| # taz.de -- Sexueller Kindesmissbrauch: „Die Folgen, wenn wir nicht handeln, … | |
| > Die unabhängige Bundesbeauftragte Kerstin Claus fordert mehr gesetzliche | |
| > Regelungen, um Kinder im Internet vor sexuellem Missbrauch zu schützen. | |
| Bild: Kerstin Claus: „Wir sind uns der immensen Folgen von sexueller Gewalt g… | |
| taz: Frau Claus, Sie nennen den digitalen Raum für Kinder und Jugendliche | |
| ein „explosives Risiko“? Wieso? | |
| Kerstin Claus: Weil das Risiko, im Netz sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu | |
| sein, für Kinder und Jugendliche noch nie so groß war. Alleine in | |
| Deutschland gibt ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen zwischen 8 und | |
| 17 Jahren an, bereits [1][Opfer von Cybergrooming geworden zu sein]. Täter | |
| haben im Netz potenziell 24/7 Zugriff auf Kinder und Jugendliche. | |
| taz: Wird genug dagegen getan? | |
| Claus: Definitiv Nein. Mit Blick auf sexuelle Gewalt gegen Kinder und | |
| Jugendliche im digitalen Raum stehen wir vor einem multiperspektivischen | |
| Versagen von Gesellschaft und Politik. Wir schützen junge Menschen viel zu | |
| wenig und lassen sie mit den Folgen viel zu sehr allein. Es braucht | |
| deutlich mehr Verpflichtungen für die Anbieter, mehr Anlaufstellen und | |
| Beratungsangebote, an die sich Eltern, Fachkräfte und Kinder und | |
| Jugendliche wenden können, und mehr Medienbildung und digitale Kompetenzen | |
| von Kindern und Jugendlichen, um die Gefahren richtig einschätzen zu | |
| können. | |
| taz: Was genau sind Gefahren im digitalen Raum? | |
| Claus: Besonders hoch ist das Risiko auf den vielen Online-Plattformen, die | |
| Chatfunktionen anbieten. Denn hierüber haben Pädokriminelle direkten | |
| Zugriff auf Kinder und Jugendliche. Diese Chatfunktionen sind vollkommen | |
| ungeschützte Räume. Kinder und Jugendliche sind dort konfrontiert mit | |
| Millionen anderer User, die systematisch auf das Kind zugreifen können. Das | |
| ist ideal für Täter und Täterinnen mit sexuellen Absichten, weil sie sich | |
| als Personen ausgeben können, die sie gar nicht sind. | |
| taz: Wie muss man sich das vorstellen? | |
| Claus: Täter können im Netz einen netten, witzigen Kontakt aufbauen, so | |
| etwas wie eine digitale Freundschaft entwickeln und das Kind dann in Fragen | |
| zu seiner Person verwickeln: „Hey, wie siehst du denn wirklich aus?“ oder | |
| „Lass uns auf einen privaten Kanal wie WhatsApp wechseln!“. Da junge | |
| Menschen daran gewöhnt sind, digitale Freundschaften zu schließen, | |
| geschieht das schnell. Das birgt viele Risiken. Kinder und Jugendliche | |
| können zum Beispiel mit Nacktbildern, die sie verschickt haben, erpresst | |
| werden, sogenannte Sextortion. Sie können auch dazu gebracht werden, sich | |
| mit dem Täter zu einem „echten“ Treffen zu verabreden. | |
| taz: Viele Betroffene melden den Missbrauch nicht, beispielsweise aufgrund | |
| von Scham oder Abhängigkeit gegenüber dem Täter. Sie wollen mit einem neuen | |
| Forschungszentrum Licht ins Dunkel bringen. Was haben Sie vor? | |
| Claus: Ich bin seit Jahren frustriert, [2][dass wir immer nur das Hellfeld | |
| abbilden] können, also die angezeigten Fälle. Das Dunkelfeld ist aber | |
| ungleich höher. Deswegen haben wir ein Forschungszentrum initiiert, das | |
| durch kontinuierliche Befragungen von Jugendlichen die aktuelle Realität | |
| von sexueller Gewalt gegen junge Menschen besser abbilden soll. Nächstes | |
| Jahr beginnt die erste Befragungswelle. Hierfür gehen wir in jedem | |
| Bundesland in die 9. Klassen und befragen dort junge Menschen nach den | |
| Gewalterfahrungen, die sie gemacht haben. Wir fokussieren nicht allein auf | |
| sexualisierte Gewalt, sondern erfragen alle Gewaltformen in der analogen | |
| Welt und auch im digitalen Raum. Die Zahlen liegen voraussichtlich Ende | |
| 2027 vor. | |
| taz: Was erwarten Sie? | |
| Claus: Ich gehe davon aus, dass ein Großteil der Jugendlichen digitale | |
| sexuelle Gewalt erlebt. Gleichzeitig nimmt die sexuelle Gewalt gerade im | |
| sozialen Nahbereich nicht ab. Sie ist und bleibt ein Grundrisiko des | |
| Aufwachsens. Ich bin sicher, die neuen Zahlen werden die Politik deutlich | |
| stärker unter Druck setzen, evidenzbasiert zu handeln und die nötigen | |
| Ressourcen für eine bessere Prävention und Begleitung von Betroffenen zur | |
| Verfügung zu stellen. Zahlen sind ein scharfes politisches Schwert. | |
| taz: Zahlen sind nicht immer ein scharfes Schwert. Fast [3][jeden Tag wird | |
| eine Frau oder ein Mädchen getötet] und es wird noch sehr wenig dagegen | |
| getan. Wieso glauben Sie, dass ihre Untersuchung wirklich Veränderung | |
| anstoßen wird? | |
| Claus: Seit über 10 Jahren wird kritisiert, dass es in Deutschland keine | |
| wissenschaftlich verlässlichen Zahlen zum Ausmaß sexueller Gewalt an | |
| Kindern und Jugendlichen gibt. Diese brisante Wissenslücke schließen wir | |
| jetzt. Weil Zahlen sichtbar machen, was vorher vielleicht nur vermutet und | |
| befürchtet wurde. Damit kann sich Politik nicht mehr wegducken. Außerdem | |
| werden wir die Befragung regelmäßig wiederholen, denn gerade im Digitalen | |
| verändern sich Phänomene und damit Risiken so unglaublich schnell. Neue | |
| Risiken werden so schneller erkannt und Politik kann zielgerichtet handeln. | |
| Auch Hilfe- und Beratungsangebote können so auf aktuelle Herausforderungen | |
| gezielt reagieren. Die Folgen, wenn wir nicht handeln, wären deutlich | |
| teurer. | |
| taz: Welche Reformen wären ihrer Meinung nach die wichtigsten? | |
| Claus: Kinder- und Jugendschutz muss Priorität haben vor den | |
| wirtschaftlichen Interessen von Plattformbetreibern. Es ist ein | |
| Trugschluss, dass immer wieder davon ausgegangen wird, Medienpolitik allein | |
| könne das Problem lösen. Kein Kind und übrigens auch kein Jugendlicher kann | |
| sich heute im Netz angemessen schützen, das muss uns klar sein. Deswegen | |
| brauchen wir eine wirksame Regulierung der Plattformbetreiber auf | |
| europäischer Ebene. Wir brauchen technologische Lösungen ebenso wie sichere | |
| Räume für junge Menschen im Netz. Die Möglichkeiten, hohe Strafzahlungen | |
| gegen Plattformbetreiber auszusprechen, müssen seitens der EU auch | |
| konsequent umgesetzt werden, um digitalen Kinder- und Jugendschutz | |
| durchzusetzen. Ich glaube auch, dass es fehlende politische Strukturen | |
| sind, weswegen diese Priorisierung bisher nicht gelungen ist. Datenschutz | |
| und auch Netzpolitik sind hier europäisch viel besser aufgestellt. Mit | |
| meinem Amt aber bin ich europäisch allein auf weiter Flur. Das muss sich | |
| ändern, damit wir die Rechte von Kindern künftig anders verhandeln, | |
| politisch aber auch gesellschaftlich. | |
| taz: Eine mögliche Grundlage dafür wären Kinderrechte im Grundgesetz. Was | |
| würde das verändern? | |
| Claus: Kinderrechte beinhalten nicht nur das Recht, geschützt zu werden. | |
| Sie beinhalten auch ein Recht auf Gestaltung der eigenen Lebenswelt, auf | |
| demokratische Partizipation. Schauen Sie sich die Rentendebatte an, wie | |
| viel gerade zulasten der jungen Generation debattiert wird. Gäbe es die | |
| Kinderrechte im Grundgesetz, wäre das ein wenig wie beim Klimaschutz, der | |
| verfassungsrechtlich verankert ist und deswegen bei allen politischen | |
| Entscheidungen mitbedacht werden muss. Kinderrechte im Grundgesetz würden | |
| die Sichtbarkeit der Belange von Kindern und ihre Mitsprache massiv | |
| stärken. Das stärkt dann auch die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Im | |
| Kinderschutz. | |
| taz: Wieso ist es wichtig, gerade jetzt solche Reformen anzugehen? | |
| Claus: Wir sind uns der immensen Folgen von sexueller Gewalt gegen Kinder | |
| und Jugendliche – und auch der gesellschaftlichen Kosten, die das bedeutet | |
| – überhaupt nicht bewusst. Es steht außer Frage, dass die Politik jetzt | |
| handeln muss. Es braucht gesetzliche Regelungen, gerade für die digitale | |
| Welt. Die Anbieter müssen unter Druck gesetzt werden, die bestehenden | |
| gesetzlichen Verpflichtungen aus dem Digital Services Act umzusetzen. Sie | |
| sollten zudem in einen Wettbewerb der guten Ideen bezogen auf Kinder- und | |
| Jugendschutz eintreten. Außerdem braucht es die Vermittlung von | |
| Digitalkompetenzen für Kinder und Jugendliche von der Kita an, nicht | |
| bezogen auf technische Geräte, sondern im Umgang mit den Inhalten, auf die | |
| sie im Netz stoßen. Aber auch wir Älteren müssen dazulernen. Es braucht | |
| mehr Informations- und Fortbildungsangebote auch für Eltern und Fachkräfte, | |
| damit sie junge Menschen auch digital besser begleiten und schützen können. | |
| taz: Sie fordern, dass die Anbieter von Online-Diensten und Endgeräten mehr | |
| Verantwortung übernehmen. Wie soll das funktionieren? | |
| Claus: Ich möchte, dass Anbieter von Spielen und Endgeräten aufgefordert | |
| werden, auch eine Kinder- und Jugendschutzvariante ihrer Angebote auf den | |
| Markt zu bringen. Wir sollten in ein Wechselspiel gehen: Politik muss | |
| Regelungen vorgeben, was Kinder- und Jugendschutz leisten muss, und dann | |
| ist es Aufgabe der Anbieter, über konkrete Maßnahmen sicherzustellen, dass | |
| zum Beispiel künftig verhindert wird, dass Telefonnummern auf | |
| Online-Plattformen im Chat ausgetauscht werden können. Es gibt viele gute | |
| Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche im Netz besser zu schützen, sie | |
| müssen nur durchgesetzt werden, auch gegen massive wirtschaftliche | |
| Interessen. | |
| 25 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.medienanstalt-nrw.de/themen/cybergrooming/ein-viertel-aller-kin… | |
| [2] https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilde… | |
| [3] /taz-Recherche-zu-Gewalt-gegen-Frauen/!6048065 | |
| ## AUTOREN | |
| Marc Tawadrous | |
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