solcher Pushbacks gegen | |
| Griechenland halten bis heute an. | |
| Für Mujtaba und seine Mitreisenden verläuft die Überfahrt glücklicherweise | |
| ohne größere Zwischenfälle. In Farmakonisi angekommen, werden sie von den | |
| griechischen Behörden auf die Insel Leros gebracht und als Geflüchtete | |
| registriert. | |
| Auch für Mazin in Ägypten wird schon kurz nach seiner Ankunft klar: Dort | |
| bleiben kann er nicht. Er fährt zum UNHCR, um sich als Geflüchteter zu | |
| registrieren. Nach sieben Stunden Wartezeit wird er zu einer Mitarbeiterin | |
| durchgelassen. Er erzählt ihr von seiner Reise, seinem politischen | |
| Aktivismus in seinem Heimatland und wie er dafür schon vor Kriegsbeginn | |
| verfolgt wurde. Die Mitarbeiterin unterbricht ihn und erklärt, dies sei nur | |
| das Erstgespräch für die Terminvergabe. Sein Registrierungstermin ist erst | |
| in sechs Monaten. | |
| Mazin widerspricht, wie er erzählt: „Ich sagte zu ihr: ‚Hören Sie, ich ka… | |
| nicht so lange warten. Ich bin der alleinige Versorger meiner Familie. Ich | |
| muss arbeiten. Geben Sie mir wenigstens ein Dokument, das bestätigt, dass | |
| ich auf die Registrierung warte.‘“ Noch während Mazin spricht, verlässt d… | |
| Mitarbeiterin den Raum. Ein Sicherheitsmitarbeiter gibt ihm zu verstehen, | |
| dass seine Audienz zu Ende ist. „Es war ein niederschmetternder, | |
| demütigender und absolut unmenschlicher Moment“, klagt er. | |
| In den Wochen danach findet Mazin keine Arbeit. Dann trifft auch er eine | |
| Entscheidung: Er ruft seine Familie zusammen und verkündet seine morgige | |
| Abreise. Von Kairo reist er in die Küstenstadt Marsa Matruh. Für Ägypter | |
| ist es ein Urlaubsort, bekannt für seine schönen Lagunen und Sandstrände. | |
| Für Mazin ist es der Ort, an dem er sich erneut in die Hände von | |
| Schmugglern begibt. 30 Personen fahren an einen ihm unbekannten Ort in die | |
| Wüste. Von da geht es zu Fuß weiter. Nach einem Tag Wanderung erreichen sie | |
| den Grenzübergang nach Libyen. Hier kommen sie mit anderen Gruppen | |
| zusammen. | |
| 250 Personen sind sie nun, darunter auch Frauen und Kinder. Das Verhalten | |
| der Schmuggler ändert sich: Sie werden aggressiver, holen Stöcke heraus und | |
| schlagen damit auf Aufsässige ein. Mazin erinnert sich an die Worte der | |
| Schmuggler: „Von hier an wird nicht mehr gegangen, nur noch gerannt. | |
| Zurückfallen ist keine Option. Wer denkt, es nicht zu schaffen, sollte | |
| lieber gleich hierbleiben – vielleicht überlebt ihr es.“ Dann rennen sie | |
| los. Die anderen hinterher. Wer taumelt oder anhält, erhält Stockschläge | |
| auf den Rücken. | |
| Irgendwann gehen die Blendgranaten los, über die die Schmuggler sie zuvor | |
| informiert hatten. Diese sogenannten nichttödlichen Sprengsätze machen | |
| durch extremen Lichtblitz und Knall kurzzeitig orientierungslos. Nach einer | |
| Weile halten die Schmuggler an. Mazin berichtet: „Ich hörte einen von ihnen | |
| sagen ‚Jetzt kommt das Minenfeld. Oh Gott.‘“ Sie stellen sich | |
| hintereinander in einer Reihe auf und schreiten vorsichtig voran. Am | |
| Horizont erscheinen die Lichter einer Stadt. Endlich sind sie in Libyen. | |
| Ein letztes Mal wird die Gruppe angehalten, für „den Teil mit dem Raub“, | |
| sagt Mazin. Dass man am Ende sein gesamtes Hab und Gut den Schmugglern | |
| übergeben muss, hatte er vorher schon gehört. „Sie haben alles genommen“, | |
| erzählt er. „Es blieb niemandem auch nur ein einziger Cent in der Tasche.“ | |
| Die Verbliebenen werden nach Tobruk gebracht, einer Hafenstadt im Osten | |
| Libyens. Dort werden sie entlassen. Wieder ist Mazin auf sich allein | |
| gestellt, wieder in einem Kriegsland. Im Osten Libyens herrscht General | |
| Khalifa Haftar, der seit 2014 gegen die international anerkannte libysche | |
| Regierung im Westen des Landes kämpft. | |
| Die Zahl sudanesischer Flüchtender, die sich von Libyen auf den Weg über | |
| das Mittelmeer nach Europa begeben, steigt. Anfang September sanken hier | |
| kurz vor der Küste zwei Boote mit sudanesischen Geflüchteten. Mindestens | |
| 111 Menschen kamen dabei ums Leben. | |
| „Insgesamt sehen wir dieses Jahr einen Anstieg von knapp 20 Prozent in der | |
| ersten Jahreshälfte auf der zentralen Mittelmeerroute“, sagt Lukas | |
| Kaldenhoff von der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS Humanity der taz. | |
| Die zentrale Mittelmeerroute beschreibt die Überseepassage von Libyen nach | |
| Italien oder seltener nach Malta. Seit der Jahresmitte steigt diese Zahl | |
| noch stärker an: „Wenn man sich die letzten zwei Monate anschaut, sieht | |
| man, dass genauso viele Menschen aus dem Sudan geflohen sind wie in der | |
| gesamten ersten Jahreshälfte“, sagt Kaldenhoff. | |
| Werden also immer mehr Sudanes:innen künftig die Flucht über das | |
| Mittelmeer antreten? Darüber wagt Kaldenhoff keine Prognose zu stellen. | |
| Zeitlich verzögerte Migration nach Konfliktausbruch sei allerdings kein | |
| neues Phänomen, da es eine Weile bräuchte, bis sich Fluchtrouten | |
| etablierten und sich das Wissen um sie verbreite. | |
| Auch in Griechenland steigen die Ankunftszahlen von Menschen aus Sudan | |
| deutlich. In den vergangenen Jahren spielten sudanesische Staatsangehörige | |
| laut Kaldenhoff statistisch kaum eine Rolle. Inzwischen stammt rund ein | |
| Fünftel der Ankommenden aus dem Land. Nur vergleichsweise wenige davon, wie | |
| Mujtaba, erreichen Griechenland über die Ägäis. Die meisten nutzen | |
| Kaldenhoff zufolge die östliche Mittelmeerroute von Ostlibyen nach Kreta. | |
| Dort registrierte der UNHCR 2025 fast 13.000 Menschen, also mehr als ein | |
| Drittel aller Ankünfte landesweit. Griechenlands Regierung setzte daraufhin | |
| im Juli das Recht auf Asyl für Menschen, die auf dem Seeweg aus Nordafrika | |
| einreisen, für drei Monate aus. | |
| Wieso es zu steigenden Ankunftszahlen in Kreta kommt, lässt sich nur | |
| mutmaßen. Für Kaldenhoff liegt die Vermutung nahe, dass die hohe Aktivität | |
| der libyschen Küstenwache im westlichen Landesteil Menschen auf der Flucht | |
| zu neuen Routen zwinge. Statt direkter europäischer Pushbacks wendet die | |
| EU-finanzierte libysche Küstenwache Pullbacks an, um Menschen von der | |
| Überfahrt nach Europa abzuhalten: Boote Richtung Europa werden abgefangen | |
| und zurück nach Libyen gebracht. Immer wieder berichten | |
| Seenotrettungsschiffe, dass die Libyer Rettungsaktionen unterbrechen oder | |
| verhindern. | |
| Doch auch in Ostlibyen wird hart gegen sudanesische Migrant:innen | |
| vorgegangen. So berichtete die Nachrichtenagentur AP im Juli, 700 Menschen | |
| seien schutzlos zurück in das Kriegsland Sudan ausgeliefert worden. Für | |
| Mehdi Ben Youssef von der NGO Lawyers for Justice in Libya schaffen die | |
| Zahlungen aus Europa Anreize zu solcher Gewalt. „Die EU schließt Abkommen | |
| mit bewaffneten Gruppen, die für die Rückführungen auf See zuständig sind. | |
| Genau diese Gruppen sind auch in Schmuggel und Menschenhandel verwickelt. | |
| Man unterstützt also nicht nur die Rückführungen, sondern auch den | |
| Menschenhandel, weil alles in einem Geschäft miteinander verflochten ist“, | |
| so Ben Youssef. | |
| Dies erkläre, wieso es in Ostlibyen zugleich vermehrt zu Deportationen und | |
| zur Entwicklung neuer Fluchtrouten über das Mittelmeer komme. „Bewaffnete | |
| Gruppen sehen, dass Geld aus Europa fließt, wenn es einen Migrationsstrom | |
| gibt. Es gibt also keinen Grund, warum sie nicht Teil des Geschäfts sein | |
| sollten“, erklärt er. | |
| Mazin im ostlibyschen Tobruk möchte nicht in ein Boot nach Europa steigen. | |
| Er reist nach Tripolis, Libyens Hauptstadt im Westen, und registriert sich | |
| beim UNHCR. Zunächst freut er sich über die respektvolle Behandlung dort | |
| und hofft auf das UN-Umsiedlungsprogramm für besonders schutzbedürftige | |
| Personen. Doch die Aussichten sind gering. Zwar gehört Sudan zu den wenigen | |
| Staaten, dessen Bürger:innen sich überhaupt derzeit beim libyschen UNHCR | |
| als geflüchtet registrieren können. Aber nur ein Bruchteil kann das auch in | |
| Anspruch nehmen. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) | |
| befinden sich aktuell über 323.000 Menschen aus Sudan in Libyen. | |
| Registriert sind laut UNHCR weniger als 82.000. Denn umgeben von | |
| bewaffneten Gruppen und Konflikten, staatlichen und nichtstaatlichen | |
| Inhaftierungsanstalten und Menschenhandel, schaffen es viele Menschen gar | |
| nicht erst zum UNHCR. Und selbst wenn sie registriert sind, schützen die | |
| erhaltenen Dokumente nicht vor Verfolgung durch libysche Akteure, Folter | |
| und Verhaftung. | |
| Fehlende Schutzmaßnahmen, unerreichbare Behörden – diese Erfahrung muss | |
| auch Mazin machen. Nach seiner Registrierung passiert nichts mehr. Er | |
| erhält keine Hilfe, und bei den zahlreichen Kontaktadressen erreicht er | |
| über Wochen niemanden. Jurist Jürgen Schurr von Lawyers for Justice in | |
| Libya schätzt die Chancen auf Umsiedlung durch den UNHCR als gering ein: | |
| „Wenn man Libyen verlassen möchte, hat man entweder die Möglichkeit, mit | |
| einem Boot zu fliehen, oder ‚freiwillig‘ in sein Herkunftsland | |
| zurückzukehren. Eine Umsiedlung ist für die Mehrheit der Geflüchteten dort | |
| keine realistische Option.“ | |
| Für Mazin ist aber auch eine „freiwillige“ Rückkehr nach Sudan derzeit | |
| keine Option. Er ist sich über die Risiken, in Libyen zu bleiben, ebenso | |
| bewusst wie über die Gefahr, die eine Überseeflucht mit sich bringt. Auf | |
| beides könne er keine Rücksicht nehmen, erklärt er. Mit seinem derzeitigen | |
| Job in der Ziegelfabrik kann er immerhin seine Familie in Ägypten | |
| unterstützen. „Aber man weiß nie, wie sich die Dinge in Libyen entwickeln. | |
| Es kann schnell eskalieren“, sagt er. Dann sei eine Bootsflucht womöglich | |
| der einzige Ausweg. | |
| Ende September kommt es zu mehreren solchen Eskalationen. Auf politische | |
| Hassreden gegen migrantisierte Menschen in Libyen folgen gewaltsame | |
| Übergriffe. Videos in den sozialen Medien zeigen Angriffe zivil gekleideter | |
| Personen auf schwarze Personen auf Märkten und öffentlichen Plätzen. | |
| [3][Parallel dazu starten die libyschen Behörden in mehreren Städten | |
| Masseninhaftierungen. Hunderte von Sudanes:innen wurden verhaftet, | |
| darunter etliche Frauen und Kinder, berichtet der sudanesische | |
| Nachrichtensender Darfur24]. Mazin entgeht ihnen, doch ein Ende ist nicht | |
| in Sicht. | |
| Auch Mujtaba auf der griechischen Insel Leros steckt in einer Sackgasse. | |
| Untergebracht ist er in einem sogenannten geschlossenen Kontrollzentrum | |
| (CCAC) – abgelegen, streng überwacht und mit Stacheldraht gesichert. | |
| Mujtaba bezeichnet den Zustand dort als nicht menschenwürdig. Toiletten und | |
| Duschen seien defekt, die zwei Mahlzeiten am Tag reichten nicht aus, um | |
| satt zu werden. Selbst kochen könne man nicht. Nicht mal Schneidemesser | |
| dürften die Insassen besitzen, aus Angst, diese könnten als Waffe verwendet | |
| werden. Beschwerden bei der Verwaltung bleiben wirkungslos. Eines Abends | |
| wird er Zeuge, wie eine Frau mitten im Lager eine Fehlgeburt hat. Gerufene | |
| Hilfe sei nicht gekommen. „Am Ende hatte sie ihre Geburt vor unseren Augen, | |
| auf der Straße“, berichtet er. Erst danach sei der Krankenwagen | |
| eingetroffen. Er hofft, Leros so schnell wie möglich verlassen zu können. | |
| Die Geschichten von Mazin und Mujtaba stehen stellvertretend für eine nicht | |
| enden wollende Flucht von Millionen von Menschen, nicht nur aus Sudan. Es | |
| sind Geschichten ohne Ankommen, ohne Anerkennung. Auf der Suche nach | |
| Frieden, nach einer Zukunft – und nach einem Ort der Menschlichkeit. | |
| *Name von der Redaktion geändert | |
| 9 Oct 2025 | |
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