| # taz.de -- Percival Everetts Roman „Dr. No“: Nichts ist mit Zeit verwandt | |
| > Percival Everetts „Dr. No“ ist ein echter Nerdroman. Philosophische | |
| > Gedanken und mathematische Exkurse fügen sich in einen Schurken-Plot ein. | |
| Bild: Autor, Englischprofessor und Pulitzer-Preisträger: Percival Everett | |
| Nichts ist der Running Gag dieses Romans. Auf so gut wie jeder Seite | |
| bekennt der Ich-Erzähler Wala Kitu, ordentlicher Professor für Mathematik | |
| an der Brown University, seine Leidenschaft für sein ungreifbares | |
| Forschungsgebiet: „Ich war ein Scharlatan. Ich hatte von nichts eine | |
| Ahnung“, „Ich studiere nichts“, „In Wirklichkeit treibt mich nichts st�… | |
| um“, et cetera. | |
| Gelegentlich werden auch komplette Witze erzählt: „Ein Mathematiker wird | |
| gefragt, ob er lieber eine Tasse kalten Kaffee haben oder Gott begegnen | |
| möchte. Er sagt, er möchte den kalten Kaffee.“ Denn: „Man hat ihm gesagt, | |
| dass nichts besser ist, als Gott zu begegnen, und dass kalter Kaffee besser | |
| als nichts ist.“ | |
| Im April erst wurde der US-Autor und Englischprofessor Percival Everett | |
| [1][für seinen Roman „James“, eine Neu-Erzählung von Mark Twains | |
| „Huckleberry Finn“ aus der Sicht des entlaufenden Sklaven Jim,] mit dem | |
| Pulitzer-Preis ausgezeichnet. | |
| Auch „Dr. No“, das nun drei Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA | |
| in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl erscheint, ist ein | |
| Konzeptroman mit einem Schwarzen Protagonisten – und doch ganz anders | |
| gelagert als Everetts perspektivisches Gegenstück zu Twains Schlüsselwerk | |
| der amerikanischen Literatur. Schon der Titel referiert (auch) auf James | |
| Bond. Doch mehr noch als eine Parodie auf die Agentenromane von Ian Fleming | |
| ist „Dr. No“ ein Nerdroman – und nerdigerweise ein Stück Metafiction, das | |
| permanent über Logik und Sprache nachdenkt. | |
| ## „Nichts“ auf Tagalog und Swahili | |
| Ein Thema des Buches ist beispielsweise die linguistische | |
| Basisunterscheidung von Bezeichnetem und Bezeichnendem, mit dem Everett so | |
| seine Scherze treibt. Der Ich-Erzähler heißt nämlich bürgerlich Ralph | |
| Townsend, sein mathematischer Künstlername setzt sich jedoch aus zwei | |
| Wörtern für nichts zusammen: „Wala ist Tagalog für nichts, allerdings bin | |
| ich kein Filipino. Kitu ist Swahili für nichts, allerdings stammen meine | |
| Eltern nicht aus Tansania.“ | |
| Auch Walas Kollegin, die Differenzialtopologin (bitte googeln Sie selbst) | |
| Eigen Vector, hat einen mathematisch sprechenden Namen, genau wie sein | |
| einbeiniger Hund Trigo, dessen Name womöglich auf das Dreieck seiner | |
| fehlenden Beine verweist. | |
| Mit dem hochintelligenten Trigo berät sich der Mathe-Prof in seinen | |
| Träumen; im Alltag hat Wala Schwierigkeiten, die Gesichter seiner | |
| Mitmenschen zu lesen, und verortet sich selbst als Asperger-Autist auf dem | |
| neurodiversen Spektrum. Später schenkt Wala Trigo einem Koch namens Leon | |
| Coltrane, nicht verwandt mit dem gleichnamigen Jazzmusiker, der das Tier | |
| umbenennt in Signifier. Nerdhumor! | |
| Bewegung kommt in die Konstellation, als der Schwarze Milliardär John | |
| Milton Bradley Sill mit Wala zusammenarbeiten will und ihm, gewissermaßen | |
| zur Überzeugung, gleich mal einen Drei-Millionen-Dollarscheck ausstellt. | |
| Sill ist Sohn einer Nachtclubbesitzerin aus Memphis, bekennender | |
| Bond-Schurke und will „Amerika wieder zu nichts machen“. Die Kraft der | |
| Negation! | |
| ## Der fette Clown – ein stabiles Arschloch | |
| Der Name des Präsidenten fällt an keiner Stelle, aber es ist einigermaßen | |
| unmissverständlich, wenn Sill ankündigt: „Dieser fette Clown wird endlich | |
| das Nichts sein, das er schon immer ist. Ich habe es gehasst, jahrelang in | |
| seinen orangenen Arsch kriechen zu müssen. Stabiles Genie? Stabiles | |
| Arschloch.“ | |
| Dazu plant er in der Goldreserve von Fort Knox, Kentucky, Herkunft auch des | |
| „Grüßaugusts“ von einem Vizepräsidenten, eine rätselhafte Schachtel zu | |
| stehlen, die angeblich nichts beinhaltet. Naheliegend, dafür einen | |
| entsprechenden Fachmann anzuheuern, dem auch sofort klar ist, wie | |
| gefährlich nichts sein kann. | |
| Wala ist zunächst nicht abgeneigt und folgt mit der ebenfalls engagierten | |
| Eigen Vector Sills Einladung nach Miami und Korsika. Zweifel kommen ihm zum | |
| einen, weil die nicht minder autistische Eigen ständig unter Drogen zu | |
| stehen scheint und er bemerkt, dass er mehr als kollegiale Freundschaft für | |
| sie empfindet. Zum anderen, als Sill die 90.000-Einwohner-Stadt Quincy in | |
| Massachussetts auf geheimnisvolle Weise verschwinden lässt, auch wenn das | |
| schwer nachweisbar ist, weil nichts sie zuvor dokumentiert hat. | |
| ## Nichts ist Nichts ist Nichts | |
| Hier kommen auch Laien der mathematischen Idee von nichts auf die Spur: | |
| Nichts ist mit Zeit verwandt, ist die Abwesenheit von Sprache: „Würden wir | |
| uns an alles erinnern, hätten wir keine Sprache für das Erinnern und | |
| Vergessen. Außerdem wäre nichts wichtig. Tatsächlich ist nichts wichtig. | |
| Die Wichtigkeit von nichts besteht darin, dass es der Maßstab dessen ist, | |
| was nicht nichts ist.“ | |
| Doch der Schurken-Plot ist für Everett vor allem das Gerüst eines wahren | |
| Feuerwerks philosophischer Gedanken und mathematischer Exkurse. | |
| Lässig werden außerdem nebenbei wichtige Gegenwartsthemen wie Identity | |
| Politics oder rassistische Polizeigewalt gestreift, etwa wenn Walas | |
| Student, „der das Semester als Vanessa begonnen hatte und inzwischen ein | |
| Mann namens Sam war“, behauptet: „Es gibt keinen Unterschied zwischen den | |
| Geschlechtern. Abgesehen davon, dass ich jetzt Sam bin, hat sich nichts | |
| geändert. Nichts bleibt gleich.“ | |
| ## Gruselig komische Dialoge | |
| Oder in einem gruselig komischen Dialog – Everetts ganz große Spezialität! | |
| – zwischen einem Polizisten, der den führerscheinlosen Wala im Auto anhält, | |
| und seinem Vorgesetzten, dem Wala beschattenden FBI-Agenten Bill Clinton: | |
| Obwohl Clinton den Polizisten immer wieder auffordert, Wala laufen zu | |
| lassen, wendet der Polizist zigmal ein: „Er ist Schwarz.“ Dass er keine | |
| Fahrerlaubnis hat, ist sekundär. | |
| Auf der Langstrecke von 319 Seiten ist allerdings selbst die dauerfunkelnde | |
| Brillanz von Percival Everetts Denksportolympiade ein wenig ermüdend. | |
| Jedenfalls für nicht ganz so nerdige Leserinnen, die sich gern auch mal | |
| faul identifizieren oder einen Plot entlangtragen lassen. Für Freunde | |
| abstrakter Kunst jedoch ist „Dr. No“ ein Fest der nicht abreißenden | |
| Anregungen und Pointen, die im Übrigen auf ein metaphysisches Ende | |
| zusteuern. Oder, in Abwandlung eines Ratschlags, den Wala seinem Studenten | |
| Sam erteilt: „Wenn Sie sich gerne den Kopf zerbrechen, lesen Sie’s!“ | |
| 20 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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