| # taz.de -- Die Wahrheit: Der Tag des Dromedars | |
| > Kurt und die Wahrheit: Eine weitere Moritat aus dem Leben des | |
| > Rebellischen mit den Plastikgaloschen. Spoiler: Alles wird gut. | |
| Bild: „Kurt sah nur ein Dromedar, das ihn anstarrte. Gott sei Dank!“ | |
| Der Tag nahm schon am frühen Morgen seinen unheildräuenden Anfang, als Kurt | |
| kein Paar passender Socken finden konnte. „Na prima!“, zischte er zynisch | |
| und schlüpfte sockenlos in seine Plastikgaloschen mit erhöhten Absätzen. | |
| Das war nicht angenehm, aber es sollte noch schlimmer kommen. | |
| Als er in sein Auto steigen wollte, bemerkte er schreckerfüllt, dass er gar | |
| kein Auto besaß, er hatte noch nicht einmal einen Führerschein. So ein | |
| Schlamassel! Sein Briefkastenschlüssel war auch verschwunden, jetzt würde | |
| er nie erfahren, ob die berückende Muliana Yaporizhzhya (26, 59 kg) aus dem | |
| Anzeigenblatt ihm auf sein Liebeswerben geantwortet hatte. Sogar einen | |
| Blumenstrauß hatte er an die Anzeigenredaktion geschickt, „mit der | |
| freundlichen Bitte um Weiterleitung an Muliana Yaporizhzhya (26, 59 kg)“. | |
| Keine Reaktion. Der Strauß wurde ihm nicht mal retour gesendet. Das war’s | |
| dann wohl mit der geplanten Großfamilie. Kurt stöhnte auf. Jetzt fiel ihm | |
| auch noch ein, dass er kurz vor einer Mathematikprüfung stand (Thema: | |
| Mengenlehre) und noch nicht dafür gelernt hatte. | |
| Außerdem hätte er wahrscheinlich schon längst zum Wurzelziehen beim | |
| Zahnarzt sein müssen. Hektisch blickte er auf seine Uhr, doch der kleine | |
| goldene Zeiger fiel direkt vor seinen Augen ab und purzelte in den Gully, | |
| über dem Kurt grad stand. Kurt verschwendete keinen Gedanken auf die Idee, | |
| dem Zeiger in die Abgründe der Kanalisation hinterherzusteigen. Stattdessen | |
| rief er die Auskunft an und erkundigte sich nach der Uhrzeit. Es war schon | |
| genau zehn Uhr einunddreißig. Verdammt! Um zehn Uhr siebzehn hätte er | |
| seinen Agenten anrufen sollen, um weitere Anweisungen zu erhalten. Also war | |
| er auf sich allein gestellt! | |
| ## Dem Killer im Mau-Mau unterlegen | |
| Aus bedrohlich zusammengezogenen Augenschlitzen scannte er seine Umgebung. | |
| Alles im normalen Bereich. Jetzt taten ihm die Füße weh. Er hätte doch noch | |
| länger nach Socken suchen sollen, schoss es ihm durch den Kopf. Doch eine | |
| verpasste Chance war und blieb für immer eine verpasste Chance. So wie | |
| damals in Ottmarsbocholt, als er dem Killer von Castrop-Rauxel im Mau-Mau | |
| unterlegen war! Hätte er in Ottmarsbocholt doch nur den Pikbuben statt des | |
| Karoasses gezückt – aber, was vorbei war, war vorbei … | |
| Eine schwarze Katze huschte vorüber. Kurt wollte schon seinen Revolver | |
| ziehen, aber den hatte er letzte Woche irgendwo verloren. Wahrscheinlich im | |
| provisorischen Spielsalon von Don Horst. Don Horst! Der mobile und flexibel | |
| einsetzbare Pate von Unkel! Der mit dem Furunkel. Sein Fernsehwerbespruch | |
| war: „Wir machen Mafia auch für den kleinsten Geldbeutel finanzierbar! | |
| Immer und überall! Gern auch bei Ihnen zu Hause!“ | |
| Doch dieses Wissen half Kurt jetzt auch nicht weiter. Er beschloss, | |
| irgendwo einen Drink zu nehmen, am besten einen „Ugly Spider“ mit Schnaps. | |
| Dann der Schock: Seine Stammkneipe, der Schluckspecht, öffnete erst um | |
| siebzehn Uhr. Auch fiel ihm siedend heiß ein, dass er gar keinen Alkohol | |
| trank. Was jetzt? Vor Schreck bekam er Pusteln am ganzen Körper. | |
| Bis in seine Grundfeste erschüttert, ließ Kurt sich im Rinnstein nieder und | |
| sann über diesen beknackten Tag nach. Doch dafür blieb ihm nicht lange | |
| Zeit, denn nun begann sein Rücken zu jucken. Er konnte sich verrenken, wie | |
| er nur wollte, er kam mit den Händen einfach nicht an die juckende Stelle. | |
| Mit den Füßen auch nicht. Kurz überlegte er, einen Fremden zu bitten, ihn | |
| zu kratzen, aber es kreuzte kein Fremder die Straße. Bekannte oder Freunde | |
| wollte er nicht fragen, da zum Ersten grad keine da waren und er zum | |
| Zweiten auch keine hatte. Nie gehabt. Schon seit dem Kindergarten nicht. | |
| Warum dem so war, hatte er noch nie begriffen. | |
| Es konnte ja wohl kaum daran liegen, dass er stets versucht hatte und noch | |
| heute hin und wieder versuchte, anderen Leuten an den Nägeln zu kauen, | |
| bevorzugt an den Zehennägeln. Menschen waren schon manchmal komisch, dachte | |
| er. Denn er selbst hätte gar kein Problem damit, andere an seinen Nägeln | |
| kauen zu lassen. Er war halt total unkompliziert. | |
| Die Turmglocke schlug zehn Uhr dreiundvierzig. Die Zeit raste mal wieder | |
| dahin, als wollte sie sich vor ihm in Sicherheit bringen. Langsam ging Kurt | |
| die Geduld aus. Was für eine Turmglocke überhaupt? Es gab hier weit und | |
| breit gar keinen Turm. Aber das war jetzt nicht Kurts größtes Problem. Er | |
| hatte plötzlich das unangenehme, aber unleugbare Gefühl, von einem Dachs | |
| angestarrt zu werden. Wie von der Tarantel gestochen blickte er um sich. | |
| Doch er sah nur ein Dromedar, das ihn anstarrte. Gott sei Dank! | |
| Plötzlich schrillte sein Telefon, sein Agent war dran: „Kurt, wo bleiben | |
| Sie denn? Es ist bereits fünf Uhr achtundsechzig, und wir warten noch immer | |
| verzweifelt auf Ihre Lieferung von 704 nach abgelaufenem Nasenspray | |
| süchtigen Opossums!!!“ Verdammt! Das waren also die Anweisungen gewesen … | |
| Jetzt wurde Kurt dermaßen rebellisch, wie er es noch niemals zuvor gewesen | |
| war. „Doofe Opossums, doofer Agent!“, rief er in die Sprechmuschel, doch | |
| der Agent hatte anscheinend schon aufgelegt. | |
| Dem hatte er es aber mal so richtig gezeigt. Kurt kicherte. Zufrieden mit | |
| sich selbst und mit seinem arbeitsintensiven Tagwerk, beschloss er, für | |
| heute Feierabend zu machen. Das Dromedar, das ihn noch immer anstarrte, | |
| nahm er einfach zu Fuß mit nach Hause. Kaum dort angekommen, fand das treue | |
| Tier im Badezimmer hinter der Wanne sechs Paar passender Socken. Und so | |
| wurde doch noch alles gut. | |
| 29 Sep 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Corinna Stegemann | |
| ## TAGS | |
| Satire | |
| Kurzgeschichte | |
| Komik | |
| Humor | |
| Männerbild | |
| Reden wir darüber | |
| Horror | |
| Halloween | |
| Mystery | |
| Horror | |
| Spielzeug | |
| Lärm | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Wahrheit: Der unheimliche Harfenmann | |
| Ein aufdringlicher Besucher verlangt nach Einlass. Seine düstere Seite | |
| gewinnt langsam die Oberhand. Und am Ende steht ein kalter Albtraum. | |
| Die Wahrheit: Schauriger Samhain | |
| Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte | |
| Leserschaft an einem Poem über ein gruseliges Halloween-Fest erfreuen. | |
| Die Wahrheit: Pechschwarz der Schatten | |
| Die Philippinen-Woche der Wahrheit: Die aufregende Jagd nach dem Phantom | |
| der Buchmesse, einer Gestalt mit Karopullunder und dreieckigem Kopf … | |
| Die Wahrheit: Henkers Werk und Teufels Beitrag | |
| Die wahre und nervenzehrende Schauergeschichte für neblige, feuchte und | |
| kühle Herbstabende mit Kettensäge und Nagelknipser. | |
| Die Wahrheit: Der allererste Legostein | |
| Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Originale“ (1): Von der gar hölzernen | |
| Geschichte eines dänischen Unikums. | |
| Die Wahrheit: Hämmer, schepper, brüll | |
| Kurt wird wach: Ein ganz normaler Morgen im Leben eines ganz normalen | |
| Menschen, der routiniert sein hartes Lärmtagwerk vollbringt. |