| # taz.de -- Dokumentarfilm „A Letter to David“: Ist Hoffnung eine Pflicht? | |
| > „A Letter to David“ von Tom Shoval widmet sich dem von der Hamas | |
| > entführten Schauspieler David Cunio. Der Film vereint ihn fiktiv mit | |
| > seinem Bruder. | |
| Bild: Nur mit filmischen Mitteln vereinte Brüder: Eitan Cunio und David Cunio … | |
| Sowohl die Hoffnung als auch die Hoffnungslosigkeit sind Gefühlszustände, | |
| gegen die man sich nur schwer wappnen kann. Die Gefahr allzu großer | |
| Hoffnung besteht immer darin, schwer enttäuscht zu werden, die der | |
| Hoffnungslosigkeit, den Defätismus handlungsleitend werden zu lassen und | |
| negative Ergebnisse überhaupt erst zu produzieren. | |
| [1][Tom Shovals Dokumentarfilm „A Letter to David“, der die Entführung des | |
| israelischen Schauspielers David Cunio durch die Hamas am 7. Oktober 2023 | |
| zum Gegenstand hat], setzt eine filmische Geste zentral, die so mancher | |
| ernüchterte Beobachter des Nahostkonfliktes hoffnungslos naiv finden mag, | |
| andere werden sie als notwendiges Zeichen lesen, niemals aufgeben zu | |
| dürfen: Es ist die – fiktive – Umarmung zweier Brüder, die sich zwei Jahre | |
| nach dem 7. Oktober und nach der Entführung des einen wiedersehen und sich | |
| endlich wieder in den Armen halten dürfen. | |
| Die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio wurden voneinander getrennt, | |
| [2][als die Hamas ihren Heimat-Kibbuz Nir Oz überfiel], eine der | |
| israelischen Gemeinden im Süden des Landes, die am schwersten von dem | |
| Überfall der Terrororganisation betroffen war. Zuschauer erleben Eitan | |
| Cunio in den Trümmern seines ehemaligen Zuhauses. | |
| Ihm und seiner Familie war es wie durch ein Wunder gelungen, den | |
| entschlossenen islamistischen Killern zu entgehen. Diese hatten im Haus | |
| systematisch Feuer entfacht, um Eitan, seine Frau und die beiden Töchter zu | |
| ermorden. Die Familie überlebte den benzingetriebenen Brand im verstärkten | |
| Schutzraum des Hauses, der gleichzeitig – wie so oft in den Gemeinden des | |
| Südens – als Kinderzimmer dient. | |
| „A Letter to David“ verzichtet darauf, die Grauensbilder vom 7. Oktober, | |
| die ja stets auch Täterbilder sind, direkt zu zeigen und zu reproduzieren. | |
| Zuschauer erleben den Tag vielmehr vermittelt durch die Zeugnisse Eitans | |
| und der Eltern der Zwillinge. Die Worte des Familienvaters, der, wie er | |
| berichtet, eingehüllt in dichten Rauch von seinen Töchtern Abschied nimmt, | |
| hallen lange nach. Ebenso Bilder der Eltern, die auf dem Balkon ihrer neuen | |
| Wohnung – einem Betonbau im Kontrast zum idyllischen grünen Kibbuz –, | |
| stehen und rauchen. Die beiden Rentner haben sich nach der Entführung ihrer | |
| Söhne das Laster erneut angewöhnt. | |
| ## Ein letztes Lebenszeichen im Februar | |
| Neben David wurde auch der jüngste Sohn der Familie, Ariel Cunio, von der | |
| Hamas entführt. Von David erhielt die Familie zuletzt im Februar 2025 ein | |
| Lebenszeichen, als eine freigelassene Geisel entsprechende Informationen | |
| teilte. Durch die aktuellen Geschehnisse im Rahmen des Trump-Friedensplans | |
| scheint eine Freilassung der schätzungsweise noch 20 lebenden Geiseln | |
| greifbarer als zu irgendeinem Zeitpunkt des seit dem 7. Oktober 2023 | |
| andauernden Gazakrieges zwischen Israel und der Hamas, der entsetzliche | |
| Opferzahlen auf palästinensischer Seite brachte. Ob David und Ariel Cunio | |
| am Leben sind, ist ungewiss. | |
| Regisseur Tom Shoval inszeniert „A Letter to David“ als „cinematic letter… | |
| einen filmischen Brief an den fehlenden David Cunio, der an der Seite von | |
| Eitan Hauptdarsteller seines 2013 bei der Berlinale uraufgeführten | |
| Spielfilms „Youth“ war. Dieser Vorgängerfilm handelt von zwei Brüdern aus | |
| einer finanziell angeschlagenen Familie, die ein Mädchen entführen, um | |
| Lösegeld zu erpressen. Dabei geraten die Brüder in eine Spirale aus Druck, | |
| Angst und moralischen Konflikten. Durch die Entführungsthematik steht der | |
| Film in einem unheimlichen Näheverhältnis zu den Ereignissen, welche die | |
| Darsteller in der Wirklichkeit heimsuchten. | |
| In die äußerst gelungene aktuelle Doku mischen sich Aufnahmen des | |
| Spielfilms, eine Arbeit, die sich durch die Wirklichkeit verändert hat. | |
| „Der Film wurde von der Realität entführt“, hält Regisseur Shoval fest. … | |
| „A Letter to David“ kreiert er eine Form, die über klassische | |
| dokumentarische Chronologie hinausweist und in essayistischer Struktur | |
| Reflexion, Brüche, Assoziationen zulässt. Shoval kontrastiert | |
| Archivmaterial – Hinter-den-Kulissen-Aufnahmen, Casting-Szenen aus „Youth�… | |
| Making-of- und Privataufnahmen der Brüder, die ihre Liebe zum Kino | |
| verbindet – mit aktuellen Bildern, was eine eindringliche Resonanz erzeugt. | |
| ## Archivaufnahmen von gespenstischer Qualität | |
| Vermeintlich unbeschwerte Bilder kontrastieren mit Eindrücken der | |
| Zerstörung, physisch im Kibbuz sowie in den Seelen der Angehörigen. Manche | |
| der Archivaufnahmen haben eine beinahe gespenstische Qualität. Sie zeigen | |
| im Kibbuz Nir Oz – ein Ort, der die Utopie bereits im Namen trägt, blühende | |
| Gärten. | |
| Und doch war die Gemeinde auch in dieser Zeit bereits ein Ort „am Rande | |
| eines Vulkans“. Dieser wird in einigen Szenen im Hintergrund metaphorisch | |
| deutlich – in Form der Häuser-Silhouette des Gazastreifens. „Du bist zwei | |
| Kilometer und doch Lichtjahre entfernt von hier“, sagt Eitan an den | |
| abwesenden Bruder gerichtet. | |
| Wie auch immer sich die Ereignisse der aktuell im Kontext der durch die | |
| US-Regierung dirigierten Friedensverhandlungen entwickeln mögen, „A Letter | |
| to David“ ist bereits jetzt ein zeithistorisch bedeutendes filmisches | |
| Dokument, das die Frage aufwirft, ob unter gewissen Umständen nicht gar | |
| eine Pflicht zur Hoffnung besteht. Ob von der Wirklichkeit eingelöst oder | |
| nicht, das Bild der sich bei ihrem Wiedersehen umarmenden Brüder wird | |
| symbolisch fortbestehen. | |
| 7 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Tom-Shovals-A-Letter-to-David/!6066603 | |
| [2] /Muenchner-Sicherheitskonferenz/!6070759 | |
| ## AUTOREN | |
| Chris Schinke | |
| ## TAGS | |
| Dokumentarfilm | |
| 7. Oktober 2023 | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Geisel | |
| Geiselnahme | |
| Kibbuz | |
| Social-Auswahl | |
| Gaza | |
| Antisemitismus | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Israelischer Film „Yes“: Selbst das Ja ist orientierungslos | |
| Der Krieg als Panoramaspektakel: Nadav Lapid wirft in seinem Satirefilm | |
| „Yes“ einen fatalistischen Blick auf die israelische Gesellschaft nach dem | |
| 7. Oktober. | |
| Warum feiern Progressive den 7. Oktober?: Wenn Hass zur Tugend wird | |
| Manche Progressive feierten das Massaker vom 7. Oktober. Warum? Eva Illouz | |
| und Adam Kirsch versuchen in ihren Büchern Antworten zu geben. | |
| Von der Hamas entführt und ungebrochen: Yotam Haim trommelte auch im Hamas-Tun… | |
| Tuval Haim erzählt die Geschichte seines Bruders Yotam. Der Drummer der | |
| Band Persephore wurde am 7. Oktober von der Hamas nach Gaza entführt. | |
| Tom Shovals „A Letter to David“: Eine Person geteilt in zwei | |
| Beeindruckend erzählt Tom Shoval von einer Geisel der Hamas, dem | |
| Hauptdarsteller in einem früheren Spielfilm des Regisseurs, ein Berlinale | |
| Special. |