| # taz.de -- Gedanken zu Rosch Haschana: Den Moment des Neuanfangs ernst nehmen | |
| > Ist es gleich, ob man lebt oder stirbt? Die Weltlage kann einen zu | |
| > solchen Gefühlen treiben. Und doch siegt am Ende der Gedanke der | |
| > Verantwortung. | |
| Bild: Parkszene in Berlin im Frühherbst: Wir können die Momente ernst nehmen,… | |
| Draußen schien die Sonne. Ungewöhnlich für diese Zeit im September. Diese | |
| Tage waren in den vergangenen Jahren grau, regnerisch, melancholisch bis | |
| depressiv. Ich fühlte mich furchtbar dramatisch, während ich durch einen | |
| Park spazierte; eine Frau klapperte mit einem Schlüssel an einem Bauzaun, | |
| als wolle sie daraus ein Lied zimmern. Ein eigensinniger Klangteppich, der | |
| mich nicht losließ. | |
| Wochen vorher war ich beim Minigolf. Zwischen bunten Schlägern hörte ich | |
| eine Bemerkung: „Schade, dass es die NSDAP nicht mehr gibt.“ Auf Nachfrage | |
| hieß es, das sei nur ein Scherz – ein bitterer Kommentar über die Stärke | |
| der AfD. Hinterher wurde mir klar, dass mich nicht die Bemerkung selbst | |
| erschütterte, sondern dass ich nicht überrascht war, sie im Alltag zu | |
| hören. Dass ich solch ein Extrem für möglich halte. Das ist Normalisierung. | |
| Ein gesellschaftlicher Ton, in dem Zynismus, Politikverdrossenheit und | |
| rechte Sprache wie Nebel über Gesprächen liegen. | |
| Gerade fand Rosch Haschana statt. Das jüdische Neujahrsfest, das erst in | |
| meinem Erwachsenwerden eine Rolle spielte, da in meiner | |
| sowjetisch-jüdischen Familie alles Jüdische unsichtbar geworden war. | |
| Rosch Haschana bedeutet innehalten, neu anfangen, Verantwortung für das | |
| eigene Handeln übernehmen. Ein Fest des Aufbruchs. Und gerade das fühlt | |
| sich in diesen Tagen schwer an. Wie soll man an Neuanfänge denken, wenn die | |
| Gegenwart von Abgründen geprägt ist? | |
| Ich ertappe mich manchmal dabei, in einen Fatalismus abzurutschen. Nur für | |
| einen Moment, ein Flügelschlag. Ich denke dann: Es bringt ja alles nichts, | |
| ergeben wir uns dem Schicksal. Dann erinnere ich mich an meinen letzten | |
| Besuch in Russland, kurz bevor die Armee die Ukraine überfiel. Kaum jemand | |
| ließ sich damals mit dem Impfstoff Sputnik impfen, selbst Ärzte misstrauten | |
| der Medizin. Ihre Skepsis verstand ich. Doch ich spürte noch eine andere | |
| Haltung: eine greifbare Bedeutungslosigkeit. So, als ob es gleich sei, ob | |
| man lebt oder stirbt. | |
| ## Gnostischer Fatalismus | |
| Im Krieg gegen die Ukraine wurde diese Haltung pervertiert. Nikolai | |
| Karpizki, Wissenschaftler und Antikriegsaktivist, nannte das einmal einen | |
| [1][gnostischen Fatalismus.] Wer sich selbst als bedeutungslos empfindet, | |
| erhält plötzlich ein Angebot: Im Krieg kann er alles tun, und alle würden | |
| es wertschätzen. Aber um das zu erreichen, muss er bereit sein, [2][zu | |
| töten und zu sterben.] | |
| Wann immer mein eigenes Gefühl des Fatalismus aufkommt, denke ich daran. | |
| Welche Verantwortung ich als Mensch trage, mir selbst gegenüber, aber auch | |
| meinen Mitmenschen. Und wie sehr ich hoffe, dass die Gesellschaft erkennt, | |
| was es zu verlieren gibt. Dass wir sehen, wofür es sich in einer Demokratie | |
| zu kämpfen lohnt. Und dass wir niemals in jene Haltung der | |
| Bedeutungslosigkeit abrutschen, die der eigentliche Untergang ist. | |
| In diesen Tagen erschüttern mich Nachrichten wie die Ausladung des | |
| jüdischen Publizisten [3][Michel Friedman] bei einer Veranstaltung aus | |
| Angst vor rechtsextremen Protesten. Es ist nicht nur die Gewalt selbst, | |
| sondern das Einknicken, das Schweigen, das zukunftslos wirkt – und zeigt, | |
| wie fragil unsere Gegenwart geworden ist. | |
| Vielleicht liegt hier die Aufgabe: inmitten von Unsicherheit und Dunkelheit | |
| Verantwortung zu übernehmen. Das Leben hat kein Happy End, nur Anfänge, | |
| Enden, Momente. Für die kleinen Geschichten unseres Lebens und das anderer | |
| Verantwortung zu übernehmen, wäre ein Anfang. Es macht einen Unterschied, | |
| ob wir Haltung zeigen, widersprechen, uns selbst ernst nehmen. Rosch | |
| Haschana war in diesem Jahr weniger ein Fest der Leichtigkeit als ein Fest | |
| der Verantwortung. Ein stiller Neuanfang. Einer, der sagt: Wir können die | |
| Dunkelheit nicht wegreden, aber wir können die Momente ernst nehmen, die | |
| uns gegeben sind. | |
| 28 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erica Zingher | |
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