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# taz.de -- 7. Oktober und Krieg in Gaza: Rückkehr nach Gaza-Stadt
> Die Familie al-Sourani ist siebenmal innerhalb Gazas vertrieben worden.
> Wie fühlt es sich an, alles zurückzulassen, immer wieder?
Bild: Hauptsache, zusammenbleiben – das hat die Familie bisher geschafft
Es ist Mitte August, als inmitten einer der vielen sommerlichen Hitzewellen
über Gaza-Stadt Zettel vom Himmel flattern. Vor der stechenden Sonne und um
den Hunger weniger zu spüren, ziehen sich viele Bewohner in der größten
Stadt des Gazastreifens tagsüber in ihre Wohnungen zurück. Der auf den
Zetteln verkündete Evakuierungsbefehl wegen der verstärkten Luftschläge der
israelischen Armee kommt noch mal per SMS: „Verlassen Sie umgehend die
Stadt in Richtung Süden“.
Akram al-Sourani schaut gerade aus dem Fenster seines Wohnzimmers, ein
Lieblingsplatz von ihm, als sein Sohn mit dem Evakuierungsbefehl die Treppe
hochrennt. Die Familie ist da gerade erst seit wenigen Wochen wieder zurück
in der Wohnung, in der der 45-jährige Familienvater schon sein ganzes Leben
verbracht hat. „Wir sind seit Oktober 2023 sieben Mal geflohen“, sagt er.
Endlich wieder zu Hause zu sein, zwischen glücklicheren Erinnerungen, auch
wenn die Familie kaum etwas zu essen hat.
In den sozialen Medien kursierten zu dem Zeitpunkt schon länger
Befürchtungen, dass Israel eine Offensive auf Gaza-Stadt plant. Mitte
September schließlich [1][rückt das israelische Militär in einer
Bodenoffensive auch mit Panzern] auf Gaza-Stadt vor.
„Wir wissen von all den anderen Orten, an denen wir in den letzten zwei
Jahren gelebt haben, was das Wort Evakuierung tatsächlich bedeutet: Staub
und Asche“, sagt al-Sourani. An diesem Nachmittag im August habe der
Abschied von vertrauten Möbeln, von Gerüchen, von der Bibliothek seines
Vaters begonnen, „in der ich die Sommernächte meiner Kindheit vor Büchern
verbrachte“. Der emotionale Abschied von diesen Erinnerungen, sagt der
Schriftsteller, das sei das Schwerste gewesen. Schwerer auszuhalten als die
ständige Angst vor den Bomben aus der Luft.
Abschied nehmen sei für seine Familie im August 2025 zwar schon nichts
Neues mehr gewesen, sagt al-Sourani. Aber dieses Mal sei es ihm so
vorgekommen, als packe seine Frau Amani nicht nur Habseligkeiten zusammen,
sondern als bereite sie eine Beerdigung vor, eine Trauerfeier für ihr
Zuhause.
Khaled, der älteste Sohn, habe sie aber immer angetrieben: „Papa, Mama,
beeilt euch. Steht nicht herum.“
In diesen Augusttagen fielen, nur wenige hundert Meter vom Haus der
al-Soulanis entfernt, bereits fast täglich 20-stöckige Gebäude wie
Kartenhäuser zusammen. Oft hatten die Bewohner nur Minuten Zeit, um zu
fliehen. Kartons mit Fotos und persönlichen Dingen flogen aus den Fenstern,
viele flohen mit dem, was sie am Leibe trugen, sagt Khaled.
Im Gazastreifen leben rund 2 Millionen Menschen, fast alle von ihnen –
[2][das Palästinenserhilfswerk UNRWA schätzt: 90 Prozent] – sind mehrfach
vertrieben worden. Die taz hält seit vergangenem Jahr Kontakt zur Familie
al-Sourani, immer wieder gibt es die Chance zu telefonieren und Nachrichten
auszutauschen. Ihr Schicksal steht für eines von vielen Familien im
Gazastreifen. Für diesen Text haben Akram und Amani al-Sourani, die
momentan in Deir el-Balah leben, noch mal rekapituliert, wie sie die
Vertreibungen und ihre – im Frühjahr 2025 nur vorläufige – Rückkehr nach
Gaza-Stadt erlebt haben.
Auch über die Nachbarwohnungen habe sich im August 2025 eine nie da
gewesene Stille gelegt, sagt Akram al-Soulani. Im Treppenhaus, wo Amani und
Akram so oft ein Schwätzchen hielten, die Kinder und das Leben tobten,
wurde es leer. Er habe in dieser Woche vor der Fluch erlebt, dass Momente
der Freude sich gleichzeitig wie Trauer anfühlen können und Lachen wie
Weinen sein kann, sagt Akram al Sourani. Dass er nur wenige der von ihm und
seinem Vater gesammelten Bücher mitnehmen konnte, das macht dem 44-Jährigen
besonders zu schaffen.
Schließlich, als an einem Tag wieder besonders viele Bomben im Osten der
Stadt fielen, trommelte Amani den 16-jährigen Khaled, seine 12-jährige
Schwester Carmen und Akram zu einem Abschiedsspaziergang durch die Wohnung
zusammen. Danach fuhren die vier mit dem voll gepackten Auto nach Süden.
„All die Wohnungen in unserem Haus waren wie einzugsbereit. Es fühlte sich
absurd an, sie zurückzulassen“, sagt Akram.
Es war die richtige Entscheidung: Tage später schlugen Bomben in das weiß
getünchte Haus ein. Mehr als 800.000 Menschen haben Gaza-Stadt mittlerweile
verlassen, viele waren als Flüchtlinge in die bisher letzte bewohnbare
Stadt im Gazastreifen gekommen. Wohin sie jetzt gehen sollen, wissen nur
wenige.
Amani und Akram al-Sourani hatten Glück. Zusammen mit den Familien von
Akrams Bruder und Schwester mieten sie in Deir el-Balah, weiter im Süden
des Gazastreifens, ein altes Haus. „Wir sind nun eine 28-köpfige Familie
auf wenige Räume verteilt, im Alter zwischen 3 und 90 Jahren“, sagt Akram.
Jetzt wäre es eigentlich schön, sagt er, wenn er noch die Bücher aus der
Bibliothek hätte, zum Vorlesen für die Kinder.
Seit 500 Tagen dauert die Odyssee der Familie nun an: [3][am 7. Oktober
2023 überfiel die Hamas Israel, tötete rund 1.200 Menschen brutal, nahm
Geiseln]. Israel reagierte, F-16-Kampfflugeuge erschienen plötzlich am
Himmel von Gaza-Stadt, scheinbar ziellos fielen Bomben. „Wir riefen in
Panik unser kleines Familienkabinett zusammen“, sagt Amani, „und
entschieden, zusammen mit unseren Kindern die Stadt zu verlassen.“
Mit innerhalb von wenigen Stunden zusammengepackten Koffern fuhren sie ohne
jeglichen Plan nach Chan Junis, wo ein Verwandter eine Einzimmerwohnung
vermietete. Auch dort fielen Bomben, es folgten viele Monate in den
Zeltstädten von Chan Junis, Rafah, Al-Mawasi, Al-Zawaida und Deir al-Balah.
„Ich bin seit dem Leben in den Zelten nicht mehr die gleiche Person“, sagte
Amani im September 2024 am Telefon, hörbar erschöpft. „Neben dem quälenden
Hunger ist die fehlende Privatsphäre so entwürdigend, dass man sich selbst
verliert.“
Der Weg zurück nach Gaza-Stadt war im Frühjahr 2025 gefährlicher als bei
ihrer Flucht von dort im Oktober 2023. Doch keiner der vier hält das Leben
in den Zelten mehr aus. Und auch in dem von der israelischen Armee zur
sicheren Zone erklärten Flüchtlingslager bei Deir al-Balah im zentralen
Gazastreifen fallen Bomben. Akram al-Sourani hat jeden Moment der
beschwerlichen ihrer bis dahin sechs Reisen quer durch die Trümmer des
Gazastreifens noch vor Augen. Dennoch entscheidet sich das Familienkabinett
dafür, nach Gaza-Stadt zurückzugehen, koste es, was es wolle.
Akram al-Sourani erzählt, wie er mit einem Freund, der ein Auto hat,
vereinbart habe, dass der die Familie frühmorgens abholen und ein Stück mit
dem Auto fahren würde. 50 Schekel, „der Preis für zwei Kilo Kochgas“,
kostete sie die Fahrt. Aber der Freund, sagt al-Sourani, hätte sie auch
umsonst gefahren.
„Wir hatten während der Familienbesprechung vereinbart, nicht mehr als vier
Wasserflaschen und vier Taschen zu tragen – nichts mehr“, sagt al-Sourani.
„Wir würden uns beim Tragen abwechseln und uns ausruhen. Wir begannen, am
Meer entlangzuspazieren und Fotos zu machen.“ Das Wetter, sagt er, sei
atemberaubend gewesen – „einfach traumhaft“. Eine kühle Brise habe geweh…
„aber auf angenehme Weise, und die Sonne lugte gerade über den Horizont“.
Fassungslos hätten sie sich gefühlt, sagt al-Sourani, „und um ehrlich zu
sein, vielleicht auch ein bisschen verrückt. Wir konnten nicht glauben,
dass wir nach Hause gingen – in unser Haus in Gaza“. Eine diffuse, sehr
merkwürdige Gefühlslage sei das im Frühjahr gewesen. Nicht mal der Gestank
der Abwässerkanäle habe sie besonders stören können.
Dann die Fahrt mit dem Tuktuk – obwohl der Freund mit dem Auto sie doch so
gewarnt hatte: al-Sourani erzählt, wie sie – weiter auf ihrem Weg nach
Gaza-Stadt hinein – die Frau und die drei Mädchen bemerken, die mit einem
Tuktuk-Fahrer über den Fahrpreis verhandeln. „Für einen Moment vergaßen
wir, was Abu Firas, der Freund, uns gesagt hatte: „Wagt es ja nicht, in ein
Tuktuk zu steigen. Man sagt, es gäbe Karren und Tuktuks, aber die sind
gefährlich – sie könnten auf der Küstenstraße angefahren werden!“
Auch ein anderer Freund habe dazu in einem nächtlichen Telefonat geraten:
„Geht zu Fuß, und wenn es ganz schlimm kommt, nehmt einen Eselskarren.“
Doch die al-Souranis landen schließlich mit der Frauen und den drei Mädchen
im Tuktuk: „Wollt ihr euch eine Fahrt teilen?“, habe die Frau gefragt. Der
Fahrer ließ sich dann noch auf 150 Schekel, etwa 36 Euro, herunterhandeln.
Und da warfen die al-Souranis ihre Taschen aufs Gefährt. „Vielleicht waren
wir wirklich ein bisschen verrückt geworden“, sagt Akram al-Soulani.
Das Tuktuk habe sich in Bewegung – es habe geschwankt wie ein Boot auf den
Wellen des Ozeans. „Wir baten den Fahrer, langsamer zu fahren, aus Angst,
in den Schlamm zu fallen“, sagt al-Soulani. Der habe gelacht und gesagt:
„Ihr habt recht – es wäre eine Schande, wenn nach anderthalb Jahren Krieg
und Bombardierungen die Leute sagen würden, sie seien bei einem
Tuktuk-Unfall ums Leben gekommen!“
Auf dem Tuktuk stellen die Familien fest: Sie kennen sich, dokumentieren
die Wiedersehensfreude mit ihren Handys. Und auch die völlig zerstörte
Stadt, die skelettartigen Überreste von Gebäuden und Türmen – eine Szenerie
von Verwüstung und Zerstörung.
An einer Kreuzung steigen die al-Souranis aus, der Tuktuk-Fahrers habe
ihnen noch seine Nummer gegeben, und gerufen, man solle nur niemandem
erzählen, er lasse sich auf 150 Schekel runterhandeln, erzählt al-Sourani.
Die weitere Odyssee nach Hause verlief dann so: „Wir schulterten wieder
unsere Taschen. Ich begann, Passanten nach dem einfachsten Weg zu unserem
Zuhause zu fragen. Ich entdeckte ein ramponiertes Auto. Ich ging zum
Fahrerfenster: Fahren Sie los?, habe ich gefragt“, erzählt al-Sourani. Für
130 Schekel fährt der Mann sie die letzte Etappe.
„Als hätte jemand es in Eile zerkaut“, so habe ihr altes Viertel
ausgesehen, sagt al-Sourani. Als sie dann vor ihrem Haus standen, seien sie
„wie erstarrt“ gewesen. Geweint hätten sie auch, und in die Luft gesprungen
seien sie. „Wir betraten und durchquerten das Haus, als würden wir es zum
ersten Mal entdecken – als wäre es ein Museum“, sagt al-Sourani. „Wir
berührten alles. Wir öffneten jeden Schrank, jede Schublade. Und
schließlich schliefen wir – nach 500 Tagen – in einem richtigen Bett.“
## „Wir haben uns selbst verloren“
Nach der erneuten Flucht aus Gaza-Stadt im August hat Akram al-Sourani
aufgehört zu schreiben. „Der Tag vergeht mit therapeutischen Gesprächen und
dem Organisieren von Lebensmitteln“, sagt er. Auch ich benötige eine
Therapie. Ich habe viele Freunde verloren, wir haben viele Nachbarn
verloren, wir haben uns selbst verloren. Wir sind nicht mehr wir selbst.
Und jeden Tag suche ich nach meinem alten Ich und finde es nicht.“
Amani sagt, es seien die Kinder, die sie und Akram stützen, nicht
andersherum. Khaled lernt per Online-Tutorials Programmieren und will
später Informatiker werden, Carmen fasst ihren Alltag in Zeichnungen, sie
möchte an der Universität von Gaza-Stadt Kunst studieren. „Wenn diese wie
unser Haus in Trümmern liegt, dann studiere ich eben in einem Zelt davor.“
7 Oct 2025
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/gaza-stadt-berichte-bodenoffensive-100.ht…
[2] https://www.spiegel.de/ausland/gaza-laut-uno-hilfswerk-unrwa-hunderttausend…
[3] /Ein-Jahr-7-Oktober/!6038103
## AUTOREN
Mirco Keilberth
Abed Quisini
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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ECCHR.
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