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# taz.de -- Journalistin über Schweigen zu Gaza: „Deutschland, warum bist du…
> Die Journalistin Alena Jabarine hielt auf dem Hamburger Filmfest eine
> Rede über das deutsche Schweigen zu Gaza. Wir dokumentieren sie.
Bild: Von diesem Auftritt gibt es kein offizielles Foto: Fatih Akin (rechts) ü…
Fatih hat mich gebeten, ein paar Worte zu sprechen, bevor der Film beginnt.
Danke, Fatih, für deine Menschlichkeit und deinen Mut.
Und ich frage mich, warum es Mut erfordern muss? Warum fällt es mir schwer
– als Palästinenserin, als Deutsche, als Hamburgerin – in meiner
Heimatstadt, in einem Kino, in dem ich viele Stunden meiner Jugend
verbracht habe, die richtigen Worte zu finden? Zu einem Thema, das uns alle
etwas angeht. Auch hier, auch heute. Auch jetzt.
Warum widerstrebt es mir, das Naheliegende auszusprechen, so einen
feierlichen Rahmen zu stören, Ihre Zeit zu stehlen, mit unangenehmen
Informationen, mit der Tatsache, dass es weltweit nirgendwo so viele Kinder
gibt, die Arme und Beine verloren haben, wie in Gaza. Dass Kindern
Gliedmaßen mit Küchenmessern amputiert werden, während Trucks mit
Narkosemitteln vor Grenzen warten, die geschlossen sind, weil Menschen das
so entschieden haben.
Dass hunderttausende Kinder jetzt schon im dritten Jahr nicht mehr zur
Schule gehen. Dass Gaza zu einem Friedhof der Kinder geworden ist, ihrer
Mütter und Väter. Einem Friedhof der Journalisten, der Ärzte. Gestern
verkündete Ärzte ohne Grenzen, sie seien gezwungen, ihre lebenswichtigen
medizinischen Aktivitäten in Gaza-Stadt einzustellen.
Kontaminierte Erde, in die Luft gesprengte Universitäten, Essenspakete aus
der Luft, die Kinder erschlagen. 10.000 Tote, 50.000, 250.000 Tote – was
macht es denn hier überhaupt für einen Unterschied? Gelingt es uns doch
nicht einmal, Palästinenser als Menschen zu sehen. Warum, frage ich mich,
gelingt es uns nicht?
Hannah Arendt spricht von einem Gefühl eines leeren Raumes, der sich um
einen bildet im Schock, nicht darüber, was ihre Feinde, sondern darüber,
was ihre Freunde taten – oder NICHT taten –, als Unrecht sich ausbreitete.
Es gibt noch immer leere Räume in Deutschland. Es sind neue leere Räume
dazu gekommen. Ich weiß nicht, ob dieser Raum hier voll oder leer ist.
Du ertrinkst in einem Pool, während am Beckenrand deine Nachbarinnen,
Kollegen, die Lieblings-Promis stehen. Vielleicht bekunden sie Mitleid.
Vielleicht debattieren sie, wie man das wohl nennen mag, was sich da gerade
vor ihren Augen abspielt, welche Begriffe denn jetzt, an diesem Zeitpunkt,
angebracht wären, und welche doch umstritten? Für welche Begriffe es noch
zu früh sei, denn noch seist du ja nicht ertrunken, noch atmest du,
schnappst nach Luft. Doch keiner streckt die Hand aus, um dich zu retten.
Im Gegenteil.
Erst am Freitag bezog sich Benjamin Netanyahu während seiner Rede vor den
UN, für die er eine ungewöhnliche Route fliegen musste, um einer Verhaftung
auf europäischem Boden zu entgehen, auf Worte unseres Bundeskanzlers. Zitat
Netanyahu: „Der deutsche Bundeskanzler Merz gab die Wahrheit zu. Er sagte:
[1][Israel macht die Drecksarbeit für uns alle].“
Wir schauen uns Filme aus der Vergangenheit an, als wäre es ein
abgeschlossener Prozess. Der Vorhang wird sich schließen, wir werden nach
Hause gehen, vielleicht berührt, vielleicht entsetzt. Die meisten von uns
werden sich während dieses Films heute vermutlich mit der widerständigen
Tessa identifizieren. Nie, auf keinen Fall, wären wir jemals eine
Mitläuferin, eine Regime-treue Hille. Doch wissen wir das sicher?
Geschichte ist nie vorbei. Sie ist Teil unserer Gegenwart, ein Teil von
uns, wir sind die Fortsetzung dieser Geschichten. Wir sind die
Protagonisten der Filme, die unsere Kinder und Enkelkinder in den kommenden
Jahrzehnten in Kinosälen schauen und sich fragen werden: Was hätte ich
getan?
Als ein Völkermord stattfand – und Deutschland noch immer weiter Waffen
lieferte? Und Sanktionen boykottierte? Als Deutschland sich weigerte,
verletzte Kinder aufzunehmen, während Kommunen und Ärzte ihre Hilfe
anboten? Denn ihre Begleitpersonen könnten ja gefährlich sein, hieß es aus
deutschen Behörden.
Und wir? Schweigen.
Warum haben wir in Deutschland mehr Angst vor einer Abmahnung, vor einem
diffamierenden Artikel, vor der Absage einer Filmproduktion, als vor
unserem eigenen Gesicht im Spiegel? Warum haben wir mehr Angst vor einem
Skandal auf dem Filmfest, vor Fragen von Geldgebern, als vor den Fragen
zukünftiger Generationen?
Am Montag legten die italienischen Basis-Gewerkschaften als Protest gegen
den Genozid einen Großteil des öffentlichen Lebens lahm: Schulen, Häfen,
Logistik, öffentliche Dienste. Italien stand still.
Am Dienstag formalisierte [2][Spanien ein komplettes Waffenembargo gegen
Israel]. Ministerpräsident Pedro Sánchez erklärte, Spanien werde „auf der
richtigen Seite der Geschichte stehen“.
Am Donnerstag erklärte Sloweniens Präsidentin [3][Nataša Pirc Musar] auf
der 80. Generalversammlung der Vereinten Nationen: „Wir haben den Holocaust
nicht gestoppt. Wir haben den Völkermord in Ruanda nicht gestoppt. Wir
haben den Völkermord in Srebrenica nicht gestoppt. Jetzt haben wir keine
Entschuldigungen mehr; wir müssen den Völkermord in Gaza stoppen.“
Deutschland, warum bist du so leise?
Und warum sind nur so Wenige es nicht?
[4][Die 18-jährige Judith Scheytt] befindet sich in diesem Moment, während
wir hier uns auf einen Film freuen, auf dem Segelboot Paola 1 südlich von
Kreta auf dem Weg nach Gaza. Sie erträgt das Summen israelischer Drohnen
über ihrem Kopf, weil sie nicht mehr bereit ist, nichts zu tun, die
vermeintliche Handlungsunfähigkeit zu akzeptieren, die sie spürte, als sie
in ihrem Kinderzimmer jeden Tag die Bilder gleichaltriger Mädchen sah, die
verstaubt und leblos aus Trümmern gezogen wurden. So nahm sie, eine junge
Frau aus einem Dorf bei Stuttgart, nur wenige Wochen nach ihrer letzten
Abiturprüfung, den Zug nach Catania und bestieg dort ein Boot, beladen mit
Babynahrung.
Es sind Menschen wie Judith Scheytt, und die Crews der 41 weiteren Boote,
die jetzt ihr Leben riskieren. Es sind Menschen wie Judith Scheytt, an die
man sich erinnern wird. Sie ist die Protagonistin zukünftiger Filme. Weil
Judith verstanden hat, dass es eigentlich immer nur um eine Frage geht: Was
tun wir, wenn Menschen gedemütigt, entrechtet und vernichtet werden, egal
wo, egal wann, egal auf welche Weise?
Wer bin ich, wer bist du in Zeiten von Unrecht?
29 Sep 2025
## LINKS
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[2] /Spanien-verhaengt-Waffen-Embargo-gegen-Israel/!6115643
[3] /Sanktionen-gegen-israelische-Politiker/!6101391
[4] /Aktivistin-und-Nahost/!6111865
## AUTOREN
Alena Jabarine
## TAGS
Hamburg
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Palästinenser
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